
Man liest es regelmäßig in den Medien: Psychologisch-psychiatrische Störungen werden immer häufiger diagnostiziert. Die Mengen der verschriebenen Medikamente steigen rasant. Die Wartelisten für eine Therapie sind lang. Man brauche mehr Therapeutinnen und Therapeuten.
Doch obwohl die sogenannten hoch entwickelten Länder schon sehr viel mehr Therapeutinnen und Therapeuten haben als andere, scheint es nie genug zu sein. (Ich bekenne: Ich habe selbst über 5.000 Psychologinnen und Psychologen akademisch ausgebildet.) Schlimmer noch: Trotz aller Bemühungen, der Aufklärung und der (angeblichen) Entstigmatisierung steigen nicht nur die Diagnosen, sondern auch die Krankheitstage und -Kosten, ja sogar die langfristige Arbeitsunfähigkeit wegen psychischer Belastungen.
Epidemiologen wundern sich: Laut ihren allgemeinen Bevölkerungsstudien ändert sich nichts oder allenfalls nur wenig. An den Türen der Arztpraxen und Therapiezentren sieht das aber ganz anders aus. Dort klopfen immer mehr Menschen mit Problemen an, die in den psychologisch-psychiatrischen Bereich eingeordnet werden. Sowohl die Diagnosen und Therapien als auch die Medikamentenverschreibungen und Arbeitsausfälle bilden einen zentralen Teil unseres Alltags ab.
Mit dieser Realität haben sich zum Beispiel Julia Thom vom Robert Koch-Institut und Kollegen beschäftigt. Für eine aktuelle Studie haben sie die Veränderung der Diagnosen im Zeitraum von 2012 bis 2022 untersucht, die sie aus den Daten der gesetzlichen Krankenkassen errechnet haben (Thom et al., 2024). Demnach stiegen die Diagnosen der vor allem bei Frauen diagnostizierten Angststörungen und Depressionen um 31 beziehungsweise 15 Prozent.
Bei den von Männern häufiger und intensiver konsumierten psychoaktiven Substanzen und damit einhergehenden psychischen Problemen betrug der Anstieg 35 Prozent. Am meisten veränderte sich aber bei der posttraumatischen Belastungsstörung, wenn auch in absoluten Zahlen auf einem niedrigeren Niveau: mit plus 116 Prozent mehr als eine Verdopplung.
Das alles nimmt sich aber bescheiden heraus, wenn man es mit dem Anstieg der ADHS-Diagnosen bei den 25- bis 34-jährigen Frauen vergleicht, über den ich im ersten Teil schrieb: gut 500 Prozent!
(Be-)Deutung von Erwachsenen-ADHS
Das sind Zahlen beziehungsweise Veränderungen, über die selbstverständlich die Medien berichten. Wie soll man sie deuten? Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Maria Ivanova vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Berlin, die die neuesten ADHS-Daten berichteten, diskutieren selbst verschiedene Möglichkeiten. Schauen wir zunächst auf ihre Erklärung eines kleinen Rückgangs der Diagnosen im Jahr 2020:
„Der kurzzeitige Inzidenzrückgang (2020) ist möglicherweise pandemiebedingt aufgrund geringerer Versorgungsinanspruchnahme, aber auch aufgrund von Einschränkungen in persönlichen Lebensbereichen und damit der Nichterfüllung der Erstdiagnostik-Kriterien zu erklären, die Funktionsbeeinträchtigungen in mindestens zwei Lebensbereichen erfordert.“ (Ivanova et al., 2025)
Das vermittelt uns das Wissen, dass die offiziellen diagnostischen Kriterien für ADHS seit 1994 das Vorliegen der Probleme – fehlende Aufmerksamkeit, Hyperaktivität und/oder Impulsivität – in mindestens zwei Bereichen vorschreiben, zum Beispiel in der Schule oder zu Hause. Wenn die Leute nur in der Wohnung sind, fallen andere Lebensbereiche natürlich weg.
Übrigens wurde damals festgelegt, dass zumindest ein Teil der Probleme schon vor dem siebten Lebensjahr vorliegen muss. Es ist aber hinterher natürlich schwer zu sagen, wer als Kleinkind „oft“ Anzeichen solcher Verhaltensweisen zeigte und wer nicht, zumal das bei Erwachsenen Jahrzehnte zurückliegt. Die genannte Altersgrenze wurde 2013 übrigens vom siebten auf das zwölfte Lebensjahr angehoben. Das erweiterte die Möglichkeit, die Störung zu diagnostizieren.
