Zweiter NSU-Ausschuss in Bayern: Eine halbe Million Daten im LKA „versehentlich“ gelöscht

Das Maximilianeum, Sitz des Bayerischen Landtags. Bild: Bayerischer Landtag

Das Untersuchungsgremium des Landtags ist gleich am Anfang seiner Arbeit mit den hinlänglich bekannten Aufklärungshindernissen konfrontiert.

 

Es geht im NSU-Komplex nahtlos weiter, wie es aufgehört hat: Im Mai 2022 setzte der bayrische Landtag einen neuen Untersuchungsausschuss (UA) ein, den nun zweiten, um den offen gebliebenen Fragen und dem Handeln der Strafverfolgungsbehörden in dem Terrorkomplex, dem zehn Menschen zum Opfer fielen, nachzugehen.

Vier Wochen später, Mitte Juni 2022, erfährt man, dass im Landeskriminalamt in großem Umfang Daten gelöscht wurden, auch mit NSU-Bezug – „versehentlich“, wie es heißt. Konkret geht es um 565.000 Daten, darunter 29.000 Personendaten und darunter mindestens eine zentrale Person des Untersuchungsauftrages, sprich: aus dem früheren NSU-Umfeld. Dabei soll es sich um die Ehefrau eines Mannes mit NSU-Bezug handeln. Namen wurden nicht mitgeteilt. Die „Daten sind weg“, so der UA-Vorsitzende Toni Schuberl (Grüne) zu Beginn der jüngsten Sitzung. Das Ausmaß des Schadens sei noch nicht absehbar.

Der Ausschuss will insgesamt 169 Personen mit möglichem NSU-Bezug überprüfen. Bisher sei noch nicht klar, ob Unterlagen zu ihnen von den Löschungen betroffen seien.

Entdeckt wurde die Löschaktion laut LKA am 15. Juni 2022 im Zusammenhang mit Datenbank-Recherchen zu diesen Personen. Ereignet hatte sie sich, wieder laut LKA, bereits vor acht Monaten am 21. Oktober 2021. Ausgerechnet an diesem Tag behandelte der Innenausschuss des Landtags das Thema und einigte sich darauf, einen zweiten NSU-Untersuchungsausschuss einzusetzen. Der erste lief von Juli 2012 bis Juli 2013. Nach den tausend Zufällen im monströsen Mordkomplex nun also offensichtlich der 1001-te.

Wie kam es zu den Löschungen? Für Unterlagen mit NSU-Bezug gilt doch ein striktes, unbefristetes Löschmoratorium. Sie dürfen trotz allgemeiner datenschutzrechtlicher Löschfristen nicht vernichtet werden. Ursprünglich galt das Löschmoratorium bis zum April 2014. Dann wurde es aufgehoben, aber im November 2015 wieder in Kraft gesetzt. Nach Darstellung des Ausschussvorsitzenden Schuberl habe das bayrische Innenministerium im Oktober 2020 eine „heimliche Aufhebung des Löschmoratoriums“ geplant gehabt. Das habe aber verhindert werden können.

Offiziell wird die Löschung so erklärt: Ein „fehlerhaftes Skript“ sei in die Software eingespielt worden, wodurch die Daten gelöscht worden seien. Eine Erklärung, die allgemeiner und ungenauer fast nicht möglich ist. Der Chef des LKA, Polizeipräsident Harald Pickert, sprach gegenüber dem Ausschuss von einer „unbeabsichtigten Datenlöschung“, die er „zutiefst bedauere“ und „entschuldige“. Im Weiteren wiegelte Pickert aber ab: Nicht betroffen seien die Papierakten; alle Daten, die der Ausschuss brauche, seien erhalten oder rekonstruierbar.

 

Wie steht es mit dem Datenschutz, wenn gelöschte Daten wiederherstellbar sein sollen?

 

Das sind gefahrlose Erklärungen, weil sie nicht verifizierbar sind. Wenn man nicht weiß, welche Daten vernichtet wurden, kann man sie auch nicht hundertprozentig rekonstruieren, was Pickert auf Nachfrage auch einräumen musste. Da nützt es nichts, dass in einer Protokolldatei festgehalten wird, welche Daten gelöscht werden. Die Inhalte bleiben verloren. Hinzu kommt, dass man am Anfang einer Untersuchung noch gar nicht wissen kann, welche Unterlagen man im Verlauf der Arbeit letztlich benötigen wird. Und den Hinweis auf die Papierakten kann man getrost als Ablenkung bezeichnen, weil viele Daten von der Polizei direkt ins digitale System eingegeben und nicht erst auf Papier niedergeschrieben und dann übertragen werden.

Im Falle der erwähnten Frau mit NSU-Bezug seien alle Daten wiederherstellbar, erklärten der LKA-Chef sowie der Leiter der Abteilung 1 für Zentrale Aufgaben im LKA, Klaus Teufele. Selbst wenn, dann blieben „28.999 Personenfälle“, die unklar seien, so der Abgeordnete Schuberl. Die Beteuerung, alle Daten seien zu retten, führte eine Abgeordnete außerdem zu folgender Frage: Wenn Daten so einfach wiederherstellbar sind, die aufgrund gesetzlicher Vorgaben gelöscht wurden, wie sei das mit dem Datenschutz vereinbar? Oder umgekehrt gefragt: Wenn Datenschutz konsequent eingehalten wird, sind gelöschte Daten dann überhaupt rekonstruierbar?

