
Der Chefredakteur des ZEITmagazins, Sascha Chaimowicz, begeistert sich in einem Kommentar an der “beeindruckenden demokratischen Leistung der israelischen Bürger”. Was beinhaltet diese “Leistung”?
Sascha Chaimowicz, Chefredakteur des ZEITmagazins, hat vergangene Woche einen Kommentar über die politische Entwicklung in Israel veröffentlicht. Titel des Textes mutet euphorisch an: “Was für ein Volk!” Befeiert wird in ihm die in Israel entstandene und mit großer Verve agierende Opposition gegen die “geplante Justizreform” Netanjahus. Ihren bislang beeindruckenden Höhepunkt erlangte die Protestaktivität nach der vom Premier proklamierten Entlassung des israelischen Verteidigungsministers Yoav Galant. Eine riesige Demonstrandenmasse strömte spontan auf die Straßen und blockierte sie.
Chaimowicz kalkuliert: “Auf die Bevölkerung Deutschlands umgerechnet muss man sich vorstellen, dass am Wochenende insgesamt zehn Millionen Menschen gegen die Regierung protestierten”; entsprechend gelangt er zum Urteil: “eine beeindruckende demokratische Leistung der israelischen Bürger”. Netanjahu habe sich verschätzt: “Er hat sich mit dem falschen Volk angelegt.”
Korrigiert sei hier zumindest eine sachliche Feststellung. Bei der Aufzählung der verschiedenen Protestgruppen erwähnt Sascha Chaimowitz u.a. “die Soldaten, die sich letztlich gegen ihre Befehlshaber stellten”. Das stimmt nicht für die Wehrpflichtsoldaten (die haben keinen Befehl verweigert); es handelte sich um Reservisten (einschließlich Kampfpiloten), die sich nicht gegen ihren Befehlshabern stellten, sondern ankündigten, den Reservedienst, den sie freiwillig verrichten, künftig nicht mehr unter einem diktatorischen Regime antreten zu wollen – unter ihnen waren auch nicht wenige, die selbst Befehlshaber sind. Auch was sich in der Hinterbühne der Ankurbelung des von der Histadrut ausgerufenen Streiks zutrug, wäre gesondert zu erörtern. Es war weniger rühmlich, als es sich zunächst ausnehmen mochte.
Chaimowitz, begeistert von der in der Tat beeindruckenden Protestemphase, fasst zusammen: “Alle gingen ein persönliches Risiko ein, um für etwas vermeintlich Immaterielles zu kämpfen, das sie durch ihr Handeln aber fühlbar gemacht haben: die Demokratie in ihrem Land.” Was sie geeint habe, war ein “demokratischer Patriotismus: Wir streiten ständig und über alles, aber dass wir eine Demokratie sind, ist die Basis von allem.” Und so gelangt er zum abschließenden Urteil: “Die Menschen im Land haben gespürt, wie mächtig sie sind, und Netanjahu kennt die rote Linie seiner Bürger.”
Wer möchte sich nicht diesem euphorischen Verdikt anschließen. Wir alle brauchen doch ein Quäntchen optimistischer Hoffnung in finsteren Zeiten, so narzisstisch es auch im übrigen anmuten mag. Aber auch Sascha Chaimowitsch begeht den in Deutschland gängigen Fehler, Israel stets blauäugig wahrzunehmen. Zum einen rechnet er aus, wie viele israelische BürgerInnen sich gegen Netanjahu erhoben haben, vergisst aber zu erwähnen, dass eine weit größere Zahl von Israelis Netanjahu bzw. die von ihm generierte Koalition gewählt haben und ihm die Treue wahren; dass die rechten, rechtsradikalen und faschistischen Gegendemonstrationen bislang nur rudimentär aufgetreten sind, es auf den Straßen also bislang noch nicht zur vollen Kollision zwischen den beiden Blöcken gekommen ist – und die werden noch aller Wahrscheinlichkeit nach kommen.
Zum anderen wird unterschlagen, aus welchen Parteien sich die “demokratische” Opposition gegen Netanjahus Begehren in der Knesset zusammensetzt: Da ist die Partei Avigdor Liebermans, der dem “freiwilligen” Transfer der in Israel lebenden Palästinensern, Bürger des Landes, schon mal das Wort geredet hat (er selbst lebt im okkupierten Westjordanland). Da ist Benny Gantz, der seine politische Karriere vor einigen Jahren mit der selbstherrlichen Nennung der Zahl von Palästinensern, einschließlich Frauen und Kinder, die er im Gaza-Krieg von 2014 getötet hat, begonnen hat. Da sind Politiker wie Gideon Saar, Ze’ev Elkin und viele andere, die ursprünglich der Likud-Partei entstammen und Netanjahu ideologisch näher stehen, als dem kümmerlichen Rest der zionistischen Linken (Arbeitspartei und Meretz, die es nicht einmal in die Knesset geschafft hat(. Sie alle wurden u.a. von den heute gegen Netanjahu Protestierenden gewählt.
