Wollen die Russen Deutschland oder den Mond erobern?

Frankfurt Rosa-Luxemburg-Straße
Frankfurt Rosa-Luxemburg-Straße. Bild: x-angel/CC BY-SA-4.0

Rosa Luxemburg schrieb vor 110 Jahren über die grotesken Erzeugnisse der Russenangst in staatstragenden Zeitungen der SPD.

Vorbemerkung (Peter Bürger): Der nachfolgende Textauszug ist der Schrift „Die Krise der Sozialdemokratie“ entnommen, die Rosa Luxemburg im Jahr 1916 unter dem Pseudonym „Junius“ vorgelegt hat. Die SPD hatte auch mit ihren Medien der deutschen Volkseinigkeit im Kaiserreich zugearbeitet – statt durch Internationalismus und die Strategie des Massenstreiks hundertausende Arbeiter vor dem Tod im Kriegsgetriebe der Herrschenden zu bewahren. Auf allen Kanälen wurde 1914 die Angst verbreitet, der Russe könne schon bald vor der Haustür stehen. Rosa Luxemburg, als „Staatsfeindin Nr. 1“ betrachtet und ins Gefängnis weggesperrt, meinte hingegen, die russischen Annexionsgelüste könnten sich mit gleicher Wahrscheinlichkeit ebenso gut auf den Mond erstrecken.

Von vernünftigen Betrachtungen hielt man damals aber nicht viel, so wie heute die militärfreundliche Klatschpresse auch wieder höher in Kurs steht als rationale Analyse. Morgen kommt „Sauron“, oder übermorgen, spätestens jedoch in vier Jahren, um ganz Europa zu knechten …


In der Pogromstimmung, die sich in den ersten Kriegswochen [1914] der deutschen Öffentlichkeit bemächtigt hatte, glaubte man alles. Man glaubte, dass belgische Frauen deutschen Verwundeten die Augen ausstechen, dass die Kosaken Stearinkerzen fressen und Säuglinge an den Beinchen packen und in Stücke reißen, man glaubt auch, dass die russischen Kriegsziele darauf ausgehen, das Deutsche Reich zu annektieren, die deutsche Kultur zu vernichten und von der Warthe bis zum Rhein, von Kiel bis München den Absolutismus einzuführen.

Die sozialdemokratische Chemnitzer Volksstimme schrieb am 2. August [1914]:

„In diesem Augenblick empfinden wir alle die Pflicht, vor allem anderen gegen die russische Knutenherrschaft zu kämpfen. Deutschlands Frauen und Kinder sollen nicht das Opfer russischer Bestialitäten werden, das deutsche Land nicht die Beute der Kosaken. Denn wenn der Dreiverband siegt, wird nicht ein englischer Gouverneur oder ein französischer Republikaner, sondern der Russenzar über Deutschland herrschen. Deshalb verteidigen wir in diesem Augenblick alles, was es an deutscher Kultur und deutscher Freiheit gibt, gegen einen schonungslosen und barbarischen Feind.“

Die Fränkische Tagespost rief am gleichen Tage:

Wir wollen nicht, dass die Kosaken, die alle Grenzorte schon besetzt haben, in unser Land hineinrasen und in unsere Städte Verderben tragen. Wir wollen nicht, dass der russische Zar, an dessen Friedensliebe selbst am Tage des Erlasses seines Friedensmanifestes die Sozialdemokratie nicht geglaubt hat, der der ärgste Feind des russischen Volkes ist, gebiete über einen, der deutschen Stammes ist.“

Und die Königsberger Volkszeitung vom 3. August schrieb:

„Aber keiner von uns, ob er militärpflichtig ist oder nicht, kann auch nur einen Moment daran zweifeln, dass er, solange der Krieg geführt wird, alles tun muss, um jenes nichtswürdige Zarat von unseren Grenzen fernzuhalten, das, wenn es siegt, Tausende unserer Genossen in die grauenvollen Kerker Russlands verbannen würde. Unter russischem Zepter gibt es keine Spur von Selbstbestimmungsrecht des Volkes; keine sozialdemokratische Presse ist dort erlaubt; sozialdemokratische Vereine und Versammlungen sind verboten. Und deshalb kommt keinem von uns der Gedanke, es in dieser Stunde darauf ankommen zu lassen, ob Russland siegt oder nicht, sondern wir alle wollen bei Aufrechterhaltung unserer Gegnerschaft gegen den Krieg zusammenwirken, um uns selbst vor den Gräueln jener Schandbuben zu bewahren, die Russland beherrschen.“

Auf das Verhältnis der deutschen Kultur zum russischen Zarismus, das ein Kapitel für sich in der Haltung der deutschen Sozialdemokratie in diesem Kriege darstellt, werden wir noch näher eingehen. Was jedoch die Annexionsgelüste des Zaren gegenüber dem Deutschen Reich betrifft, so könnte man ebenso gut annehmen, Russland beabsichtige Europa oder auch den Mond zu annektieren. In dem heutigen Kriege handelt es sich überhaupt um die Existenz nur für zwei Staaten: Belgien und Serbien. Gegen beide wurden die deutschen Kanonen gerichtet unter dem Geschrei, es handle sich um die Existenz Deutschlands.

