Von Kriminalität, Ethnie und Demokratie

Schon nicht mehr Innenminister und Vize-Regierungschef Arje Deri. Bild: Israelisches Innenministerium

Der gegenwärtige israelische Innen- und Gesundheitsminister Arje Deri darf seit dieser Woche nicht mehr seine Ämter bekleiden. Was hat das mit seiner Abstammung zu tun?

 

Der Oberste Gerichtshof Israels hat diese Woche beschlossen, daß Arje (Machluf) Deri, Führer der Schas-Partei, der die Ämter des Innen- und des Gesundheitsministers bekleidet, nicht als Minister nominiert werden dürfe. Grund dafür ist, dass Deri vorbestraft sei. Bereits im Jahr 2000 saß er wegen Korruption im Gefängnis, was ihn aber nicht hinderte, nach einiger Zeit wieder in die Politik einzusteigen und seine Führungsposition erneut einzunehmen.

Er ist dann aber rückfällig geworden und wurde 2021 nochmals wegen Steuerhinterziehung verurteilt. Gleichwohl musste er nicht ins Gefängnis, weil er sich bei einer Vergleichsvereinbarung mit der Staatsanwaltschaft verpflichtet hatte, sich für immer aus der Politik zurückzuziehen. Er ist dann aber wortbrüchig geworden, bekleidete weiterhin sein Parteiamt, und als bei der neuen Regierungskoalition Netanjahus, in welcher Deri eine prominente Stellung einnahm, er sich wieder zum Minister nominieren ließ, begründete er seinen Anspruch auf das Amt damit, dass er bei der Vergleichsvereinbarung nicht eines Vergehens von “moralischer Verderbtheit” beschuldigt worden sei.

Das Attribut der “moralischen Verderbtheit” wurde ihm allerdings nur deshalb erspart, weil er eben versprochen hatte, sich nicht mehr politisch zu betätigen. Das war der Deal. Dem Obersten Gerichtshof wurde also aufgetragen zu entscheiden, ob Deri juristisch zum Ministeramt zugelassen werden dürfe. Und die Entscheidung fiel, wie gesagt, diese Woche.

Für Netanjahu ist das ein Unglück. Er muss seine Koalition wahren, um das Justizsystem zu schwächen und die Gesetzgebung so nach seiner Willkür zu beugen, dass sein eigener Prozess wegen Korruption, Veruntreuung und Betrugs annulliert werden kann. Aber ohne die Schas-Partei kann es keine Koalition geben. Entsprechend hat sich Netanjahu unmittelbar nach Verkündung des gerichtlichen Entscheids bei Deri eingefunden. “Wenn mein Bruder in Not ist – komme ich zu ihm”, sagte er. Es muss noch abgewartet werden, ob die beiden fintenreichsten Politiker im israelischen Parlament, auch einen gangbaren Weg aus dieser Misere finden werden. Gravierender ist die Frage, ob die Schas-Partei ohne Deri in der Koalition bleiben wird. Denkbar wäre, dass Deri seiner parlamentarischen Ämter enthoben, aber die Partei weiterhin “von außen” leiten wird, bis vielleicht die juristische Grundlage für seinen Neueinstieg in die Politik wiederhergestellt werden kann.

Das würden seine Wähler allesamt wollen. Deri ist korrupt, aber auch charismatisch. Seine Anhänger schwören auf ihn und sind ihm fanatisch ergeben. Wie kommt das? Man weiß ja, dass der Mann das Gesetz wiederholt übertreten hat und, wie gesagt, auch vorbestraft ist. Wie kommt es, dass er auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes selbstbewusst (sein Publikum anfeuernd) mit dem Satz reagieren konnte: “Wenn sie uns die Tür verschließen, werden wir durchs Fenster reinkommen. Wenn sie uns das Fenster verschließen, werden wir die Decke durchbrechen“?

Tiefverwurzeltes Ressentiment der meisten orientalischen Juden der Schas-Klientel gegenüber der “aschkenasischen Hegemonie”

Schas ist die in den 1980er Jahren gegründete Partei der orthodoxen orientalischen Juden Israels. Ursprünglich war sie Teil der aschkenasischen Orthodoxie, welche den zionistischen Staat aus theologischen Gründen nicht bzw. nur beschränkt anerkennen darf, weshalb sie über Jahrzehnte keinen Ministerposten annehmen wollte (wohl aber den Vorsitz des Finanzausschusses, weil dieser den Zugang zu Finanzressourcen verschaffte). Diese fundamentale Einstellung änderte sich, als die Schas-Partei von der aschkenasischen Orthodoxie beauftragt wurde, offiziell in die israelische Politik einzusteigen, um Macht zu generieren.