Vor allem erhebt sich aber die Frage, von was für einer Demokratie Chaimowicz redet. Er muss doch wissen, dass selbst bei diesen Massendemonstrationen die israelischen Araber ausgegrenzt waren, mithin sich selbst ausgrenzten, was an sich indiziert, dass sie in Israel als Bürger zweiter Klasse leben: Das Koalieren mit ihren Parteien ist ein Tabu; die Ressourcenverteilung diskriminiert und unterprivilegiert sie schon seit Bestehen des Staates; ihre Zugänge zu den gesellschaftlichen, kulturellen und eben auch politischen Eliten des Landes sind eingeschränkt, ohne Aussicht auf Verbesserung in absehbarer Zukunft.
Und von welcher Demokratie kann die Rede sein bei einem Staat, der dezidiert und ideologisch gewappnet ein anderes Kollektiv seit Jahrzehnten unterjocht, permanent schikaniert und verbrecherisch knechtet. Wie kann da von einer demokratischen Gesinnung die Rede sein? Weiß Chaimowicz denn nicht, dass das Gros der gegen die “Justizreform” enthusiasmiert Protestierenden sich sofort vom Protest zurückziehen würden, wenn bei den Demonstrationen von Beendigung der Okkupation und der Anvisierung einer Friedenslösung mit den Palästinensern die Rede wäre? Schon bei der Demonstrationswelle von 2011 (“Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit”) wie auch beim Anti-Netanjahu-Protestjahr 2021 durfte die Okkupation nicht erwähnt werden, weil man die Demonstrierenden “politisch” nicht spalten wollte. So ist es auch bei den Protesten der letzten drei Monaten nur eine verschwindende Minorität, die die Besatzung zum Thema gemacht – und sofort einen Maulkorb verpasst bekommen hat.
Netanjahu kennt in der Tat “die rote Linie seiner Bürger”, und die liegt nicht bei der “Demokratie”, nicht beim “demokratischen Patriotismus”, sondern bei dem, was den eigentlichen Konsens der jüdischen Bevölkerung Israels ausmacht: die Unberührbarkeit der Okkupation. Bei diesem “Thema” hat sich Netanjahu nicht “verschätzt” und sich mitnichten “mit dem falschen Volk angelegt”. Er wusste genau, dass er sich darin mit seinem “Volk” nicht verschätzen kann.
Es ist nicht klar, ob es Sascha Chaimowicz selbst war, der seinen Text mit dem freudig-bewundernden “Was für ein Volk!” betitelt hat. Gemessen an dem in der israelischen Gesellschaft grassierenden Rassismus, der Verbreitung des Faschismus und der reaktionären Autoritätshörigkeit, die viele in dieser Gesellschaft beseelt, wäre es angemessener gewesen, das Ausrufe- durch einen Fragezeichen zu ersetzen: Was für ein Volk?