Mit Ritualmordgläubigen ist bekanntlich jede Diskussion ausgeschlossen. Für Leute jedoch, die nicht die Pöbelinstinkte und die auf den Pöbel berechneten grobkalibrigen Schlagworte der nationalistischen Hetzpresse, sondern politische Gesichtspunkte zu Rate ziehen, muss es klar sein, dass der russische Zarismus so gut das Ziel der Annexion Deutschlands verfolgen konnte wie die des Mondes. An der Spitze der russischen Politik stehen abgefeimte Schurken, aber keine Irrsinnigen, und die Politik des Absolutismus hat bei aller Eigenart das mit jeder anderen gemein, dass sie sich nicht in der blauen Luft, sondern in der Welt der realen Möglichkeiten bewegt, wo sich die Dinge hart im Raume stoßen.

Was also die befürchtete Verhaftung und lebenslängliche Verbannung der deutschen Genossen nach Sibirien sowie die Einführung des russischen Absolutismus im Deutschen Reich betrifft, so sind die Staatsmänner des Blutzaren bei aller geistigen Inferiorität bessere historische Materialisten als unsere Parteiredakteure: Diese Staatsmänner wissen sehr wohl, dass sich eine politische Staatsform nicht überall nach Belieben „einführen“ lässt, sondern dass jeder Staatsform eine bestimmte ökonomisch-soziale Grundlage entspricht; sie wissen aus eigener bitterer Erfahrung, dass sogar in Russland selbst die Verhältnisse ihrer Herrschaft beinahe entwachsen sind; sie wissen endlich, dass auch die herrschende Reaktion in jedem Lande nur die ihr entsprechenden Formen braucht und vertragen kann, und dass die den deutschen Klassen- und Parteiverhältnissen entsprechende Abart des Absolutismus der Hohenzollernʼsche Polizeistaat und das preußische Dreiklassenwahlrecht sind. Bei nüchterner Betrachtung der Dinge bestand also von vornherein gar kein Grund zur Besorgnis, dass der russische Zarismus sich im Ernst bewogen fühlen würde, sogar in dem unwahrscheinlichen Falle seines vollen Sieges, an diesen Produkten der deutschen Kultur zu rütteln.

In Wirklichkeit waren zwischen Russland und Deutschland ganz andere Gegensätze im Spiel. Nicht auf dem Gebiete der inneren Politik, die im Gegenteil durch ihre gemeinsame Tendenz und innere Verwandtschaft eine Jahrhundert alte traditionelle Freundschaft zwischen den beiden Staaten begründet hat, stießen sie zusammen, sondern entgegen und trotz der Solidarität der inneren Politik – auf dem Gebiete der auswärtigen, in den weltpolitischen Jagdgründen. …

Literaturhinweis

Rosa Luxemburg: „Nein, auf unsere Brüder schießen wir nicht!“ Der Militarismus als kapitalistische Krankheit. Herausgegeben von Bruno Kern. (= edition pace 39 ǀ Regal: Pazifisten & Antimilitaristen aus jüdischen Familien 13). Digitale Erstausgabe, 10.11.2025. https://schalom-bibliothek.org (auf dem Portal wird in Kürze auch die gedruckte Taschenbuchausgabe angezeigt).

Rosa Luxemburg

Rosa Luxemburg (* 5. März 1871, † 15. Januar 1919 in Berlin) war eine einflussreiche Vertreterin der europäischen Arbeiterbewegung, des Marxismus, Antimilitarismus und proletarischen Internationalismus. Sie war eine Politikerin (SDKP, SPD, USPD und KPD) sowie Nationalökonomin und Publizistin.
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8 Kommentare

  1. Wie war es wirklich?:

    Zar Nikolaus II. befiehlt am 30. Juli 1914 die Generalmobilmachung der russischen Armee. Damit setzt er die Aktivierung der europäischen Bündnisverpflichtungen in Gang, die binnen weniger Tage in den Ersten Weltkrieg münden.

    Der Schritt ist zunächst gegen Deutschlands Verbündeten Österreich-Ungarn gerichtet, das Serbien am 28. Juli den Krieg erklärt hat. Russland versteht sich als Schutzmacht Serbiens.

    Im Zuge der Julikrise nach der Ermordung des k.u.k.-Thronfolgerpaares in Sarajevo hat in St. Petersburg, unterstützt von der öffentlichen Meinung, die Kriegspartei das Ruder übernommen. Ihrem Druck kann sich der eher friedfertige Zar nicht entziehen.

