Hintergrund: Weshalb Russland aus dem Getreideabkommen aussteigt …

 

JCC, OCHA

und was das ZDF daraus macht.

Nach dem Beschuss der russischen Schwarzmeerflotte im Hafen von Sewastopol durch einen ukrainischen Drohnenangriff gab Russland am Samstag bekannt, seine Teilnahme am Getreideabkommen (Black Sea Grain Initiative) auszusetzen, da die Sicherheit der auslaufenden Schiffe nicht mehr gewährleistet sei (Russland kündigt Getreideabkommen auf: Ukrainischer Drohnenangriff auf russische Kriegsschiffe in Sewastopol). Am selben Tag kündigte es an, mit Hilfe der Türkei in den nächsten vier Monaten bis zu 500.000 Tonnen Getreide kostenlos an die ärmsten Länder der Welt zu verteilen. Im September hatte Russland bereits 300.000 Tonnen Düngemittel als Spende für notleidende Länder freigegeben.

Neben der aktuellen Sicherheitslage gibt es noch zwei weitere Gründe, weshalb Russland schon seit Wochen erwägt, das befristete Abkommen nicht zu verlängern.

1. Russland wirft dem Westen vor, die Umsetzung des zweiten Teils des Abkommens zu blockieren, der die freie Ausfuhr von russischen Agrarprodukten und Düngemittel erlaubt. Tatsächlich sitzen in europäischen Häfen Zigtausende Tonnen Düngemittel fest, die in den ärmsten Ländern der Welt dringend benötigt werden. Zwar beziehen sich die westlichen Sanktionen nicht auf die russischen Düngemittel selbst, sie wirken sich aber auf die Schifffahrt aus, sei es durch Sanktionen gegen die Schiffseigentümer oder durch Beschränkungen im Bereich von Zahlungsabwicklung und Versicherungen russischer Fracht. Wiederholt hatte die UNO diesbezüglich ihre Sorge zum Ausdruck gebracht.

Mitte September bietet Russland schließlich an, die in europäischen Häfen festsitzenden 300.000 Tonnen Düngemittel kostenlos an notleidende Länder zu spenden. Erst auf Druck von UN-Generalsekretär Guterres erleichtert die EU dann wenige Tage später die Ausfuhr an Drittländer. Dennoch wird die Ausfuhr von russischem Dünger weiter behindert. Nur ein Beispiel: Seit März sitzt in Riga wegen Sanktionen gegen den russischen Schiffseigentümer eine Ladung von 55.000 Tonnen Düngemittel im Wert vom 17 Millionen US-Dollar fest.

Angesprochen auf die Aussage des russischen Außenministeriums, dass immer noch 80 Prozent der von Russland als Spende für ärmste Länder gedachten 300.000 Tonnen Düngemittel in Europa blockiert werden, antwortet der Sprecher des UN-Generalsekretärs Stéphane Dujarric am 28. Oktober:

„Nun, die Botschaft der UNO ist, dass da ein Zugang zu russischem Dünger notwendig ist.“

Auch UN-Generalsekretär Guterres fordert am selben Tag,  also einen Tag vor dem Angriff auf die russische Schwarzmeerflotte, „beide Vereinbarungen“ des Getreideabkommens umzusetzen und verlangt erneut die „umgehende Beseitigung der verbliebenen Hindernisse für die Ausfuhr von russischem Getreide und Dünger“.

2. Moskau kritisiert zudem, dass entgegen dem ursprünglichen Zweck des Getreideabkommens die ärmsten Länder der Welt am wenigsten davon profitieren. Tatsächlich wird nur der geringste Teil der exportierten ukrainischen Agrarprodukte im Rahmen des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen an notleidende Länder ausgeliefert, wie die bis zum 19. Oktober durch Fettdruck hervorgehobenen Zieldestinationen in der fortlaufend aktualisierten Liste der Getreideinitiative zeigen.

Man könnte auch den Welthunger-Index als Maßstab nehmen, und es würde sich ebenfalls zeigen, dass in die ärmsten Länder der Welt bisher am wenigsten exportiert wurde.

