Vernichtungskrieg und Entführte

Bild: Oren Rozen/CC BY-SA-4.0

Die israelische Koalitionsregierung steht vor einem Dilemma. Kaum zu glauben, dass es für sie dieses Dilemma tatsächlich gibt.

 

Es ist schwer, einem Außenstehenden das Dickicht des Problemkonglomerats, dem Israel gegenwärtig ausgesetzt ist, zu vermitteln. Auch für den israelischen Bürger sind die Wirkzusammenhänge nicht leicht durchdringbar. Zwei zentrale Koordinaten dieses anomischen Zustands seien hier dargelegt.

Zunächst und vor allem – Israel führt seit Monaten einen Krieg, dem es zwei Ziele gesetzt hat, die sich mittlerweile immer mehr als miteinander unvereinbar erweisen: Zum einen soll die Hamas militärisch wie politisch eliminiert werden; zum anderen sollen die am 7. Oktober von der Hamas entführten Zivilisten und militärischen Gefangenen befreit werden. Man hat es bislang bei einem ersten Deal geschafft, 106 Entführte freizubekommen; 136 befinden sich weiterhin in Hamas-Gefangenschaft.

Die Hoffnung, die Entführten durch Kommandounternehmen zu befreien, wie es seinerzeit in Entebbe geschah, haben sich sehr frühzeitig zerschlagen. Daher legte sich die Regierung und das Militär auf das Axiom fest, dass die aggressiv gesteigerte Aktion der Armee im Gazastreifen die Aussicht auf Befreiung der Entführten steigere. Nach monatelangem Warten zeigt sich aber die Vergeblichkeit dieser Strategie – mit jedem vergehenden Tag erhöht sich die Bedrohung des Lebens der Gefangenen; man weiß bereits von über 30 Toten unter ihnen. Von Anbeginn übten die Angehörigen der Entführten massiven Druck auf die Regierung, einen Deal zur Befreiung der restlichen Geiseln zu fördern. Sie erfahren dabei große Unterstützung seitens vieler in der israelischen Bevölkerung. Aber das genau generiert auch die Zwickmühle für die Regierung. Denn insofern ein solcher Deal vonseiten der Hamas an Einstellung der Kampfhandlungen und Zulassung humanitärer Hilfe für die Gaza-Bewohner gekoppelt ist, steht ein solches Abkommen im Gegensatz zum ersten Kriegsziel: der Vernichtung der Hamas.

Das will die Regierung nicht zulassen. Zum einen würde eine solche Hinnahme der von der Hamas gestellten Bedingungen (die auch die Freilassung unzähliger in Israel gefangener Palästinenser, unter ihnen schwere Terroristen, einschlösse) als Niederlage Israels gewertet werden. So würden das viele rechte, aber nicht nur rechte Israelis sehen. So sehen das aber auf jeden Fall die rechtsradikalen Parteien in Netanjahus Koalition. Die Führer dieser Parteien, Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, haben bereits gedroht, die Koalition im Falle eines solchen Deals mit der Hamas aufzulösen, was den unweigerlichen Macht- und Herrschaftsverlust Netanjahus bedeuten würde. Dies gilt dem israelischen Premier als eine Schreckensvision, deren Verwirklichung es mit allem Mitteln zu vereiteln gilt.

Der politische Hauptgrund dafür ist, dass er sich keine “Niederlage” gegen die Hamas leisten kann, nachdem der 7. Oktober – eine in Israel noch bei weitem nicht überwundene kollektive Katastrophe, die viele als das schlimmste Desaster der Juden seit der Shoah sehen – sich in seiner Amtsperiode ereignet hat, mithin ihn als politischen Hauptverantwortlichen zeichnet. Der zweite Grund liegt im persönlichen Interesse Netanjahus: Er versucht seinem Prozess, bei dem er seit Jahren der Korruption, des Betrugs und der Veruntreuung angeklagt ist, zu entkommen bzw. dessen Beendigung so weit wie möglich aufzuschieben. Und da er das Staatsinteresse stets seinem Privatinteresse zu unterstellen pflegt, ist ihm dabei jedes Mittel recht.

Ungeachtet der Frage, ob das militärische Kriegsziel überhaupt erreicht werden kann, möchte er den Krieg so lange, wie nur möglich zu verlängern. Gegebenenfalls auch durch die Eröffnung einer weiteren Kriegsfront gegen die Hisbollah im Norden des Landes. Dies kollidiert aber, wie gesagt, mit dem anderen (vorgeblich verfolgten) Ziel der Befreiung der Entführten. Was das bedeutet, soll gleich gesondert erörtert werden.

Aber noch bevor sich dieses Dilemma gelöst hat (und letztlich schon seit Kriegsbeginn), ist Netanjahu bestrebt, die Verantwortung für die Katastrophe am 7. Oktober von sich abzuwälzen: Schuld an ihr seien einzig das Militär und die Geheimdienste, die ihn nicht über die drohende Gefahr unterrichtet hätten; er hat sich auch nicht entblödet, den von Ariel Sharon im Jahre 2005 vollzogenen Rückzug Israels aus dem Gazastreifen für das Unglück von 2023 verantwortlich zu machen (obgleich er selbst seinerzeit für Sharons Beschluss gestimmt hatte); ja er ging so weit, Yitzhak Rabins Oslo-Prozess aus den 1990er Jahren als Grund für das Unheil dessen, was er 30 Jahre später zu verantworten hat, heranzuziehen.