Doch kommen wir jetzt zur wichtigeren Erklärung der Forscherinnen und Forscher:
„[1] Der jüngst starke Inzidenzanstieg resultiert möglicherweise aus einer stärkeren gesellschaftlichen Sensibilisierung für AD(H)S, [2] der Einführung des F98.80-Codes sowie [3] Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit. Dies erklärt möglicherweise auch die starke Zunahme bei jungen Frauen.“ (Ivanova et al., 2025)
Erstens – die Zahlen habe ich hilfsweise eingefügt – gibt es also vielleicht mehr Aufmerksamkeit für das Thema; zweitens wurde eine Diagnose-Möglichkeit eingeführt; und drittens ging die Pandemie mit besonderen Belastungen einher.
ADHS im Kontext
Mir gefällt, dass das Störungsbild hier kontextualisiert, also im Rahmen der gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen gesehen wird. Das in Deutschland immer noch hauptsächlich verwendete diagnostische Regelwerk, das aus den 1990er-Jahren stammende ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation, kannte eigentlich noch gar keine ADHS, wie sie seit 1980 in den amerikanischen Handbüchern steht. Stattdessen finden sich darin die „hyperkinetischen Störungen„.
Es gab für die Länder, die das ICD verwenden, im Laufe der Jahre aber immer sprachliche Anpassungen. Damit kam schließlich die „Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität mit Beginn in der Kindheit und Jugend„. Wie ich im ersten Teil beschrieb, kommt der Subtyp von ADHS ohne Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität, manchmal auch „ADS“ genannt, typischerweise häufiger bei den Mädchen vor.
Diese Erklärung würde also zum besonders starken Anstieg bei den Frauen passen. Allerdings gibt es dieses Phänomen auch in Ländern wie den Niederlanden, die die amerikanischen Kriterien des sogenannten DSM verwenden. Auch hier bekamen Frauen in den letzten Jahren immer mehr ADHS-Diagnosen, obwohl die Klassifikation den unaufmerksamen Typ seit 1994 vorsieht.
Dass immer mehr über ADHS – und andere psychologisch-psychiatrische Störungen – gesprochen wird und die Pandemie mit besonderen Belastungen einherging, sind im Kern soziale Erklärungen für den Anstieg. Mit dem Verweis auf „die starke Zunahme bei jungen Frauen“ dachten die Forscherinnen und Forscher vielleicht an die Mehrfachbelastung durch Beruf und Erziehungsaufgaben, die stärker von Frauen wahrgenommen werden.
In der Presse
Diese Deutungen konnte die Presse leicht diskutieren, als sie am 11. und 12. Dezember von der neuen Studie berichtete. Die öffentlich-rechtliche Tagesschau fiel aber negativ aus dem Rahmen: Obwohl die Daten der Originalveröffentlichung mit Link dargestellt wurden, ließen die Journalisten nur eine Reihe von Psychiatern zu Wort kommen. Und die meinen alle, ADHS wurde und werde zu selten diagnostiziert.
Kurzum, der Anstieg sei gar kein wirklicher Anstieg, sondern hole nur vorher übersehene Störungen ein. Warum das gerade in den Jahren 2021 bis 2024 passieren sollte und dann auch noch so schnell, erklärt keiner von ihnen.
Swantje Matthies vom Universitätsklinikum Freiburg meint zudem,
„die Symptome von ADHS und ADS [wurden] bei Frauen lange Zeit häufig übersehen. Die frühen Studien zu dem Thema basierten – wie so häufig im Gesundheitssystem – fast ausschließlich auf Daten von Jungen und Männern. Deshalb galten typisch männliche Symptome auch lange als allgemein typische AD(H)S-Symptome.“ (Swantje Matthies auf tagesschau.de)
Wie wir oben sahen, gibt es den bei den Mädchen häufiger Vorkommenden ADHS-Typ mit Unaufmerksamkeit als zentralem Kriterium aber schon seit 1994 in dem amerikanischen Diagnosewerk. Auch in den Ländern, die dieses verwenden, stiegen die Diagnosen in den letzten Jahren stark an.