Die UNO, die eher den Erfolg des Getreideabkommens betont, klassifiziert die ukrainischen Agrarexporte dagegen nach dem jeweiligen Bruttonationaleinkommen der Länder und fasst in ihrem Fortschrittsbericht dann Länder mit unterem und unterem mittleren Einkommen zu einer Gruppe zusammen. Auf diese Weise entsteht eine weit gefasste unterste Kategorie, die nicht nur Länder mit Welthunger-Index ‚ernst‘ oder ’sehr ernst‘ (z.B. Somalia, Sudan, Dschibouti, Jemen) umfasst, sondern auch Länder, die laut Welthunger-Index 2022 in den Schweregrad niedrig (Iran, Algerien, Marokko, Tunesien) oder mäßig (z.B. Ägypten, Libanon, Indonesien) fallen.

Das folgende, nicht mehr aktuelle Schaubild stammt vom letzten UN-Fortschrittsbericht Mitte September (Länder wie Algerien, Marokko u.a. sind noch nicht berücksichtigt), vermittelt aber ein gutes Bild von dieser Art der Darstellung:

Dennoch ist auch bei dieser Klassifikationsmethode erkennbar, dass der größte Anteil der ukrainischen Agrarexporte an Länder mit hohem und mittlerem Einkommen im oberen Bereich geht. Die folgende Grafik berücksichtigt den Stand vom 24. Oktober:

Grafik: Statista.com

Allein Deutschland, das Russland im Mai die Führung eines „Kornkriegs“ vorgeworfen hatte, die katastrophalen Folgen am Beispiel einer „verängstigten Mutter aus dem Jemen“ (A. Baerbock) veranschaulicht sowie den ärmsten Ländern Solidarität zugesichert hatte („Wir sehen euch. Wir hören euch. Wir unterstützen euch.“), profitiert vom Getreideabkommen mit 272.277 Tonnen Agrarprodukten mehr als viermal so viel wie der Jemen mit 67.500 Tonnen. (Stand 31. Oktober)

Es gibt also neben der aktuellen Sicherheitslage zwei weitere Gründe dafür, dass Russland aus dem Getreideabkommen aussteigt :

  1. die fehlende Umsetzung des zweiten Teils des Abkommens auch zu Lasten der ärmsten Länder der Welt und
  2. die aus Sicht Russlands unzureichende Beachtung des ursprünglichen Zwecks des Abkommens, die Hungersnot in der Welt zu bekämpfen.

 

Das ZDF heute journal hätte über diese Hintergründe informieren können, aber mit einem informativen Beitrag hielt man sich erst gar nicht auf und setzte dem Publikum am 29. Oktober stattdessen gleich die „Einordnung“ vor:

Screenshot aus dem heute-journal-Video.

Anne Gelinek: „Phoebe, warum steigt Moskau jetzt aus dem Getreideabkommen aus?“

Phoebe Gaa: „Also offiziell heißt es, dass man nach den Vorfällen heute Morgen nicht mehr für die Sicherheit der Frachtschiffe garantieren könnte, aber es dürften noch ganz andere Faktoren eine Rolle spielen. Zum einen das Geld. Wenn Russland den Ukrainern den Getreideexport blockiert, dann nimmt es ihnen eine wichtige Einnahmequelle.

Ein weiterer Faktor ist Druck. Der russische Verteidigungsminister, der hat in der letzten Woche eine wahre Telefonoffensive gestartet….und er hat behauptet, die Ukraine sei dabei, eine schmutzige, also radioaktiv verseuchte Bombe zu bauen, so richtig geglaubt hat ihm das aber niemand bzw. kam sogar der Verdacht auf, dass Moskau quasi eine alternative Erklärung vorbereite für den eigenen Einsatz einer schmutzigen Bombe, das hat dann aber als Abschreckung eben auch wieder nicht so richtig gut funktioniert, deswegen braucht es aus russischer Sicht ein neues Druckmittel. Durch diese Aufkündigung des Getreideabkommens, da droht Millionen Menschen in Afrika, Südasien und im Nahen Osten Hunger!