    In einem persönlichen Schreiben versichert Nikolaus seinem (entfernten) Onkel Wilhelm II. sein Bedauern über diesen Schritt. Dessen Regierung fordert ultimativ die Rücknahme des Befehls und reagiert schließlich ihrerseits mit der Mobilmachung.

    https://www.welt.de/geschichte/article177321500/30-Juli-1914-Russlands-Armee-setzt-auf-Krieg.html

    Historische Situationen eignen sich nicht oft zum Vergleich und man sollte sie nicht wortreich rabulistisch verbiegen, um sie dafür missbrauchen zu können. Schon gar nicht sollte die einseitige Presse heutzutage, die einseitige Presse von damals heranziehen, um irgendwas zu beweisen, das fällt ihr am Ende nur selbst auf die Füße…

    @Redaktion:
    Ich bin hinsichtlich des Ukrainekrieges durchaus der Meinung, dass das Overton-Magazin da zur Aufklärung beitragen kann, aber gleichzeitig ödet mich das Thema an, dieser ständige Angstporno (nicht vor Russland, aber vor einem Krieg), am besten mehrere Artikel täglich. Gibts denn gar nichts anderes mehr? Man wird ja depressiv oder bekommt eine Angststörung, wenn man hier regelmässig liest. Und ändern tut sich damit gar nichts, weil die ganzen Bellizisten eh nicht hier lesen…

    1. „@Redaktion: Ich bin hinsichtlich des Ukrainekrieges durchaus der Meinung, dass das Overton-Magazin da zur Aufklärung beitragen kann, aber gleichzeitig ödet mich das Thema an, dieser ständige Angstporno (nicht vor Russland, aber vor einem Krieg), am besten mehrere Artikel täglich. Gibts denn gar nichts anderes mehr? Man wird ja depressiv oder bekommt eine Angststörung, wenn man hier regelmässig liest. Und ändern tut sich damit gar nichts, weil die ganzen Bellizisten eh nicht hier lesen…“

      Ich kann es selber kaum glauben, aber hier bin ich für einmal mit ihnen vollkommen der gleichen Meinung.

      Man könnte z.B. mal darüber berichten, wie die EU ein Umweltschutzvorhaben nach dem anderen kippt.. und wie das die rechtskonservativ/liberalen Umweltverachter freut.
      Oder wie die Regierungsparteien die AfD mit der geplanten „Reformation“ des Bürgergelds rechts überholt.
      Etc, etc.

  2. „Die Ära Katharinas war eine Ära spirituellen Wohlstands, der Bildung nationaler Identität und der gesellschaftlichen Entwicklung von Konzepten der Ehre, persönlichen Würde und Legalität.Es ist kein Zufall, dass Historiker von zwei ungepeitschten Generationen russischer Adliger sprechen, die während der Herrschaft Katharinas aufwuchsen. Aus ihnen gingen die Helden des Jahres 1812 und die großen Schriftsteller und Künstler hervor, die den Stolz der nationalen Kultur ausmachen.“

    ich denke nicht, dass wir Deutschen Grund haben vor unseren Nachbarn im Osten Angst zu haben, ganz im gg-Teil. (aber dieser deutsche Teil wird ebenso bekriegt wie unsere Verwandtschaft im Osten)

    1. es geht nicht um Angst vor den Nachbarn in Ost
      es geht um die Zerschlagung guter nachbarschaftlichlicher Verhältnisse
      richtige Angst muss man vor den Oligarchen im Westen über dem Teich haben…
      zum Nachdenken: wer hat uns bisher massiven Schaden zugefügt?

      es gab mal so eine Idee
      https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/focus-paper-eine-freihandelszone-von-lissabon-bis-wladiwostok/
      es es musste mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verhindert werden

      „Michael Hudson: Im Grunde ist es Washington egal, ob Russland den Krieg [in der Ukraine] gewinnt, denn den USA ist es gelungen, ihre Konkurrenz in Europa, vor allem Deutschland, auszuschalten.“

  3. Karaganow: „Es wird kein Deutschland mehr geben!“

    Der russische Politikwissenschaftler und Historiker Sergei Karaganow, der seit Jahrzehnten als Berater der politischen Elite Russlands tätig ist, hält einen begrenzten Atomschlag gegen den Westen für eine Ultima Ratio, um Russlands Gegner abzuschrecken und damit einen umfassenden Dritten Weltkrieg zu verhindern.

    Laut dem Politikwissenschaftler, der in einflussreichen außen- und wirtschaftspolitischen Gremien sitzt, sei die Gefahr eines Atomkriegs so hoch wie Ende der 1950er Jahre und nehme weiter zu. Ein Grund dafür sei, dass die europäische Bevölkerung „die Angst vor dem Krieg, insbesondere vor einem Atomkrieg“, verloren habe. „Ironischerweise war gerade diese Angst in den letzten 70 Jahren ein stabilisierender Faktor.“ Es bedürfe laut Karaganow „nicht unbedingt direkter Gewalt, sondern der Wiederherstellung der Angst vor Krieg, einschließlich der Wiederbelebung der Angst vor einem Atomkrieg“. Dies sei „ein Schlüsselelement“, um Europa wieder zu seiner „geopolitischen Verantwortung“ zu führen.

    https://freedert.online/international/262012-karaganow-es-wird-kein-deutschland/

  4. auf t-online vor 3 Stunden; „Wagenknechts Kanal in den Kreml“……..t-online ist ja bekannt als Stichwortgeber für Diffamierung. Ist das der Startschuss für eine neue Kampagne gegen das BSW um eine Neuauszählung der Bundestagswahl zu verhindern?

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