Noch eine Bemerkung zu der Kritik, die Studien basierten vor allem auf den Daten von Jungen und Männern: Das liegt zum Beispiel bei Medikamententests auch an der Tatsache, dass Männer sich dafür häufiger freiwillig melden. Wie ich im ersten Teil beschrieb, sind – vor allem: junge – Männer allgemein risikofreudiger. Es wäre wohl kaum im Sinne von Matthies, Frauen zur Teilnahme an solchen Tests gesetzlich zu verpflichten, um hier bessere Daten zu erhalten. Es stimmt aber auch, dass in der Forschung aufgrund knapper Ressourcen öfter nur ein Geschlecht untersucht wird und das zumindest in der Vergangenheit häufiger Männer waren.
Und was fehlte
Trotzdem wunderte es mich, dass die Tagesschau die oben genannten sozialen Erklärungen aus der Originalarbeit verschwieg. Nach meinem Hinweis von 11:30 Uhr am 12. Dezember wurde der Artikel um ca. 13:30 Uhr ergänzt und räumte man mir gegenüber in einer E-Mail von 13:42 Uhr den Fehler ein. Dieser redaktionelle Eingriff wurde im Text aber nicht kenntlich gemacht. In der dazugehörigen Audiodatei hört man wahrscheinlich noch die alte Version.
Nach der Überarbeitung ist nun zwar von den möglichen Auswirkungen der Pandemie die Rede. Dass der Anstieg der Diagnosen aber auch an der gestiegenen Aufmerksamkeit in den Medien liegen könnte, wird dort immer noch nicht erwähnt. Dabei kann das jeder einmal selbst ausprobieren: Man liest die (oft schwammigen) Symptomlisten in so einem diagnostischen Werk und erkennt auf einmal an sich selbst ganz viele Störungsbilder oder Krankheiten. Manche Menschen sind hierfür anfälliger als andere.
Der Tagesschau-Artikel erlaubte sich noch einen zweiten Patzer, nämlich bei den Medikamenten, auf die ich gleich ausführlicher eingehe. Am Ende wurde unter der Zwischenüberschrift „Medikamente wirken zuverlässiger“ noch auf eine neuere Meta-Analyse (Ostinelli et al., 2025) zur Behandlung von Erwachsenen-ADHS verwiesen: „Danach helfen nur Medikamente, wie das vor allem unter Markennamen ‚Ritalin‘ bekannte Methylphenidat oder Amphetamine verlässlich und schnell gegen Kernsymptome von ADHS, also Unruhe, Unaufmerksamkeit oder Impulsivität.“
Eine sprachliche Feinheit vorweg: Wenn man im Deutschen nicht von Amphetamin (Straßenname „Speed“), sondern von „Amphetaminen“ spricht, bezieht man sich auf eine allgemeine Substanzklasse, zu der auch Ecstasy/MDMA gehört. Wofür steht hier wohl das letzte „A“? Amphetamin! Daran haben die Tagesschau-Leute wohl eher nicht gedacht.
Die genannte Studie belegt die Wirkung der Stimulanzien bei Erwachsenen mit einer ADHS-Diagnose aber nur für eine kurzzeitige Verwendungsdauer. Außerdem erfuhren die Konsumentinnen und Konsumenten dadurch keine Verbesserung ihrer Lebensqualität. Diese nicht ganz unwichtigen Einschränkungen hat die Redaktion nach meinem Hinweis ergänzt.
Stimulanzien
Damit komme ich zu meinem letzten Punkt: Mit der Verwendung von Stimulanzien wie Amphetamin oder Methylphenidat (z.B. in Ritalin) in der Gesellschaft beschäftige ich mich ja, ursprünglich in der Gehirndoping-Debatte, seit gut 20 Jahren. Wie man den Anstieg der Diagnosen auch deuten mag, bei den Zahlen der Medikamentenverschreibungen gibt es große Auffälligkeiten.