Das setzt den Westen zum einen moralisch unter Druck, zum anderen könnten dadurch Fluchtbewegungen entstehen, die dann wieder in verschiedenen westlichen Gesellschaften zu Spannungen führen können: Streit, Spannung, Spaltung, das führt oft dazu, dass die Antworten auf russische Aggressionen schwächer ausfallen und das ist ganz im Sinne Moskaus.“

Anne Gellinek: „Danke Phoebe für die Hintergründe.“

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25 Kommentare

  1. ok, nicht so toll wie das ZDF aber hier die TAZ von gestern:

    https://taz.de/Russlands-Aufkuendigung-des-Getreidedeals/!5888789/

    „Russlands Aufkündigung des Getreidedeals: Mit Putin reden nützt nichts – Der Getreidedeal als Türöffner für diplomatische Lösungen? Eine Illusion. Putin ist kein guter Gesprächspartner.“

    von Dominic Johnson, 31.10.22

    Mit Putin verhandeln – diese Forderung geht seit einigen Wochen wieder um. Die Begründungen dafür ändern sich ständig. Mal ist Russlands Armee in der Ukrai­ne zu stark, mal zu schwach. Mal soll man eine Eskalation abwenden, mal ein Deeskalationssignal aufgreifen.

    Was Putin von Verhandlungen hält, hat er an diesem Wochenende bewiesen und das einzige reale Verhandlungsergebnis im Ukrainekrieg aufgekündigt. Am 22. Juli hatten Russland und die Ukraine mit der Türkei und der UNO in Istanbul die „Schwarzmeer-Getreideinitiative“ vereinbart, die die ungehinderte Wiederaufnahme ukrainischer Getreideexporte ermöglichte. Es war ein seltener Lichtblick, der Hoffnungen auf weitere Vereinbarungen in konkreten Teilbereichen nährte – und, so die Hoffnung einiger Diplomaten, vielleicht sogar den Boden für Friedensgespräche ebnen könnte. Der nächste Teilbereich zeichnete sich schon ab: der Umgang mit dem russisch besetzten ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja.

    Aber aus den entsprechenden Bemühungen der Internationalen Atomenergiebehörde wurde nichts. Und jetzt hat Russland auch die Getreidevereinbarung für ausgesetzt erklärt. Das bleibt zunächst folgenlos: Getreidefrachter sind weiterhin unterwegs, die Kontroll­instanz in Istanbul arbeitet weiter. Die Drohgebärde aus Moskau soll lediglich zeigen: Wir können Vereinbarungen jederzeit aufkündigen.

    Klar sollte nun sein: Vertrauen gibt es mit diesen Machthabern in Moskau nicht. Das wusste man eigentlich schon, aber vielleicht verstehen es ja nun auch diejenigen, die „Wir müssen mit Putin reden“ rufen.

    Zugleich gilt: Der Getreidedeal steht noch. Ukrainische Schiffe fahren über rumänische, bulgarische, türkische und griechische Gewässer ins Mittelmeer. Was will Moskau da machen? Getreidefrachter versenken? Um dann die Nato zu zwingen, die Wirtschaftszonen ihrer Mitgliedstaaten zu schützen? Nato-Geleitschutz für ukrainische Frachter wäre die logische Antwort auf eine russische Eskalation im Schwarzen Meer. Vielleicht wäre das ja sogar eine Verhandlungsbasis.

    1. „Was Putin von Verhandlungen hält, hat er an diesem Wochenende bewiesen und das einzige reale Verhandlungsergebnis im Ukrainekrieg aufgekündigt.“

      Das ist dumpfer Müll.

      Selenski hat Anfang Oktober per Dekret, Verhandlungen mit Putin/Russland untersagt/ausgeschlossen.

      1. (und dann scroll mal durch die taz Kommentare….
        und das ist bei fast allen Zeitungen so.
        Zumindest die Mehrheit der Leser, die sich äußern.
        Vernünftige sind wohl eher unter denen, die keinen Bock haben aufs Kommentieren.
        seufz.)

        1. Hab versucht, in der taz darauf hinzuweisen, dass Johnson die Begründung Russlands komplett unterschlägt. Und deshalb so auch zu seinem „dumpfen Müll“ (Fredi) kommen kann. Wurde nicht veröffentlicht. Ich bin taz-Leser und zeitweise auch Abonnent der ersten Stunde. Seit Jahren lese ich sie nur noch, um mich zu gruseln. Die Entwicklung der Grünen von links unten nach rechts oben kann sehr genau am Beispiel der Taz nachvollzogen werden. Mittlerweile toben sich dort immer mehr AutorInnen aus Reihen der Böll-Stiftung und des LibMod aus (die Fücks/Beck-Kader, wie auch Kretschmann und andere alte maoistische und ähnliche Sekten, KBW und so), und deren kranker Russenhass sollte bekannt sein. Johnson gehört zwar nicht dazu, ist aber immer schon ein alter Hau-drauf-und-Schluss gewesen. Hauptsache Knüppel aus dem Sack.

