
Alle hatte schon frohlockt und das Ende der seit fast 20 Jahren regierenden „Bewegung für den Sozialismus“ (MAS) vorausgesagt. Endlich würde sich das rohstoffreiche Land im Herzen Südamerikas wieder zum Internationalen Währungsfonds (IWF) und den Bergbaukonzernen zurückkehren. Die zahlreichen Meinungsumfragen waren sich ganz sicher, dass aus dem Urnengang zwei neoliberale Kandidaten mit jeweils knapp 30 % der Stimmen als Gewinner hervorgehen würden: der ultrarechte Jorge “Tuto” Quiroga, einst Vizepräsident des Diktators Hugo Banzer, sowie der ebenfalls rechte Unternehmer (Burger King) Samuel Doria Medina, derzeitiger Vizepräsident der Sozialistischen Internationalen. Doch es kam anders. Der Außenseiter Rodrigo Paz, ehemaliger Bürgermeister von Tarija, erhielt 32,2 % und wird in zwei Monaten in einer Stichwahl gegen Quiroga antreten. Und wie diese ausgeht, ist nicht entschieden.
Zwar konnten, wie vorausgesagt, die beiden dem MAS nahestehenden Kandidaten zusammen nur 11,4 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, aber der prophezeite radikale Rechtsruck blieb aus. Ein Fünftel aller Wähler wählte ungültig, wozu der ehemalige MAS-Anführer Evo Morales und etliche linke Parteien aufgerufen hatten.
Der Sieger der ersten Wahlrunde ist in Spanien geboren, wo die Familie Paz im Exil lebte. Sein Onkel Néstor war bei der Guerilla ELN, sein Vater Jaime hatte den MIR gegründet, die Bewegung der Revolutionären Linken, ursprünglich Mitglied der Sozialistischen Internationalen. 1978 kehrte die Familie nach Bolivien zurück. Zwei Jahre später überlebte Jaime Paz einen Flugzeugabsturz, hinter dem Attentat hatte wohl das Militärregime gestanden. Später wurde er Präsident. Rodrigo trat in die Fußstapfen seines Vaters und wurde Bürgermeister von Tarija, einer Andenstadt auf knapp 2.000 Meter Höhe, die sehr europäisch wirkt, mit einem milden Klima. Jahrelang wollte sich die Provinz vom restlichen Bolivien unabhängig werden, allerdings hatte sie wenig gemein mit den Separatisten der Provinz Santa Cruz, wo die Viehzüchter und die Drogenmafia das Sagen haben.
Rodrigo Paz und seine Christdemokratische Partei predigen den Volkskapitalismus („capitalismo popular“) und lehnen eine Rückkehr zum IWF ab. Ihren kometenhaften Aufstieg verdanken sie dem Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten, Edman Lara, einem ehemaligen Polizisten, der die Korruption in den eigenen Reihen öffentlich angeklagt hatte und deshalb seinen Job verlor. Er wurde bei TikTok ein Star und das Gesicht einer neuen linken Mitte, die auf Reformen setzt.
Das bolivianische Wunder und der MAS
Evo Morales hatte 2006 die Wahlen gewonnen und wurde weltweit als der „erste indigene Präsident“ gefeiert. Er gilt als Schöpfer des “milagro boliviano”, des bolivianischen Wunders, da das Land wuchs, die allgemeine Armut von 60 auf 36% und die extreme Armut von 38 auf 11% fielen. Eine neue Mittelschicht entstand, Leute mit indianischen Gesichtszügen oder mit traditioneller Kleidung wurden nicht mehr diskriminiert und eroberten die Bildschirme des Fernsehens und des öffentlichen Lebens.