Die Verschreibungen der typischen ADHS-Medikamente in Deutschland (schwarze Linie), hier dargestellt als Millionen definierte Tagesdosen, stiegen zunächst in der ersten Dekade der 2000 stark an. Eine zweite Welle setzte 2019 an. Zum Vergleich sind hier die niederländischen Zahlen dargestellt (orange). Da diese in etwa gleichauf liegen, verschreibt man in dem kleineren Land in etwa 4,5-mal so viele Stimulanzien pro Kopf. Datenquellen: Arzneiverordnungs-Report; Zorginstituut Nederland
Ich könnte wahrheitsgetreu schreiben, dass man auf der Abbildung für Deutschland einen 270-fachen Anstieg sieht. Das liegt aber schlicht daran, dass Ritalinkonsum & Co. in den 1990ern, meiner Zeit auf dem Gymnasium, einfach noch kein Thema war.
Es gibt hier interessante Kulturunterschiede: In den USA, wo führende Psychiater schon 1980 das Störungsbild ADHS einführten, setzte der Trend früher ein – weswegen die Weltgesundheitsorganisation schon in den 1990ern warnte, zumal es um Medikamentenverschreibungen für Kinder ging. In Deutschland war man zögerlicher und legte man schließlich fest, dass die Stimulanzien, jedenfalls bei Minderjährigen, nicht mehr die erste Behandlungsmöglichkeit sein sollen. Die Leitlinie ist übrigens seit 2022 ausgelaufen und die neue Fassung wird mit Spannung erwartet.
In den Niederlanden sah man es pragmatisch und verteilten Ärzte, auch wegen der langen Wartelisten, pro Kopf sogar noch mehr von den Mitteln als in den USA. In Dänemark war man aber vorsichtiger als in Deutschland (Bachmann et al., 2017). Und im Vereinigten Königreich ließ man die Finger fast ganz von den Stimulanzien, weil diese als (angeblich) gefährliche Drogen verboten sind. Letzteres gilt freilich für alle genannten Länder, wo man das aber offenbar nicht so streng sieht wie auf der anderen Seite der Nordsee.
Wie es einem gefällt
Ich habe keine Glaskugel und kann den Leserinnen und Lesern auch nicht die eine wahre Antwort anbieten. Aber es ist schon auffällig, dass die Psychiaterinnen und Psychiater, die diese Substanzen vor allem verschreiben und damit Geld verdienen, die sozialen Deutungen ausklammern. Seit Jahrzehnten – ich habe es selbst miterlebt – reagieren sie auf jeden Anstieg immer nur mit der Behauptung, man diagnostiziere die Störungen nun besser.
Das führt mit Blick auf die (staatlich regulierte) Produktion der Stimulanzien in den USA zu einer interessanten Frage.

In den USA hatte man Amphetamin (graue Balken) ab den 1970ern im „Krieg gegen Drogen“ erst dämonisiert. Deshalb verschrieb man noch in den 1990ern bei ADHS vor allem Methylphenidat (z.B. Ritalin; schwarze Balken). Den vorläufigen Höhepunkt bei der staatlich regulierten Produktion beider Substanzen (hier in Tonnen dargestellt) gab es 2014. Datenquellen: US Drug Enforcement Agency; Federal Register
Ich habe diese Zahlen schon in den 2010er-Jahren in Artikel und Vorträgen gezeigt. Immer hieß es aus der Pro-ADHS-Ecke: „Ja, wir diagnostizieren eben besser.“ Ein Beweis wurde hierfür übrigens nie erbracht. Der dreizehnfache Anstieg von Mitte der 1990er- bis Mitte der 2010er-Jahre würde demnach bedeuten, dass man dann dreizehnmal besser diagnostizierte? Und die Abnahme von 2014 bis 2023, dass man dann 40 Prozent schlechter diagnostizierte? Man kann sich die Zahlen so zurechtlegen, wie es einem gefällt.
Überlappungen
Ich möchte hier noch einen alternativen Gedankengang vorschlagen: Wie ich im ersten Teil schrieb, gibt es weder für ADHS, noch für die anderen psychologisch-psychiatrischen Störungen einen Blut-, Gen- oder Gehirntest. Damit sind die Störungsbilder, über die Fachleute mit ihren eigenen Interessen alle Jahre wieder neu am Konferenztisch verhandeln, für finanzielle, Marketing- und Medieninteressen besonders anfällig. Hätte man die von den Psychiatern seit über 200 Jahren versprochenen objektiven Tests, könnte man die Diagnosen gar nicht so multiplizieren, wie wir es seit Jahrzehnten sehen.