Vielleicht kein Zufall, dass die weitere Frage, wie lange die allgemeine Rekonstruktion der Daten dauere, von den LKA-Verantwortlichen unbeantwortet blieb.

Der Vorgang erscheint jedenfalls wie eine unfreiwillige Demonstration, dass das LKA als Sicherheitsbehörde ein wesentlicher Player im NSU-Komplex ist.

Während die Abgeordneten von Grünen, FDP und SPD zu ähnlichen Bewertungen kommen und sich über den Vorgang „geschockt“ zeigen, wiegeln die Regierungsfraktionen CSU und Freie Wähler dagegen ab. Alle Daten könnten gesichert werden, es gebe keinen Skandal, die Erklärungen des LKA seien transparent, plausibel und nachvollziehbar.

 

Auffällig viele Zufälle

 

Der Grüne Ausschussvorsitzende stellte die aktuelle Löschungsaktion in Bayern in eine Reihe zahlreicher anderer Löschungen, Aktenbeseitigungen oder -verlusten im Laufe der NSU-Geschichte. So wurden im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) bereits im November 2011, kurz nach Auffliegen des NSU, die Namen der BfV-V-Leute in Thüringen, deren Decknamen allesamt mit „T“ beginnen (beispielsweise „Tarif“ für Michael See), gelöscht.

Im LKA Thüringen fehlten innerhalb des SMS-Verkehrs zwischen dem Brandenburger V-Mann Piatto und dem zentralen Blood and Honour-Aktivisten Jan Werner über Waffenbeschaffungen, auf einmal Dutzende von Nachrichten. Die Bundesanwaltschaft löschte Unterlagen zu eben diesem Jan Werner, obwohl zu ihm explizit ein Löschmoratorium bestand.

Zehn Original-Aktenordner über zwei Raubüberfälle in Stralsund gingen auf dem Weg von der BAW in Karlsruhe nach Wiesbaden zum BKA komplett verloren. Ermittlungsakten zum Neonazi Ralf Marschner, der in Personalunion zugleich V-Mann des BfV war, gingen laut Staatsanwaltschaft in Chemnitz durch „Hochwasser“ verloren. Dieselbe Staatsanwaltschaft hat außerdem Ermittlungsakten zum ersten Raubüberfall auf einen Edeka-Markt, der dem NSU-Trio zugeschrieben wird, vernichtet und später auch sämtliche Daten gelöscht – „aus Versehen“, wie es auch in diesem Fall heißt. In bayrischen Unterlagen zur Fränkischen Aktionsfront verschwand eine Person, die auch auf der Namenliste von Uwe Mundlos stand. All das seien „zu viele Zufälle“, so Schuberl.

Clemens Binninger (CDU) leitete den zweiten NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag, der geschlossen zu der Überzeugung kam, dass die insgesamt mindestens 28 Taten (zehn Morde, fünfzehn Raubüberfälle und drei Sprengstoffanschläge) von mehr als dem Duo Böhnhardt/Mundlos oder dem NSU-Trio verübt worden sein müssen. Dorothea Marx (SPD) stand zwei U-Ausschüssen in Thüringen vor, die bemerkenswerterweise letztlich an der rot-rot-grünen Landesregierung und deren Aufklärungsblockaden scheiterten. Beide gaben dem bayrischen Ausschuss einen Überblick über offene Fragen und ungeklärte Widersprüche.

Er wisse nicht wie es war, so Binninger, die Leitfrage sei für ihn aber, ob der NSU wirklich nur ein Trio war, was er nicht glaube, unter anderem, weil es an den Tatorten Unterstützer gegeben haben müsse. Bei den Aufklärungsbemühungen sollte man deshalb „kategorische Festlegungen“ vermeiden.

Entscheidende Figuren der Neonazi-Szene sowie des NSU-Umfeldes sind ausgerechnet drei V-Leute: Ralf Marschner, Tino Brandt und Kai Dalek. Am profiliertesten erscheint Dalek. Der beschlossene Untersuchungsauftrag des bayrischen Landtags wurde gegenüber dem ursprünglichen Antrag allerdings verschlankt: Unter anderen wurde der Fall Dalek rausgenommen. Warum? Er war schließlich ein zentraler Einflussagent der Sicherheitsbehörden in der rechtsextremen Szene. Oder gerade deshalb? Dorothea  Marx meinte, man müsse hinterfragen, warum Dalek angeblich Ende der 1990er Jahre aus seinem Einsatzgebiet abgezogen wurde. Das könnten dessen V-Mann-Führer beantworten. Dasselbe gilt für Ralf Marschner, den man, weil er im Ausland lebt, nicht zwingen kann, zur Befragung nach Deutschland zu kommen und dessen Befragung durch Abgeordnete in der Schweiz die Schweizer Behörden untersagt haben. Aber Marschners V-Mann-Führer kann man vor den Ausschuss zitieren.