Bis 2019 blieb Morales Präsident, allerdings stieg ihm seine Macht zunehmend zu Kopfe. Er brachte wegen seiner autoritären Entscheidungen nicht nur innerparteilich viele gegen sich auf. Vorwürfe wegen Korruption und Verschwendung öffentlicher Gelder kamen auf, immer wieder Gerüchte von Sex mit Minderjährigen. Eine Volksabstimmung untersagte ihm 2016 eine Verfassungsänderung, die seine Wiederwahl ermöglicht hätte. Morales setzte sich über dieses Referendum hinweg und kandidierte trotzdem. Bei den Wahlen 2019 soll manipuliert worden sein. Es kam zu einem Aufstand, Morales floh nach Mexiko, Putschisten zogen in den Regierungspalast ein. Ein Jahr später gewann der frühere Wirtschaftsminister von Morales, Luis Arce, mit 55 % die Wahlen. Doch den Niedergang des MAS konnte er nicht aufhalten. Er trat bei den jetzigen Wahlen nicht mehr an, seine Popularität ist auf unter zwei Prozent gefallen. Das Land befindet sich in einer tiefen Wirtschaftskrise, und der MAS ist zerstritten.
Boliviens Volkswirtschaft basiert auf dem Export von Gas, das um die 6 Milliarden Dollar pro Jahr einspielt. Doch die Reserven fielen, da Morales kaum neue Vorkommen erkundete. In seinen fast 15 Jahren Regierungszeit nahm er nur vier neue Explorationen in Angriff, allesamt ohne Erfolg. Arce führte innerhalb von 5 Jahren 44 Explorationen durch, 18 davon erfolgreich.
Allerdings wird es noch Jahre dauern, bis diese neuen Vorkommen ausgebeutet werden können und die Staatskasse füllen. Die Exporte sind zurückgegangen, Bolivien muss Treibstoff importieren. Lange Schlangen bilden sich vor den Tankstellen, manchmal müssen die Autofahrer tagelang warten, um ihren Tank zu füllen. Die Inflation betraf im letzten Jahr 25 % jährlich, so hoch wie seit 2008 nicht mehr; die Preise für die Lebensmittel galoppieren.
Zwischen 2006 und 2024 verdreifachten sich die Einnahmen des Staates, erklärt der Ökonom Julio Linares, “aber die Ausgaben stiegen um 700 % an, die Auslandsschulden sogar um fast 800 Prozent“. Das relativiert deutlich das „bolivianische Wunder“. Es sei zwar richtig, dass während der MAS-Regierung drei Millionen Bolivianer aus der Armut in die Mittelschicht gelangten, allerdings war der Maßstab nur das Einkommen. “Man hätte auch andere Faktoren berücksichtigen müssen, wie den Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem“, so Linares. „In diesen Bereichen hat es kaum Fortschritte gegeben, und wer in einem Krankenhaus behandelt werden will, muss schon früh morgens dort anstehen, und für eine dringend notwendige Operation muss er zwei oder drei Monate warten.“
Mit seinem einstigen Wirtschaftsminister hat sich Evo Morales zerstritten, da er unbedingt wieder zurück zur Macht wollte. Aber von dort ist er weiter entfernt als je zuvor. Inzwischen wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen, wegen Unzucht mit Minderjährigen; und er fühlt sich natürlich als Opfer. Er hat sich in den Chapare zurückgezogen, in das Koka-Anbaugebiet zwischen Cochabamba und Santa Cruz, wo er sich von bewaffneten Kokabauern beschützen lässt. Wie lange er dort noch verharren wird, ist fraglich, denn nicht nur die rechten Parteien fordern den Vollzug des Haftbefehls. Er hat es sich auch mit den sozialen und linken Bewegungen verscherzt, die ihm „Verrat“ vorwerfen. Außerhalb des Chapare ist sein Einfluss auf das politische Geschehen gering. Als er zu einem Marsch auf La Paz aufrief, um gegen seinen Ausschluss von den Wahlen zu protestierten, kamen statt der angekündigten Hunderttausend nur um die hundert Demonstranten.
Und auch die Tatsache, dass jetzt 19 % der Wähler ungültig gewählt hatten, lässt vor allem auf einen großen Unmut der Bevölkerung gegenüber der (linken) politischen Klasse schließen. Morales war nicht der Einzige, der zum Abgeben eines leeren Wahlzettels aufgerufen hatte. Auch die Trotzkisten mobilisierten ihre Anhänger zum ungültig Wählen. Aufgrund eines undemokratischen Wahlgesetzes, das 2018 von Morales verabschiedet worden war, um sich weiter links stehende Konkurrenten vom Halse zu halten, konnten sie am jetzigen Urnengang nicht teilnehmen. „Morales wurde inzwischen Opfer seines eigenen Wahlgesetzes“, schrieb die Revolutionäre Arbeiterliga schadenfroh in einem Flugblatt.