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- Die Parzellierung der Shoah-Erinnerung in Israel
Abseits vom Argument „Antisemitismus“ schauen wir Deutschen ganz schön deppert aus der Wäsche. Danke für Ihren Artikel und Kommentar dazu. Hier noch etwas zum Lesen:
Palestine in Pictures: March 2023
https://electronicintifada.net/content/palestine-pictures-march-2023/37461
„Nach den Gipfeltreffen in Akaba und Sharm el-Sheikh kämpfen die Palästinenser an zwei Fronten“
https://senderfreiespalaestina.de/pdfs/nach-dem-gipfel-in-aqaba-und-sharm-el-sheich.pdf
„Die jüngsten Gipfeltreffen unter US-Führung in Jordanien und Ägypten haben die Kampagne zur Unterdrückung des palästinensischen Widerstands bekräftigt. Neben der laufenden israelischen Offensive müssen sich die Palästinenser:innen nun auch mit der Palästinensischen Autonomiebehörde auseinandersetzen, die den Widerstand von innen heraus verfolgt.“ Mariam Barghouthi / 20.03.23
„Israel bombs Gaza after Lebanon rocket fire“ Maureen Clare Murphy / 6. April 2023
https://electronicintifada.net/blogs/maureen-clare-murphy/israel-bombs-gaza-after-lebanon-rocket-fire
„Addameer and Al-Haq Address Israel’s Torture of Palestinian Prisoners in a Joint Intervention at the Human Rights Council“ 24، Mar 2023
https://www.alhaq.org/advocacy/21351.html
off_topic HEUTE:
Alle Termine der Ostermärsche 2023
https://www.friedenskooperative.de/ostermarsch-2023/termine
Alle Infos zu den Ostermärschen 2023 der Friedensbewegung
https://www.friedenskooperative.de/ostermarsch-2023
Für Hannoveraner:
„Den Frieden gewinnen – nicht den Krieg!“
11 Uhr Aegidien-Kirche: Auftaktkundgebung mit der früheren Landesbischöfin Frau Dr. Margot Käßmann, anschließend Demonstration
13 Uhr Ernst-August-Platz vor dem Hbf: Abschlusskundgebung mit Rolf Becker
Flyer: https://frieden-hannover.de/wp-content/uploads/2023/03/Flyer-Ostermarsch-2023-230228-A.pdf
Was für ein Volk?! Das muss ich allerdings auch fragen, nachdem ich eben vom Berliner Ostermarsch zurück gekommen bin. Mit mühe und Not 300 Leute, ganz viele Alte, die so wie ich eingeschränkt mobil sind. Also die Alten der alten Friedensbewegung demonstrieren noch immer, denn sie kennen noch die Kriegserzählungen der Eltern. Und die Jungen, wo bleiben sie?! Die FfFs und die letzte Generation sollten mal zur Kenntnis nehmen, dass der Krieg die ultimative Umwelt- und Menschenzerstörung ist.
Vielleicht geht Sascha Chaimowicz davon aus, das die BRD eine solche Demo vorführen soll, um endlich vom unerträglichen Komödiestadel in die Realität zu kommen.
Ich befürchte aber, das die meisten das verschlafen, dann ists zu spät…
Grundsätzlich volle Zustimmung. Ein Problem sehe ich in der unkritischen Verwendung des Demokratie-Begriffs, dessen Inhalt lange nicht so eindeutig ist, wie meist implizit unterstellt. Wer das Subjekt einer ‚Demokratie‘ ist, wandelt sich durch Zeit und Raum, das gilt sogar, wenn man sich auf die bürgerliche ‚Demokratie‘ beschränkt und Vorläufer ausser Betracht lässt. Und was für Befugnisse das jeweilige Demokratie-Subjekt innehat, ist nochmals eine andere Frage. Bei der bürgerlichen ist z. B. klar, dass praktische ökonomisches Verhalten nicht berührt wird. Dort herrschen bekanntlich eher diktatorische Verhältnisse. Die Frage nach dem jeweiligen Souverän findet somit eine unangenehme Antwort. Gut, dass sie kaum je gestellt wird…
Wie es jemand auf MoA umschrieb:
Moshe Ya’alon describing the ideology of two current ministers: „Jewish supremacism.“
und dann kommt ein finsterer Vergleich.
https://www.moonofalabama.org/2023/04/peace-in-the-middle-east-thats-a-threat.html#comments
Wenn ich kurz Israels Nachbarn in der Gegend erwaehnen darf, denn ein Stueck darueber steht im Text noch:
United Arab Emirates has begun withdrawing its forces from #Yemen.
und in Syrien wuerde auf russisch-chinesischen Anstoss auch verhandelt.
(Wenn Assat doch so schlau waer, den Kurden ihren Teil vom Kuchen zu lassen …)
Aber WTF ist da eigentlich los?
sorry, url vergessen:
https://www.moonofalabama.org/2023/04/peace-in-the-middle-east-thats-a-threat.html#comments
Podcast „Parallelwelt Palästina“ / Am 14. April erste Folge / Alle 2 Wochen neue Folge
https://parallelweltpalaestina.podbean.com/
„Alles was die deutsche Medienlandschaft bisher verpasst hat findet ihr hier: von Siedlerkolonialismus und dem Apartheidsvorwurf gegen Israel bis hin zur Besatzungspolitik und der ethnischen Säuberung Palästinas.
Hosts:
Lena Obermaier ist Doktorandin and der Universität Exeter in Palästinastudien. Sie hat zuvor an der School of Oriental and African Studies unterrichtet und war u.a. am Internationalen Strafgerichtshof und Human Rights Watch tätig. (…)
Michael Sappir ist Publizist, Mitbegründer des Jüdisch-Israelischen Dissens (JID) Leipzig und studiert Philosophie. Zuvor schrieb er regelmäßig für das israelische online-Magazin Local Call und hat die Redaktion der studentischen Zeitung critica geleitet. (…)“