          1. nochmal „seufz“.

            Trotzdem würde ich gerne bei der Redaktionssitzung dabei sein und hören was die gegen unsere Einwände vorbringen könnten.

            Dass Berlin-Korrespondenten vom AA Tag und Nacht von der Regierungspropaganda berieselt werden ist nicht neu und gehört eben dazu.

            Aber eine TAZ sollte was völlig andres sein.

            Ich versuch echt nachzuvollziehen was hier seit Februar passiert ist , aber so ganz steig ich einfach nicht durch….

            Das ist und bleibt geisteskrank.

            p.s. The Intercept hat wieder eine nagelneue Meldung, dass das Department for Homeland Security versucht die Zensur zu institutionalisieren.

            Der 1.Versuch war ja gescheitert. Jetzt kommen sie erneut.

            LibMod wird das mit höchstem Interesse verfolgen.

            (Da ist auch wichtig wie es mit dem Guerot-case weitergeht.)

            „Truth Cops“
            – The Department of Homeland Security is quietly broadening its efforts to curb speech it considers dangerous, an investigation by The Intercept has found.
            Years of internal DHS memos, emails, and documents — obtained via leaks and an ongoing lawsuit, as well as public documents — illustrate an expansive effort by the agency to influence tech platforms.

            https://theintercept.com/2022/10/31/social-media-disinformation-dhs/

  2. Wenn in europäischen Häfen zigtausende Tonnen Düngemittel blockiert werden, wenn die Sanktionen einen Verkauf russischen Getreides verhindern – wer setzt dann auf Hunger als Waffe?

    Ich tue mir diese dämliche und dümmliche Propaganda inzwischen nicht mehr an. Es reicht mir, die Gesichter dieser merkwürdigen Haltungsjournalisten zu sehen, dann schalte ich ab.

  3. Wenn die Narrative in logische Unordnung geraten, meint man einerseits, dass es nichts nützt, mit Putin zu reden, andererseits aber auch gar nicht befugt ist, über den Kopf der Ukraine hinweg zu verhandeln. Diese wiederum hat jeden Deal mit Putin per Dekret ausgeschlossen.
    Wenn so öffentlicher Rundfunk bzw. aufgeklärte Medien berichten, kann man den dreckigsten Bock zum Gärtner machen und man ist dennoch über das Ergebnis weniger entsetzt als in diesen Fällen.

  4. Danke Frau Böhm für die Darstellung der russischen Sichtweise zu der bisherigen Umsetzung des Getreideabkommens und das der Westen seinen Teil des Abkommens wieder mal nicht erfüllt, aber mangelnde Gesprächsbereitschaft Russland in die Schuhe schiebt. Gerade der zweite den Westen betreffende Teil mit den Sanktionen bei Häfen, Schiffen und Versicherungen. Wie ich beim Durchforsten der Leserkommentare im Overton-Forum bemerken durfte, ist dies auch gut informierten Kritikern nicht so klar gewesen. Da kann man sich vorstellen, wie der Wissenstand der Leute vor dem Fernseher mit Tagesschau aussieht. Auch deshalb ist es ein sehr wichtiger Artikel!

    Ich möchte auf ein anderes sehr aktuelles und durch die neuen Atomwaffendoktrien der USA neues Problem in der Agressionslage gegen andere Länder hinweisen.
    Dagmar Henn bespricht dies in ihrer Analyse:
    https://friedliche-loesungen.org/en/feeds/neue-nationale-sicherheitsstrategie-usa-eine-offene-drohung-mit-atomwaffen

    1. Sie drohen also anderen Staaten (China und Russland) an, wenn sie und Verbündete mit ihnen überlegenen Waffen (Hyperschallraketen) angegriffen werden, sie als Antwort Atomwaffen einsetzen.

    2. (Ich weiß nicht, ob ich diese neuen Doktrien richtig interpretiere) Sie drohen anderen Staaten, die sich ihnen nicht unterordnen wollen, mit dem Erstschlag. Hier sind vor allem auch Staaten ohne A-Waffen gemeint, wie Iran vielleicht auch später Saudi-Arabien, Türkei.