Morales hatte seine Karriere innerhalb des MAS nicht als Kämpfer für die Rechte der Indigenen gemacht, sondern als Anführer der Gewerkschaft der Kokabauern des Chapare. Er selbst spricht nur schlecht Aymara oder Quechua und liest seine Reden in der Indianersprache vom Blatt ab. Dass Bolivien mit seinen 36 Nationen heute eine „plurinationale Republik“ ist, ist nicht das Ergebnis des MAS oder von Morales, sondern eines jahrzehntelangen Kampfes der indigenen Völker. Und diese sind von der Politik von Morales mehr als enttäuscht. So ließ er es zu, dass die auf eigene Rechnung arbeitenden Bergarbeiter in geschützte Indianer-Gebiete eindrangen und mit Quecksilber die Flüsse vergifteten.
„Die Integration ist ein Produkt der sozialen Kämpfe, und auf diesen fahrenden Zug sprang der Koka-Gewerkschafter einfach auf“, sagt der Soziologe José Antonio Martínez. “Der erste große Marsch zur Rückeroberung ihrer Territorien war 1990, 16 Jahre vor dem Wahlsieg von Morales. Die Verfassungsreform von 1994 hatte die Rechte der Indigenen bereits festgeschrieben. Das Einzige, was Evo tat, war die Ausrufung der plurinationalen Republik, in der er die UNO-Erklärung von 2008 über die Rechte der indigenen Völker umsetzte“. Martínez: „Das sogenannte Gesetz der Madre Tierra, der Mutter Erde, ist hübsch, aber in der Praxis haben die 20 Jahre MAS-Regierung die Umweltzerstörung fortgesetzt. In den letzten 6 Jahren verloren wir 20 Millionen Hektar Urwald aufgrund der von den Großbauern verursachten Brände. Wo war denn da die Verteidigung von Mutter Erde?“
Rufo Calle, der frühere Anführer der Landarbeitergewerkschaft (Csutcb), wirft Morales „Autoritarismus, Narzissmus und Gewalt vor” sowie schwerwiegende Unterlassusngen im Bereich des Bergbaus. Morales habe von der Substanz gelebt, auf die Einnahmen aus dem Geschäft mit Kokain vertraut, und nicht eine einzige neue Erdölquelle erschlossen. „Er hat den Reichtum der Bolivianer verschleudert. Auch im Jahr 2019, als die Putschisten über 80 Arbeiter auf den Straßen ermorden ließen, setzte er sich nach Mexiko ab.“ Vermutlich wird er das wieder tun, denn mitten im Dschungel des Chapare liegt ja der einst von den USA errichtete Flughafen Chimoré. Das Pentagon wollte dort einen Stützpunkt errichten und baute eine 4000 Meter lange Landebahn. Für eine normale Passagiermaschine wäre die Hälfte ausreichend gewesen, aber eine Herkules braucht nun mal eine längere Piste. Morales hatte diesen Flughafen sogar noch ausbauen lassen; wohl informierten Kreisen zufolge starten von dort regelmäßig die Maschinen nach Sinaloa und Jalisco, vollgepackt mit dem einzigen Exportgut, das der Chapare produziert.
Am 19. Oktober wird die Stichwahl zwischen dem Mitte-Links Politiker Rodrigo Paz und Quiroga stattfinden. Der unterlegene Unternehmer Doria Medina will Paz unterstützen, aber viele seiner Wähler werden vermutlich ihr Kreuz bei dem Ultrarechten malen. Ob das ausreicht, um das Land wieder heim ins Reich des IWFs und der Bergbaukonzerne zu führen? Oder werden sich die sozialen Bewegungen am Ende doch für das kleinere Übel entscheiden, weil sie sich dort bessere Bedingungen für ihren Kampf versprechen? Fest steht auf jeden Fall, dass diese Bewegungen nach wie vor in der Lage sind, die Menschen auf die Straße zu bringen und soziale Errungenschaften zu verteidigen.