ADHS ist laut den DSM-Kriterien eine so komplexe Kategorie, dass man aus den offiziellen Symptomen satte 116.220 gültige Varianten erzeugen kann (Schleim, 2022). Zu dieser Vielfalt kommen die schwammigen Grenzen zu anderen Störungsbildern. Fachleute nennen das „Komorbidität“ (co = Zusammen, morbus = Krankheit). Bei ADHS sind das insbesondere Autismusspektrum-, Entwicklungs-, Lern-, Substanzkonsum-, Zwangs-, Angst- und depressive Störungen (Drechsler et al., 2020). Allein mit den letzten beiden gibt es laut Studien in bis zu 45 Prozent der Fälle Überlappungen.
Daher wage ich hier einmal eine Alternativhypothese: Nach gut 30 Jahren Burn-out- und Depressions-Epidemie (Schleim, 2026) sind jetzt gerade ADHS-Diagnosen im Trend. Gemein sind diesen Störungsbildern die fehlende Konzentration und Motivation, die Antriebslosigkeit. Ja, wenn man sich langweilt oder die Energie verschwindet, reagieren manche abgelenkt und träumerisch, andere impulsiv und hyperaktiv.
Inzwischen leben wir in einer Welt, in der kontinuierlich nicht nur E-Mails, sondern auch Chatnachrichten auf uns einprasseln. Auf (a)sozialen Medien warten endlose Bildchen oder Videos, die sowohl von ihren Machern als auch den Algorithmen darauf optimiert wurden, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln. Dazu kommen Online-Glücksspiel, -Games und -Pornografie. Das ist für unser Belohnungssystem alles so viel interessanter als eintönige Schul- oder Bildschirmarbeit und oft nur einen Klick oder Wisch weit entfernt.
Psycho-Aktiv
Und nun erinnern wir uns noch einmal an die Medikamentenverschreibungen: Was für ein Zufall, dass Amphetamin und Methylphenidat vor allem auf das Noradrenalin- und Dopamin-System im Gehirn wirken, was sich psychoaktiv in mehr erfahrener Energie, Motivation und Interesse sowie (bei Müdigkeit) mehr Wachheit äußert – auch und gerade bei langweiligen Aufgaben.
Was für ein Zufall, dass diese Mittel in den 1950ern und 1960ern beliebte „Antidepressiva“ waren und seit den 1930ern vom Militär für die Truppenmoral und das Durchhaltevermögen eingesetzt werden. Und was für ein Zufall, dass sie als Gehirndoping-Mittel vor allem von schlechteren Studierenden und in Situationen mit höherem Konkurrenzdruck eingesetzt werden (Schleim, 2023, Kap. 3).
Aber ja, unsere Psychiaterinnen und Psychiater diagnostizieren eben immer besser. Gott sei Dank! Oder verraten die Diagnosen und Wirkungen der psychoaktiven Substanzen vielleicht doch etwas über die Art von Gesellschaft, in der wir inzwischen leben?
Individuum und Gesellschaft
Aus Sicht der oben dargestellten biologischen Psychiatrie werden hier immer besser Gehirnstörungen identifiziert. Für diese gibt es aber komischerweise keine Gehirn-Tests. Stattdessen werden die vagen und sowohl mit anderen Störungsbildern als auch der Normalität überlappenden diagnostischen Kriterien im Gespräch und mit Fragebögen festgestellt. Zur Unterstützung verwendet man vielleicht noch ein Computerprogramm.
Ziel ist dann die richtige medikamentöse Einstellung, damit die Person ihren Alltag besser bewältigt. Dabei belegt die auch auf tagesschau.de zitierte neue Meta-Analyse dafür nur eine kurzfristige Linderung der ADHS-Symptome. Die Lebensqualität der Betroffenen stieg nicht messbar (Ostinelli et al., 2025).
Die von mir vertretene, eher gesellschaftliche Sicht redet die individuellen Probleme nicht klein, sondern bezieht sie auf die psychosoziale Realität vieler Menschen. Grundvoraussetzung für die Diagnose einer psychologisch-psychiatrischen Störung ist immer das individuelle Leiden und die Einschränkung im Alltagsleben. Diese hängen aber nicht nur vom Einzelnen ab, sondern auch von dessen Umgebung.
Dann verraten uns die Störungsbilder und auch der Konsum von Psychopharmaka – zumindest manchmal – etwas über den Zustand der Gesellschaft. Gerade bei großen Veränderungen in kurzer Zeit sollte man aufhorchen: Die Pandemie war für viele ein großes Stressereignis, dazu kamen die stark steigenden Lebenserhaltungskosten sowie Kriege und Krisen. Eine gemeinsame gesellschaftliche Auszeit zur Verarbeitung des Erlebten gab es nicht, sondern einen großen Druck aufs „Weiter so!“
Dass unter solchen Umständen mehr Menschen an die Grenzen ihrer Konzentration stoßen, ihnen Energie fehlt und die Motivation für die Arbeit oder andere Alltagsdinge nachlässt, überrascht mich als Kognitionswissenschaftler jedenfalls nicht. Aus gesellschaftlicher Sicht könnte man etwas an den strukturellen Ursachen in der Umgebung ändern, unter denen viele Menschen leiden.
Aus dem heute vorherrschenden medizinischen Blickwinkel werden die Probleme vor allem individualisiert. Davon profitieren erst einmal diejenigen, die diese individuellen Therapien anbieten – und behaupten, dass es individuelle biologische Probleme sind.
Literatur
- Bachmann, C. J., Wijlaars, L. P., Kalverdijk, L. J., Burcu, M., Glaeske, G., Schuiling-Veninga, C. C., … & Zito, J. M. (2017). Trends in ADHD medication use in children and adolescents in five western countries, 2005–2012. European Neuropsychopharmacology, 27(5), 484-493.
- Drechsler, R., Brem, S., Brandeis, D., Grünblatt, E., Berger, G., & Walitza, S. (2020). ADHD: Current concepts and treatments in children and adolescents. Neuropediatrics, 51(05), 315-335.
- Ivanova, M, Holstiege, J, Akmatov, M. K., Müller, D., & Kohring, C. (2025). The incidence of AD(H)D spectrum disorders in adults: An analysis of nationwide claims data of the statutory health insurance system in Germany, 2015–2024. Dtsch Arztebl Int, 122, 697–8.
- Ostinelli, E. G., Schulze, M., Zangani, C., Farhat, L. C., Tomlinson, A., Del Giovane, C., … & Cortese, S. (2025). Comparative efficacy and acceptability of pharmacological, psychological, and neurostimulatory interventions for ADHD in adults: a systematic review and component network meta-analysis. The Lancet Psychiatry, 12(1), 32-43.
- Schleim, S. (2022). Why mental disorders are brain disorders. And why they are not: ADHD and the challenges of heterogeneity and reification. Psychiatry 13:943049.
- Schleim, S. (2023). Mental Health and Enhancement: Substance Use and Its Social Implications. Cham: Palgrave Macmillan.
- Schleim, S. (2026). Perspektiven aus der Depressions-Epidemie. Was Depressionen sind und wie man sie behandelt. Hamburg: BoD.
- Thom, J., Jonas, B., Reitzle, L., Mauz, E., Hölling, H., & Schulz, M. (2024). Trends in the diagnostic prevalence of mental disorders, 2012–2022—using nationwide outpatient claims data for mental health surveillance. Dtsch Arztebl Int, 121, 355–62
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Welche Droge wäre denn jetzt die richtige?
Kann doch gar nicht sein, dass es da nichts gibt, was man sich da rein ziehen könnte? Vielleicht mal den Drogenberater des Vertrauens wechseln und dann weiter sehen.
Bei den Ursachen muss man auch auf die Ernährung schauen, massenhafter „Genuss“ von Süßgetränken, Süßigkeiten und hochprozessierten „Lebens“mitteln, womit die Kinder praktisch schon im Mutterleib gefüttert werden, haben eben auch Auswirkungen auf das Mikrobiom, das, wie wir wissen engstens mit unserem Hirn verbunden ist und natürlich so auch die Psyche beeinflusst.
https://www.ndr.de/ratgeber/gesundheit/Ernaehrung-bei-ADHS-Besserung-durch-oligoantigene-Diaet-,adhs158.html
ADHS ist eine Modediagnose.
Die Zeiten sind hektisch, die Einflüsse vielfältig und schnell sowie parallel.
Smartphones, soziale Netze und auch die ständigen Unterbrechungen im beruflichen Alltag verlangen ein gewisses Multitasking.
Es ist super leicht, sich darin zu verzetteln. Den allermeisten ist sicher mit ein paar Achtsamkeit und Konzentrationsübungen, um den eigenen Fokus wieder herzustellen mehr geholfen, als wenn man sie pathologisiert.
Außerdem sollten wir berücksichtigen, daß jede Abweichung von einem immer exklusiveren „Normal“ als Krankheit eingestuft wird. Und anstelle froh darüber zu sein, als „nicht normal“ zu gelten, lassen sich viele tatsächlich einreden, krank zu sein.
Solange die „Medizin“ zusammen mit der Militärtechnik die größte Cash-Cow und somit das effizienteste Machtinstrument ist, wird sich die „Verkrankung“ der Gesellschaft weiterhin beschleunigen.
„SMART new world meets capitalism“ eben.
SMART hier als Akronym für „Self Monitoring Analysis Reporting Technology“.
Erinnert an das Münchhausen-by-proxy-Syndrom, hier mit kapitalistischer Stoßrichtung.
Herr Schleim kann das aufgrund seiner Erfahrung sicher gut einschätzen und
ich neige auch dazu die Quelle der Probleme eher in der heutigen (und auch
früheren) Gesellschaft zu sehen.
Wie Herr Schleim aber auch feststellt ist der individuelle Leidensdruck bei vielen
Menschen aber sehr hoch. Um eine Entlastung bekommen zu können sind diese
aktuelle leider darauf angewiesen eine der genannten Diagnosen zu bekommen.
Anderenfalls gelten sie einfach als arbeitsscheu, faul oder Schmarotzer.
Solange wir also keine ernsthafte gesellschaftliche Veränderung bei dem Umgang
mit Menschen die einfach so nicht mehr weiter können finden muß ich leider
feststellen das diese Diagnosen als letzter Notnagel für diese Menschen unerläßlich
sind.
Wie gesagt leiden viele dieser Menschen schon sehr unter ihrer Unfähigkeit
den an Sie herangetragenen Anforderungen gerecht zu werden. Man sollte vielleicht
mal darüber nachdenken was es über eine Gesellschaft aussagt, wenn das schlucken
einer potentiell mittelfristig nicht unbedenklichen Substanz um zu funktionieren eher
anerkannt wird als der Zustand eines Menschen der an die Grenze seiner Belastbarkeit
gekommen ist.
Schöne neue Welt.
Eine der Ursachen sind die LEBENSMITTEL-PHOSPHATE.
Sie kommen hauptsächlich in Verarbeiteten Lebensmitteln vor – Als Emulgator, Konservierungsstoff et. al. …
iIm Gegensatz zu natürlichen bzw. gebundenen Phosphaten, mit denen der Körper klarkommt – handelt es sich um FREIE PHOSPHATE.
Enthalten in Limos wie RedBull, Monster, Bacardi-Cola – aber auch Beefy und Marmeladen.
Nachgewiesen sind erst mal die Erhöhung des Pulses, was darauf folgend erst zu Gereitztheit und anschließend Mattigkeit führt.
Wenn man also nicht ausgewachsenen Körpern solche Energiebomben zuführt, darf man sich nicht wundern, wenn deren Antrieb erst abnormal hoch – und dann abweisend wird.
Ritalin und Lebensmittelphosphate sind also komplimentäre Güter – und wollen ein gesundes Wachstum.
Zur Freude der Anleger…
Muß man mal darüber nachdenken, wenn wieder ETFs beworben werden… 😉
Entsprechende Diäten haben die Symptome meist gemildert oder beendet.
Einfach googln – die Ärtzte haben sich reichlich dazu geäußert…
“ ADHS LEBENSMITTELPHOSPHATE “
Ich selber habe es vor 30 Jahren aus den Diskussionen zwischen Ärzten und Kriminalisten erfahren. Damals war das noch strittig. In jüngerer Zeit wurden aber signifikante Zusammenhänge nachgewiesen – und weitere Untersuchungen gefordert…
Die billigsten Lebensmittel sind nicht unbedingt die besten.
Wir haben ein 2-Klassen-Futter, um es mal ökonomisch auszudrücken… 😉
Daher der Versuch es genetisch oder soziologisch (wie im vorausgegangenen Artikel…) zu interpretieren…
Letztlich Marketing, da wir hier den Ankereffekt bzw. das Framing sehen…