Unter ihrem hochverehrten geistigen Führer Rabbi Ovadia Josef errang die Partei sehr bald große Wahlerfolge. Nach Ovadia Josefs Tod übernahm Arje Deri die Parteileitung und blieb bis zum heutigen Tag ihr unangefochtener Führer. Schon Ovadia Josef brachte die orientalisch-jüdische Glaubensgemeinschaft mit der Parole “Der Krone ihren früheren Glanz zurückgeben” konsolidierend hinter sich. Deri kann nicht die religiöse Gelehrtheit und Kompetenz aufweisen, die seinen hochverehrten Lehrmeister kennzeichnete. Seine Stärke lag (und liegt) ganz woanders: in der politischen Praxis, die er mit großer Begabung und bemerkenswerter Gerissenheit betreibt.

Dabei hat er sich vor allem eines psychosozialen Moments bemächtigt und es – ideologisch transformiert – zu eigen gemacht: das tiefverwurzelte Ressentiment der meisten orientalischen Juden der Schas-Klientel gegenüber der “aschkenasischen Hegemonie”. Gemeint ist damit nicht etwa das Religionsestablishment der orthodoxen aschkenasischen Juden (vor diesem bezeigt man höchsten Respekt und würde sich nie einfallen lassen, seine Autorität zu hinterfragen). Das Ressentiment bezieht sich auf das säkulare aschkenasische Establishment des zionistischen Staates, von dem man sich schon seit den 1950er Jahren diskriminiert und gesellschaftlich wie kulturell herablassend behandelt wähnt.

Sozial-ökonomisch gehört die Klientel der Schas-Partei in der Tat den unteren Sozialschichten Israels an, was allerdings nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass sie sich einer bildungsfernen, religiösen Lebenshaltung verschrieben hat, mithin die damit einhergehende Armut als etwas ansieht, das ihr “angetan” worden ist. Die Schas-Führung hat sich nie wirklich bemüht, diesen Grundzustand zu verändern. Stattdessen schürte man stets das Ressentiment, teilweise auch einen regelrechten ethnisch forcierten Hass gegenüber den “aschkenasisch-weißen Hegemonie”.

Der historische Wahrheitskern dieses Grundgefühls liegt wohl nicht zuletzt darin, dass in den Anfangsjahren des jüngst gegründeten Staates, als die großen Einwanderungswellen der Juden aus den arabischen Staaten (vor allem aus dem Jemen, dem Irak und aus Marokko) ankamen, in der Tat eine gewisse Überheblichkeit der aus Europa stammenden Alteingesessenen gegenüber den aus den islamischen Ländern Angekommenen bemerkbar war. Neben ehrlichen Versuchen, ihnen bei der Integration im neuen Land zu helfen, blieb es nicht aus, dass sich eine kulturelle, oft auch bildungsmäßige Diskrepanz im Umgang miteinander manifestierte.

Verbrüderung der Schas- mit der Likud-Partei

Die damaligen Verletzungen verblassten zwar allmählich im Laufe der Zeit, die Wunde verheilte aber nie ganz, und die Kränkung wurde immer wieder neu angefacht. Eine entscheidende Wende trat im Jahr 1977 ein, als Menachem Begin und die von ihm angeführte Likud-Partei an die Regierung gelangten. Begin schaffte es – mit einiger polemisch-manipulativer Verve – den orientalischen Juden ein politisches Zuhause zu verschaffen. Dass die Führung dieser Partei über Jahrzehnte sich aus der aschkenasischen Elite zusammensetzte, änderte nichts daran, dass die orientalisch-jüdischen Anhänger der Partei in ihr ihre politische Identität gewannen, mithin die Steigerung ihres Selbstwertgefühls erfuhren. Der perennierende Hass auf die “aschkenasischen Linken” der Arbeitspartei verdinglichte sich nach und nach zum prägnanten politischen Code der orientalischen Juden.