Zu dem was in Gaza passiert:
In den letzten vierundzwanzig Stunden sind fünf Menschen an der Hungersnot und an Mangelernährung gestorben.
https://youtube.com/shorts/BJ1JQ3CiKC0?si=hX69NG-smuAkIVVX
🐟
Dafür ist in der Hauptsache ein korrupter Massenmörder verantwortlich, mit dem Deutschland noch ein paar brandheiße Eisen in Form hochlukrativer Waffendeals am Start hat. Bevor die platzen, wird Bibi im Probelauf noch der Karls- oder Friedensnobelpreis verliehen.
Trump oder Bibi haben damit offenbar kein Problem. Völkermord ist für diese Leute offenbar der Normalfall. Auf der anderen Seite ist es auch verhängnisvoll, sich emotional zu stark darauf einzulassen. Du kannst kaum etwas dagegen tun und es es lässt dich in einer Art Schockstarre zurück. Mir tut es in solchen Situationen gut, einfach andere Situationen zu suchen, die mich nicht derart belasten. Außenaktivitäten sind hilfreich – irgendwas mit Joggen, Nordic Walking, Radfahren, gesunde Ernährung, Hauptsache weg mit den bösen Leuten und ihren bösen Gedanken.
Vielen Dank Frau Weber für diesen äusserst informativen Artikel.
Was für eine erfrischende, untendenziöse, humanistische Berichterstattung.
Es wäre schön, wenn die kreisenden IWF-Geier und ihre Anhängsel in Bolivien nicht zum Zuge kommen würden. Eigentlich war ich versucht zu fragen, ob es in Lateinamerika kein Land ohne korrupte ReGIERung gibt, allerdings, wenn ich mir die EU und ihre Mit(und ohne)gliedsstaaten, Deutschland vorneweg, betrachte, dürften die lateinamerikanischen Korruptistans dagegen ziemlich kleine Fische sein.
Bolivien ist gar nicht so schlecht für Totalverweigerer*innen. Wenn ich Gaby heißen könnte, würde ich mich dort niederlassen und eine Autorinnendynastie gründen, nein – Bolivien ist ist das vielleicht letzte tropische Paradies dieser Welt und daher wird es auch nicht lange dauern, bis unsere Kapitalismusmonster es in einen rauchenden Trümmerhaufen verwandelt haben. Für’s erste wäre Bolivien total ok, aber nur solange, bis es von Donald mit Golf- und Militärflugplätzen zugeschwänzelt wird. Schlagen wir uns also erst mal durch das bolivarische Unterholz und versuchen, dort Kontakt zu kapitalismuskritischen Keimzellen aufzunehmen. Das wird mit Sicherheit eine anspruchsvolle Aufgabe.
Ich hielt schon wochenlang in einem Schleimtümpel im Vietkong aus, als mir hunderte Blutegel den Mark aus den Knochen saugten. Heute bin ich nur noch ein Schatten meiner selbst und würde viel lieber irgendwo am Oberlauf eines Flusses siedeln, den nie das Auge eines Nordamerikaners sah. Das gesamte Areal ist aber ein Urlaubsparadies. Wenn die Trumpisten mit ihrer eigenen Umwelt durch sind, verwüsten sie andere Kontinente.
Ich mag Frau Weber, Gaby und fühle mich ihr emotional auf das heftigste verbunden aber Gaby würde daraufhin ja auch nicht einfach sagen: Ok, komm vorbei nach Bolivien und mach mir ein paar Kinder. Diese Art von Fans kann sie vielleicht aktuell am wenigsten gebrauchen. Ich verstehe das und daher haben wir aktuell auch keinerlei Beziehungsprobleme.
Che‘ Guevara ist schon 1967 an Bolivien gescheitert‼️
Dann eben stellvertretend – du kannst dich sehr wohl auch in Dunkeldeutschland noch in eine Flagge hüllen. Ich bevorzuge in letzter Zeit gedeckte Brauntöne. Das ewige schwarz blau gold geht mir so tierisch auf den Sack, dass ich mein Nachtlager lieber mit einem wütenden Jaguar teilen würde aber diese Tiere stehen unter Naturschutz. Was bleibt mir also anderes übrig, als mich an alles andere zu halten, dem in den arktischen Terretorien der Status eines kanadischen Elches zugesprochen wurde.
Mit grosser Wahrscheinlichkeit der informativste Artikel zum Thema im gesamten deutschen Sprachbereich.