    Interpretiere ich mit Punkt 2. zu viel in die neuen Doktrien hinein? Wenn meine Interpretation richtig ist, da würde die USA damit die Welt in eine ungeahnte Atomwaffengeiselhaft nehmen, um die Dollardominanz und ihre unipolare Welt zu erhalten.

    Über eine konstruktive Diskussion darüber, würde ich mich freuen. Meine Antworten dazu können aber erst morgen früh erfolgen.

    1. Schwieriges Thema, das mit den Atomwaffen. Man müsste wohl den Text der Doktrin erst einmal selber sorgfältig analysieren, um zu sehen, ob Dagmar Henn hier möglicherweise bei ihrer Interpretation über das Ziel hinausschießt.

      Andererseits verwundert mich die Aussage nicht. Dazu der Absatz, den auch Henn zitiert:
      In a potential conflict with a competitor, the United States would need to be able to deter
      opportunistic aggression by another competitor. We will rely in part on nuclear weapons to help
      mitigate this risk, recognizing that a near-simultaneous conflict with two nuclear-armed states
      would constitute an extreme circumstance.

      Nach DeepL: „In einem potenziellen Konflikt mit einem Konkurrenten müssen die Vereinigten Staaten in der Lage sein, eine opportunistische Aggression eines anderen Konkurrenten abzuschrecken. Wir werden uns zum Teil auf Atomwaffen verlassen, um dieses Risiko zu mindern, wobei wir uns bewusst sind, dass ein nahezu gleichzeitiger Konflikt mit zwei nuklear bewaffneten Staaten einen extremen Umstand darstellen würde.“

      Liege ich richtig, wenn ich hier den Begriff „opportunistic“ mit „konventionell“ übersetze?

      Der Unterschied zur russischen Nukleardoktrin scheint mir darin zu bestehen, dass Russland den Einsatz von Nuklearwaffen ausschließlich dann vorsieht, wenn das eigene Land/der eigene Staat existentiell bedroht ist. Die USA beziehen das aber auch auf Konflikte anderswo, die sind ja an genügend Ecken der Welt militärisch aktiv.

      Henn bringt es ja sehr anschaulich auf den Punkt:
      „1. Die Vereinigten Staaten gewinnen jeden Krieg, den sie führen.
      2. Sollte 1. einmal nicht zutreffen, greifen sie zu Atombomben.“

      Genau so würde ich den Teil des Dokuments, der mit „2022 Nuclear Posture Review“ überschrieben ist, nach dem ersten flüchtigen Lesen auch zusammenfassen.

      1. Liege ich richtig, wenn ich hier den Begriff „opportunistic“ mit „konventionell“ übersetze?

        Nein, ich glaube das trifft es nicht. „opportunistic“ hat im Englischen auch etwas mit einer sich bietenden Möglichkeit oder Gelegenheit zu tun. „opportunistic aggression“ würde ich daher so übersetzen, dass damit eine Situation gemeint ist in der andere Staaten eine besonders schwierige Lage, in die die USA geraten könnten, ausnutzen würden.
        Das ist aber natürlich keine sehr eng gefasste Definition, was bedeutet, dass die USA sehr viele Dinge schon als „opportunistic aggression“ ansehen könnten, wenn sie es denn wollten.

        1. Hi umbhaki und Two Moon,

          ich bin mir eben auch nicht sicher, wie in diplomatischen Kreisen dies verstanden werden kann.
          Diese „opportunistic aggression“ interpretiere ich eben auch als mehr wie nur ein konventioneller Angriff. Bei dem Größenwahn der USA könnte ich mir vorstellen, dass (nur als Beispiel, will es nicht als realistisch bewerten) sie dies viel weiter fassen und wenn Saudi-Arabien mit im BRICS ist und die BRICS-Staaten vielleicht zusammen mit den SOZ-Staaten einen unabhängigen Währungstopf gebildet haben, wenn dann die OPEC plus nur noch in dieser Neuwährung ihr Öl handelt, dass dies die USA als so eine „opportunistic aggression“ bewertet und alle nicht Atomwaffenstaaten mit einem Atomwaffenangriff droht.