Die Schas-Partei bot dann, wie gesagt, auch den orthodoxen orientalischen Juden ein Zuhause. Die “Verbrüderung” mit der Likud-Partei war da nur zu “natürlich”, insofern man sich im ethnischen Ressentiment eins wusste. Netanjahu hatte ein leichtes Spiel, seine eigenen Likud-Anhänger, aber eben auch die Anhänger der Schas-Partei manipulativ davon zu überzeugen, dass es eine aschkenasische Justiz-Elite sei, die ihm, ihrem politischen Oberhaupt, und Arje Deri, ihrem orientalischen Parteiführer, an den Kragen wolle. Arje Deri hat vor einigen Jahren seine arabisch-jüdische Abstammung durch die Hinzufügung seines ursprünglichen Namen “Machluf” als seinen Mittelnamen zu zelebrieren begonnen. Und selbst der nun wirklich durch und durch aschkenasische Netanjahu wusste vor einiger Zeit zu erzählen, dass man sefardische Vorfahren in seinem Familienstammbaum gefunden habe, er also auch orientalische Gene aufweise.

Dass Netanjau und Deri Kriminelles begangen haben, mithin gerichtlich belangt werden mussten und müssen, spielt dabei keine Rolle. Sich ganz und gar der Konspirationstheorie verschreibend, dass das “aschkenasische Justizsystem” orientalisch-jüdische Politiker verfolge, hat man sich nunmehr das Narrativ angeeignet, dass das Justizsystem sich “antidemokratisch” gebärde, indem es die Wahlentscheidung von 400.000 Schas-Anhängern nicht respektiere: Nicht das Korrupte des Wiederholungstäters Arje Machluf Deri stehe hinter der Entscheidung, ihm das Anrecht auf den Ministerposten zu verwehren, sondern dass er marokkanischer Abstammung sei.

Ähnliche Beiträge:

5 Kommentare

  1. Klasse! Sehr schön.
    Diesen Satz sähe ich gern weiter erklärt:

    Der perennierende Hass auf die “aschkenasischen Linken” der Arbeitspartei verdinglichte sich nach und nach zum prägnanten politischen Code der orientalischen Juden.

    Weiter oben im Text hatte Moshe eine Differenz und Übergang von „Ressentiment“ zu „Hass“ ohne weitere Erklärung gesetzt. An der zitierten Stelle wäre folglich zu benennen, was die „Verdinglichung“ repräsentieren soll, dann wüßte man, was Moshe adressiert – nicht nur DASS er die Vorgänge mit solcher Zuspitzung einer Bewegung beschreiben und erklären will.

  2. In den ‚Medien‘ wird spekuliert was diese Regierung nun wohl macht mit der Ukraine Krise.
    Es muss ja einen Hintergrund geben, warum, vor allem im Westen, erfolgreiche ‚Kriminelle‘ in die aktive Politik gehievt werden. Und weil Amerika der substantive Verbündete ist, frage ich mich, warum wurde mal wieder eine Basis gedrohnt?
    Eines dürfte sicher sein, die USA werden als heilsbringer veranschlagt, aber es sind die Russen die die Sicherheit von Israel gewährleisten. Die prozentualen meisten jüdischen ‚Expatriaten‘ Glauben kommen aus Russland und die Ukraine wird bald leer sein mit ihren männlichen Ukrainer. Ein Staat ohne ‚einen‘ Ukrainer, die alten sterben weg und die jungen die konnten sind weg.
    Diese israelische Regierung steht mal wieder vor Neuwahlen! Die Proteste vom vergangenen Wochenende spricht eine Sprache für sich selbst…

    1. „vor allem im Westen, erfolgreiche Kriminelle …“
      Gilt das wirklich nur v.a. für den Westen? Informieren Sie sich! Es gilt fast immer und fast überall.

      1. Man braucht nur einen Schäfer mit einem Rudel Hunde um die Schafherde zu kontrollieren. Die letzten ’80‘ Jahre sind gut dokumentiert, daraus lässt sich vieles ablesen.
        Wenn ich ‚Westen’schreibe, dann liegt das an der moralischen Messlatte und diese moralischen Werte gilt es diese zu überdenken. Auch sollte man sich Gedanken machen inwieweit ist man Opfer oder Täter?

  3. Es gibt so viele Fälle fanatischer Ergebenheit von Menschen einem Verbrecher gegenüber (vor allem, wenn er ein politischer Verbrecher war oder ist), dass es müßig ist, sich darüber zu wundern. Ob Hitler, Stalin (der Millionen umbringen ließ, und an dessen Sarg trotzdem Millionen von Menschen heulten) oder unzählige weitere. Es zeigt nur den janusköpfigen Charakter der Menschheit. „Charismatisch“ ist sowieso ein sehr zwielichtiger Begriff.

    Erschreckend ist aber, dass es in der israelischen Politik so wenig halbwegs ehrliche Leute nach oben schaffen. Ist ja wie in der EU!?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert