Wie lange wird sich Selenskij noch halten und Konzessionen abwehren können?

In der Stadt Myrnohrad neben Pokrowsk sollen 1000 ukrainische Soldaten eingeschlossen sein. Bild: @milinfolive

 

Wie es aussieht, kommen die von den USA geleiteten Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland nicht weiter. Die amerikanischen Vermittler Witkoff und Kushner sind wieder aus Moskau abgereist und haben den ukrainischen Präsidenten Selenskij nicht getroffen, weil es offenbar nicht zu berichten gab. Weder Moskau noch Kiew geben nach, ein Kernpunkt soll der von Russland geforderte Rückzug aus dem noch von Kiew kontrollierten Donezk sein.

Der russische Präsident Putin hat klar gemacht, dass er die Gebiete in Donezk, falls Kiew nicht nachgibt, mit militärischer Gewalt erobern wird. Derzeit sieht die Situation an mehreren Frontlagen für die Ukraine schlecht aus. Deren Widerstand bröckelt, weil vor allem nicht genügend Soldaten mehr da sind, das Durchschnittsalter soll 47 Jahre betragen. Schon länger wurde Selenskij gewarnt, möglichst schnell einen Friedensabkommen zu schließen, weil alles nur schlechter für die Ukraine werden kann. Selbst der ehemalige Oberkommandierende Saluschnyj plädiert dafür, wahrscheinlich auch, um sich in Konkurrenz mit Selenskij politisch zu positionieren.

Die Frage ist, wie lange sich Selenskij wegen der militärischen Lage und der Korruptionsaffäre noch halten kann. Ohne sein Mitwissen, vielleicht auch seine Mitwirkung hätten seine Freunde, Minister und sein Stabschef Yermak sich nicht bereichern können. Dazu kommt, dass die Ukraine demnächst pleite sein könnte, wenn die Europäer nicht das eingefrorene russische Staatsvermögen zur Finanzierung des Staats und des Militärs mit hohem Risiko für den Standort sich mit Tricks aneignen können. Das scheint derzeit ebenso wenig umsetzbar zu sein wie die erneut vorgeschlagene Verschuldung der EU-Mitgliedsstaaten. Die Europäer wollen, dass die Ukraine weiterkämpft, wenn Russland keine großen Konzessionen macht, was derzeit völlig irreal ist. Daher wird auch weiter an Selenskij festgehalten.

Nach dem eben verabschiedeten Haushalt der Ukraine für nächstes Jahr  wären mindestens 45 Milliarden Dollar Unterstützung aus dem Ausland erforderlich, die nicht gesichert sind. Die EU-Kommission geht davon aus, dass die Ukraine bis Ende 2027 135 Milliarden Euro benötigen würden, wenn der Krieg weitergeht: 115 Milliarden Euro für das Militär, 50 Milliarden Euro für den Staatshaushalt und Milliarden Euro zur Rückzahlung des G7-Kredits von 2024 vorgesehen. Nach Angaben der EU-Kommission haben die EU und die Mitgliedsländer seit Beginn des Krieges bereits über 177 Milliarden an die Ukraine überwiesen.

44 Prozent würden nicht an Protesten wegen inakzeptabler Konzessionen teilnehmen

Gerade wurde eine Umfrage des New Europe Center über die Haltung der Bevölkerung zu Sicherheitsfragen bei einem möglichen Friedensabkommen veröffentlicht. Sie wurde im November durchgeführt, befragt wurden zu Handy-Interviews 1000 Ukrainer in den von Kiew kontrollierten Gebieten. Die Umfrage soll repräsentativ nach der Bevölkerungsstatistik von Januar 2021 sein. Naja, trotzdem lässt sich vielleicht eine gewisse Stimmung ablesen.

51,6 Prozent sagen, sie würden an Protesten teilnehmen, wenn die Ukraine, sprich: die Regierung, während den Verhandlungen mit Russland inakzeptable Konzessionen machen würde. Erstaunlich ist, dass 44,3 Prozent sich dann nicht an Protesten beteiligen würden. Gegen Gebietsabtretungen sprechen sich nur noch 40 Prozent aus, 2023 waren es noch über 76 Prozent. Mit Mehrheiten über 70 Prozent wird aber eine legale Anerkennung der besetzten Gebiete als russisch abgelehnt, ebenfalls eine Verkleinerung der Armee oder die Anerkennung von Russisch als Staatssprache. Ein Nicht-Nato-Beitritt lehnen 41 Prozent ab, der Beitritt zur EU scheint wichtiger zu sein, 51 Prozent würden eine Beitrittsverweigerung ablehnen. Gegen eine Amnestie für russische Kriegsverbrecher sind 65 Prozent und gegen eine Aufhebung der Sanktionen 64 Prozent. Allgemein steigt die Akzeptanz für Konzessionen an.

Angst haben die Befragten weiterhin vor Russland. Würde die Frontlinie eingefroren, glauben fast 87 Prozent, dass Russland bald erneut angreifen würde. Daher sagen 64 Prozent, die Ukraine sollte ohne Sicherheitsgarantien vom Westen keine Verhandlungen mit Russland beginnen. Ein Nato-Beitritt wäre nur für 19,4 Prozent eine Sicherheitsgarantie. Die sehen die Befragten mit 31 Prozent am stärksten in der Aufrüstung mit Atomwaffen. Die Stationierung europäischer Truppen sehen nur 11,7 Prozent als Sicherheitsgarantie, eine Verteidigungsallianz mit den USA, UN-Friedenstruppen 6,4 Prozent.

Zu den gewünschten Atomwaffen als Sicherheitsgarantie heißt es: „Dies zeigt einerseits die Enttäuschung der Ukrainer über die internationale Unterstützung und externe Sicherheitsgarantien und spiegelt andererseits die Erkenntnis wider, dass es gerade die Atomwaffen waren, die es Russland ermöglichten, mit den Ängsten des Westens zu spielen, was wiederum die langsame und zögerliche militärische Hilfe für die Ukraine beeinflusste.“ Allerdings wünscht dies nur ein knappes Drittel. Man wird sich aber erinnern, dass die Andeutung von Selenskij im Januar 2021 auf der Münchner Sicherheitskonferenz, die Ukraine könne sich mit Atomwaffen aufrüsten, wohl auch zur russischen Invasion geführt hat. Man darf davon ausgehen, dass Russland das auch weiterhin mit allen Mitteln verhindern wird, ähnlich wie dies die USA in der Kuba-Krise mit dem Risiko eines Atomkriegs gemacht haben.

Florian Rötzer

Florian Rötzer, geboren 1953, hat nach dem Studium der Philosophie als freier Autor und Publizist mit dem Schwerpunkt Medientheorie und -ästhetik in München und als Organisator zahlreicher internationaler Symposien gearbeitet. Von 1996 bis 2020 war er Chefredakteur des Online-Magazins Telepolis. Von ihm erschienen sind u.a. „Denken, das an der Zeit ist“ (Suhrkamp 1988), „Die Telepolis“ (1995), „Vom Wildwerden der Städte“ (Birkhäuser 2006), „Smart Cities im Cyberwar“ (Westend 2015), „Sein und Wohnen“ (Westend 2020) oder „Lesen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz“ (Bielefeld 2023)
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4 Kommentare

  1. „befragt wurden zu Handy-Interviews 1000 Ukrainer in den von Kiew kontrollierten Gebieten“

    Also die 80% des Landes, die großteils weit von der Front weg sind?

    Warum hat die Ukraine solche Personalprobleme? Bei immer noch hohen Zustimmungswerten zur Verteidigung müsste es doch auch ausreichend Freiwillige geben.

    Wie sieht die Stimmung unter denen aus, die zwangsweise eingezogen werden?

  2. „Man darf davon ausgehen, dass Russland das auch weiterhin mit allen Mitteln verhindern wird, ähnlich wie dies die USA in der Kuba-Krise mit dem Risiko eines Atomkriegs gemacht haben.“
    Ach ja, die alte – westliche – Halberzählung über die Kuba-Krise. Die fing aber vorher an, als die Sowjetunion die Fähigkeiten und Aufgaben der Jupiterraketen aufgeklärt hatte:
    „Die USA stationierten in den Jahren 1961 und 1962 Jupiter-Atomraketen in der Türkei, um die sowjetischen Städte mit einer Reichweite von bis zu 2400 km bedrohen zu können. Diese Stationierung war ein Auslöser für die Kubakrise 1962. Im Zuge der Krise kam es zu einem Abkommen, bei dem die Jupiter-Raketen aus der Türkei und Italien abgezogen wurden.“
    Die Raketen auf Kuba sollten die Antwort sein – und ja, dann stimmt es wieder: Das wird sich Russland heute genauso wenig bieten lassen, wie die Sowjetunion seinerzeit.

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