          Das kann auch was ganz anderes sein. Ich weiß es nicht. Aber ihr versteht, was ich hier meine. Wenn es so wäre, wäre das eine ganz neue Ebene der Erpressung.

      2. zur NPR:

        eine kurze, eher nüchtern-enttäuschte Beurteilung, aus strikt amerikanischer Sicht natürlich:

        https://thebulletin.org/2022/10/a-failure-to-review-americas-nuclear-posture/#post-heading

        aber es gibt etwas Hintergrund:

        Biden hat mit der neuen NPR den finanziellen Forderungen des Pentagon nachgegeben.
        Statt eigene Vorgaben durchzusetzen und Versprechen wahr zu machen.

        Ein Aspekt ist die Entlassung seiner Deputy Assistant Secretary of Defense Leanor Tomero, unter Druck des Pentagon, weil sie Reduzieren wollten, wo das Pentagon mindestens den status Quo forderte.

        An allen Ecken und Ecken hört man die Dollar-Noten rascheln.
        Um Strategie geht es oft nur sekundär.

        Auf jeden Fall gilt das für Entwicklungsvorhaben, die selbst von den betreffenden militär. Sektionen für die sie enwickelt werden, als unnötig und unpraktisch eingestuft werden.

        NPR garantiert jetzt wenigstens bis zu $ 1 Bn pro Jahrzehnt für die Pflege und Modernisierung des Atomwaffenarsenals inkl. Anti-Missile Programme.

        Mit diesem finanziellen Kissen lässt es sich als CEO gut schlafen.

        Hier zur Entlassung Tomeros letztes Jahr:
        https://www.politico.com/news/2021/09/21/pentagon-top-nuclear-official-ousted-reorganization-513502

        1. Hi xyz,

          Biden hat ja sehr aktiv im Wahlkampf mit weniger Atomwaffen versucht zu punkten. Nach seiner Wahl wurde davon nichts umgesetzt. Auch war es Biden der zur Verschärfung der Ukrainekrise mit den höheren Beschuss, Selenskyj Ansprache auf der Münchner Sicherheitskonferenz und der Forderung nach Atombewaffnung, Ablehnung des Verhandlungsangebotes, Zulassung der Beerdigung von MINSK 2 beitrug.

          Ich nehme Biden die Kürzung des Atomwaffenprogramms nicht wirklich ab, wie ich Baerbock und Habeck nicht deren wahlkampfversprechen abnehme, dass die beiden sich für die Freulassung von J.Assange einsetzen wollten. Beides entspricht nicht ihrer politischen Agenda.

          Und die Demokraten sind außenpolitisch viel aggressiver als die Republikaner unter Trump.

          1. (ja, ich vermute, das ist wie beim Autorennen von Le Mans, der „Rennstall“ startet mit einem halben Dutzen Wagen, was aber nicht heißt, dass alle dieselbe Chance hätten zu gewinnen, denn der Motor und die Fahreigenschaften werden nur auf die Anforderungen eines einzelnen Fahrers ausgelegt.) – aber wenn schon Wahlversprechen gemacht werden, muss man sie zitieren, um wenigstens den kurzen Moment der Schwäche – demokratische Wahlen – auszunutzen.

            Das mit Tomeros Vita fand ich eher auf anekdotischem Level interessant, weniger struktur-politisch.

    2. Nur zur aktuellen Berichtigung „Hier sind vor allem auch Staaten ohne A-Waffen gemeint, wie Iran vielleicht auch später Saudi-Arabien, Türkei.“
      Also Türkei ist nicht atomwaffenlos, denn sie hat NATO Atomwaffenarsenal stationiert, aber es ist nicht vorauszusagen wie sich dieTürkei im Ernstfall positionieren wird, sind jawohl ein trojanischer Gaul in der NATO, ich tippe mal früher oder später wird sich die Türkei geostrategisch mit der Eurasischen Union arrangieren und der US-EU Kolonialmacht den Rücken kehren..

  5. Kriegsberichtserstattung einer innvolvierten Partei eben.

    Und Dank an Emilie Böhm fürs Zusammentragen der Fakten. Eigentlich die Kernaufgabe von Journalisten…

  6. Artikelhinweis, von Christian Baron im FREITAG, Ausgabe 44, 2022:

    „Was Precht und Welzer von Chomsky lernen könnten – ein Nachtrag zur Debatte
    Medienkritik – Niemand schreibt uns vor, was wir publizieren! So verteidigen sich Journalisten gegen Kritik. Was aber, wenn solche Diktate gar nicht nötig sind?“

    Noch hinter der Paywall. Ich vermute aber er wird irgendwann freigeschaltet werden.

    Baron überträgt, nicht weltbewegend, aber doch mit hilfreichem Überblick, kurz die 5 Filter zum Wirken von Massenmedien, wie von Chomsky/Herman 1988 beschrieben, auf die BRD Medien.

    Und endet gar mit folgendem Absatz (man bedenke es ist die BRD im Jahre 2022), den ich hier doch zitieren möchte:

    „Niemand – so halten es auch Herman und Chomsky in der Erläuterug ihres fünften Filters fest – ist frei von Ideologie. Das ist ein Aspekt, den auch Precht und Welzer in ihrem Buch herausstellen. In den USA ist der ideologische Kitt der Antikommunismus, hier in Deutschland ist es der Glaube an eine Versöhnbarkeit von Kapitalismus und Demokratie. Letzterer äußert sich oft so, dass freiheitliche Werte mit dem Wettbewerbsgedanken verknüpft werden. Kein Beispiel passt hier besser als der aktuelle Großkonflikt um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine – der auch das polarisierende Kernbeispiel des Buches von Precht und Welzer ist. Meist wurde bereits lange vor dem 24. Februar 2022 vorausgesetzt, dass „der Westen“ die kriegerische Politik des Autokraten Waldimir Putin eindämmen müsse und die Ukraine sich im Wettbewerb der Ideen nun einmal dafür entschieden habe, der EU und der NATO beitreten zu wollen. Das ist eine Setzung, die legitim sein kann, aber eben nicht ideologiefrei ist in dem Sinne, wie die deutschen Medien stets zu sein behaupten.“

  7. Die Berichterstattung über alle Vorgänge, die Russland, den Iran oder China betreffen, erzeugen eine „Meinungshegemonie“(Ferhat Neptun), in der es schwierig sein wird, eine Objektivität zu erzeugen. Die meisten Journalisten in Deutschland machen auf mich den Eindruck, ihnen wurde direkt am Hirn ein Abfluss geöffnet, durch den ihre Intelligenz abgelaufen ist. Oder tun sie nur so, als seien sie debil geworden, damit unser „Übervater USA“ nicht mit seinen Besetzten schimpfen muss

    1. Ich erkläre mir die zunehmende Abwesenheit journalistischer Prinzipien, die Verletzungen der Sorgfaltspflicht und das gezielte Weglassen von für die Allgemeinheit wichtigen Informationen nicht mit Unvermögen der schreibenden Zunft.

      Für mich handelt es sich um bewusste Vorgänge. Nicht um Verblendung, nicht um Dummheit. Der, der schreibt, weiß genau, dass er dies für eine bestimmte Sache schreibt und es diese Sache ist, die ihm Ansehen, Sicherheit und ein geregeltes Arbeitsleben verspricht. Vielleicht schreiben einige Journalisten auch unter Druck, auf Weisung von oben und haben nicht den Mut, dagegen zu handeln. Das brächte den Faktor Angst ins Spiel (Angst vor Ansehensverlust, Bloßstellung vor anderen, Arbeitsplatzverlust, berufliche Zukunft usw.).

      Kann es auch sein, dass etliche Journalisten lediglich tief davon überzeugt sind, Teil einer neuen großen Sache zu sein, einer Bewegung, die gut und wichtig ist, weswegen ihnen die glorreiche Aufgabe zufällt, diese Sache öffentlich voranzubringen? Fühlt es sich gut an, Bellizist zu sein? Macht dies das Selbst größer, sprengt es die engen physikalischen Grenzen des Schädels? Passt das auch zum Konsum bestimmter Drogen (von denen ich weiß, dass sie in bestimmten Kreisen recht intensiv konsumiert werden)?

      Kann sein, aber dann können sie ja beispielsweise in die Werbung gehen. Dann sollten sie jedenfalls nicht bei Institutionen beschäftigt werden, die sich aus öffentlichen Geldern finanzieren und der Wahrung der Unabhängigkeit verpflichtet sind. Immerhin sollen diese Institutionen dem Bürger die individuelle Meinungsbildung ermöglichen, nicht ihm eintrichtern. Vermutlich fängt die ganze Misere aber schon ganz oben bei den Führungsköpfen dieser Institutionen an.

      1. Hi Annando,

        was sich in der heutigen Zeit als Journalist bezeichnet und bei den MSM arbeitet, der wurde früher als Missionar und seine Tätigkeit als missionieren bezeichnet. Zum missionieren gehört täuschen, weglassen, schön reden, lügen natürlich dazu. Es gibt Missionare die machen das um zu überleben, in einer anerkannten Gemeinschaft Mitglied zu sein, aus echter Überzeugung, für Reichtum und persönlichen Vorteil. Meistens treffen mehrere Faktoren bei einer Person zu. Am meisten müssen sich die Menschen vor den zu tiefst überzeugten Missionaren fürchten, denn denen sind die Menschen egal und nur ihre Sache zählt.
        Dieser Journalismus verstärkt sich selber, weil er in einer eigenen Echokammer lebt. Jeder klopft den anderen auf die Schulter prostet im zu, beglückwünscht zur nächsten großen Geschichte. Aber es sind Märchenerzähler mit keiner guten Moral für die Zuhörer. Das dabei die größten Schreihälse mit den sonderbarsten Annekdoten an prominentester Stelle plaziert und in ihrer Karriere nach oben geschoben werden, verbessert nicht die Position der zweifelnden Mitläufer.
        Zweifler in den Reihen läßt dieses System nicht lange zu. Diese werden bedrängt, gedemütigt, lächerlich gemacht, ausgegrenzt und zum Schluß verstoßen. Entweder man passt sich an, spielt dieses Spiel mit oder findet sich im gesellschaftlichen, finanziellen Abseits, wozu dann meist auch private Probleme hinzukommen.

        So wie der heutige Journalismus in den Spitzenmedien sich zeigt, unterscheidet er sich nicht von dem Journalismus, welchen ich in meiner ersten Lebenshälfte in der DDR habe kennen lernen müssen.

        Wer sich mit dem (fiktiven) Leben eines Zweifler befasse will, der lese das Buch von Ullrich Plenzdorf „Die Legende von Paul und Paula“ oder schaue sich den ähnlich guten DEFA-Film dieser Geschichte an.

  8. Es scheint mir eine gute Idee, ‚Wirklichkeit‘ gegen die Aussagen vom Mainstream zu stellen. So etwas müsste man sammeln und leicht zugänglich machen.
    Was ich nicht verstehe, ist die Hassliebe vieler zu ihren früheren Informationsquellen. Nostalgie oder der Name, der darüber steht? Wenn es nichts mehr taugt und nicht mehr reparierbar ist, muss man es doch entsorgen. Sonst erstickt man im Müll.

  9. Ich lache derzeit über die vielen 3. Weltkrieg-Witze, die ich überall höre, und dass unsere Genies an der Macht für den Wertewesten immer so empört sind, wenn Russland sich weiterhin wehrt und mit denen reden darf man aber auf keinen Fall!

  10. Ich bin heute bei den NDS auf Jens Berger neuesten Artikel zu den Strompreisen und den Besonderheiten der deutschen Strompreisbildung gekommen und warum diese besonders hoch sind. Ohne meine Vorschlag auf zugreifen, erklärt J.Berger sehr gut, warum der Strompreis zu Lasten der privaten Endverbraucher aber sehr positiv für die „Über“gewinne der Stromkonzerne ist.

    https://www.nachdenkseiten.de/?p=89917

    Jens Berger hat sich als Journalist im letzten dreiviertel Jahr richtig in die deutsche Problematik Energie hinein gearbeitet und hat mehrere gut verständliche Artikel dazu geschrieben. Diese ganze Preispolitik in diesem Bereich egal bei Strom, Öl und Gas dient nur den großen Konzernen und könnte leicht und sinnvoll reformiert werden, damit der Verbraucher und der Wirtschaftsstandort Vorteile hat, ohne dass die Energiekonzerne gleich Pleite gehen.

    Hier ist dazu noch eine Podcastempfehlung:
    Gasmangel – der Wahnsinn nimmt seinen Lauf | Jens Berger
    https://www.youtube.com/watch?v=SnPF4qnO7PM

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