 

Peggy K. und das Kopfhörerteil mit DNA von Uwe Böhnhardt

 

Noch ein weiterer Komplex steht ebenfalls nicht im Text des Untersuchungsauftrags: Der des 2001 ermordeten neunjährigen Mädchens Peggy K. aus dem bayrischen Lichtenberg. Im Bundestagsausschuss war der Fall aber Thema, nachdem 2016 die sterblichen Überreste des Kindes in der bayrisch-thüringischen Grenzregion gefunden worden waren und sich eine bizarre Verbindung zum NSU ergab: der Fund einer ungeklärten DNA-Spur von Uwe Böhnhardt. Das brachte Clemens Binninger nun im Ausschuss in München zur Sprache.

Bei der Spurensicherung am Fundort des Kindes wurde ein halbfingernagelgroßes Teilchen eines Kopfhörers gesichert, an dem sich DNA von Böhnhardt befand. Der entsprechende Kopfhörer lag im ausgebrannte Wohnmobil in Eisenach, wo am 4. November 2011 auch die Leichen von Mundlos und Böhnhardt entdeckt wurden.

Anschmelzungen am Kopfhörerteilchen sowie Fotos des Kopfhörers belegen, dass sie im Fahrzeug waren. Damit ist Böhnhardt als Überbringer des Asservats an den Fundort von Peggy ausgeschlossen.

Wie ein fast fünf Jahres altes Asservat von Eisenach nach Rodacherbrunn übertragen werden konnte, ist das große Rätsel, das die Behörden bisher nicht beantworten können. Soll das Teilchen tatsächlich vier Jahre und acht Monate an einem Instrument der Kriminalpolizei gehaftet haben und dann abgefallen sein? Ist das wirklich Zufall? Warum nicht schon vorher bei anderen Spurensicherungen?

Auch der Ausschussvorsitzende Schuberl fand den Vorgang „sehr seltsam“.

Wenn man Zufall ausschließt, bliebe nur, dass das Teilchen absichtlich bei den Knochenfunden plaziert worden wäre. Binninger: „Hatte das jemand dabei und hat es hingelegt?“ Doch mit welcher Motivation? Dafür fehlt dem Ex-Politiker wiederum die Logik. Allerdings berichtete er von zwei irritierenden Fotos der Ermittlungsbehörden, die dem U-Ausschuss des Bundestags 2017 vorgelegt worden waren. Beim ersten lag das fragliche Kopfhörerteilchen mit Böhnhardts DNA außerhalb eines aufgeklappten Zollstocks, den die Spurensicherer zum Größenvergleich hingelegt hatten. Beim zweiten Foto lag das fragliche Teilchen innerhalb der Zollstockfläche. Die Angabe „7 Asservate“ wurde durchgestrichen und handschriftlich in „8 Asservate“ umgeändert. Wer das wann und warum getan hat, ist bisher unklar.

 

Bei der Bundesanwaltschaft laufen offiziell nach wie vor Ermittlungen zur NSU-Mordserie. Neben einem allgemeinen Verfahren gegen „Unbekannt“ gibt es neun Verfahren gegen neun namentliche Beschuldigte. Über den konkreten Stand dieser Ermittlungen erfährt die Öffentlichkeit seit Jahren nichts. Der ehemalige NSU-Aufklärer Binninger gab zu bedenken, dass irgendwann „Verjährungsfrist“ drohe.

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2 Kommentare

  1. „Ein „fehlerhaftes Skript“ sei in die Software eingespielt worden, wodurch die Daten gelöscht worden seien.“
    Fehlerhaft? Es scheint doch ganz wunderbar funktioniert zu haben?

    Staaten und Regierungen sind Verbrecher Organisationen… manchmal, wie bei Baerbock & Co, reicht es mangels Intelligenz nicht bis zum Verbrecher, aber in der bayrischen Staatsregierung hat man spätestens seit Franz Joseph Strauss ein Auge auf die Qualifikation jedes zur Beförderung Anstehenden. Das Minimum an Intelligenz, das für 100%ige Staatstreue nötig ist, ist also bei jedem dieses Packs vorhanden.
    Für andere Gebiete reicht es zwar nicht, aber das ist auch gar nicht nötig, denn der Normal-Bayer steht seinem Normal Politiker, was die Blödheit angeht, in nichts nach. Das hat für beide Seite Vorteile. Die Politiker können problemlos alles tun was ihrer guten Sache dient, und der dumm-doof christlich-soziale Spiessbürger muss sich nie mit den Konsequnezen der eigenen Blödheit konfrontiert sehen. War ja alles nur ein Versehen und kann trotz Datenschutz wieder hergestellt werden.. 🙂

    Wem nach 16 Jahren Merkel, und der anschliessenden Erfahrung, dass es sogar noch schlimmer als Merkel kommen kann, immer noch nicht merkt, dass es aus diesem System keinen Ausweg geben wird, dem ist nicht mehr zu helfen.
    Als Zyniker kann man der Aussicht auf eine Ausweitung des Krieges daher sogar Positives abgewinnen.

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