Netanjahu aktiviert dabei sein Umfeld als manipulatives Handlanger seiner interessengeleiteten Perfidie. Er ist bei diesem Unterfangen so gewieft und heimtückisch wie kein anderer Politiker Israels. Man darf dabei nicht vergessen, obgleich Netanjahu es zu kaschieren trachtet, dass es seine Taktik war, die Hamas über Jahre zu fördern, namentlich als Mittel der Schwächung der PLO, von der eher zu erwarten stand, dass sie sich auf eine politische Lösung des Konflikts mit den Israelis einzulassen bereit war.

Das Schicksal der Geiseln hängt mit der Essenz des zionistischen Selbstverständnisses zusammen

Aber man muss vor allem eines bedenken, was mit dieser politischen Taktik bereits herbeigeführt worden ist. Es ist den meisten in Israel, allen voran den Angehörigen der Entführten, klar geworden, dass die Verzögerung des Geisel-Deals mit der Hamas das Leben der Gefangenen gefährdet. Es ist auch den allermeisten klar, dass es keinen “Sieg” Israels geben kann ohne die Befreiung der Geisel. Womit aber niemand gerechnet hat, ist die Möglichkeit, dass man gewillt sein könnte, die Geiseln zugunsten eines militärischen “Sieges” der Armee zu opfern. So weit ist es zwar noch nicht, aber der Verdacht, dass dem so sein könnte, hat sich bereits bei vielen in Israel eingeschlichen und steigert sich mit jedem vergehenden Tag.

Käme es so weit, würde das einen präzedenzlosen Riss in der israelischen Gesellschaft bewirken: Es galt als ein Grundpostulat der zionistischen Räson, dass der Staat seinen außerhalb Israels in Not geratenen Bürgern um jeden Preis zu Hilfe kommt bzw. sie rettet. Die willentliche Übertretung dieser Fundamentalforderung, die als Essenz des zionistischen Selbstverständnisses zu begreifen ist, würde den Höhepunkt dessen angesehen werden, was seit dem 7. Oktober bereits in der Luft liegt, ohne aber wegen der Kriegssituation offen artikuliert zu werden: des Bruchs des Grundvertrauens der Bürger Israels in ihre gewählten Repräsentanten – eines vom Staat begangenen Verrats an seinen Bürgern.

Man weiß schon lange in Israel, was man von Netanjahu zu halten hat. Selbst viele seiner Anhänger bekunden inzwischen ihre Enttäuschung von ihm. Käme es heute zu Wahlen, würde er wohl seine politische Herrschaft verlieren. Das zu verhindern, gilt ihm als oberstes Gebot, und es ist nicht auszuschließen, dass er bereit ist, die von der Hamas entführten Geiseln dafür zu opfern. Selbst wenn er es nicht will, ist es der Zoll, den er Ben-Gvir und Smotrich zahlen muss, um den an sich schon schändlichen Machterhalt zu garantieren.

Und die Bevölkerung Israels schaut dieser bösartigen Farce zu; es wird kein radikaler praktischer Schritt unternommen, um ihr ein Ende zu bereiten. In den sozialen Medien ereifern sich zwar Diskurse darüber, aber ohne wirkliche Folgen zu zeitigen. So wie das Gros der israelischen Bevölkerung den grauenhaften Massenmord und die entsetzliche Verwüstung im Gazastreifen letztlich hinnimmt und mit unwürdigen “Argumenten” rationalisiert, so lässt sie die schändlichste Regierungskoalition, die die Parlamentsgeschichte Israels jemals gekannt hat, weiterhin gewähren. Es herrscht ja Krieg – da muss jegliche Kritik (und erst recht die Forderung eines Sturzes der Regierung) verstummen. Die Barbarei der Hamas weiß man täglich hervorzuheben; für die eigene Barbarei ist man blind. Und je blinder man sich macht, desto rascher gelangt die kollektive Moral in ungeahnte Tiefen.

Nicht nur das völlige Versagen der Armee und der Geheimdienste Israels am 7. Oktober hat Israels Niederlage besiegelt, noch ehe es den Krieg seinerseits begonnen hat, sondern auch der Verrat an den entführten Geiseln und ihren Angehörigen darf jetzt schon als Kainsmal des Staates gelten. Von dem, was Israel in den vergangenen Monaten im Gazastreifen verbrochen hat, soll diesmal geschwiegen werden.

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10 Kommentare

  1. https://www.youtube.com/watch?v=1B9Mu9-wMbA&t=1161s
    Die Geschichte handelt nicht nur davon, wie der Schwanz mit dem Hund wedelt, sondern bedroht ihn auch.
    In diesem Gespräch spricht Professor Dr. Dr. Wolfgang Streeck zunächst darüber, warum Deutschland wieder auf der Seite des Völkermords steht (wie immer) und Israel mit U-Booten beliefert hat, die in der Lage sind, seine nuklear bestückten Raketen zu tragen. Anschließend erläutert er, wie Israels nukleare Triade – von der mittlerweile völlig klar ist, dass sie existiert – nicht nur eine Bedrohung für arabische und westasiatische Länder darstellt, sondern auch politische Implikationen bis hin zu potenziellen Sicherheitsbedrohungen für den Westen hat.
    Ein völkermörderisches Regime mit eigenen Nuklearwaffen. Was könnte da schon schiefgehen?

  2. Danke Herr Zuckermann!
    (Falls Sie die Kommentare mitlesen:)
    Ihre mutigerweise aufrichtige und möglichst unaufgeregte Berichterstattung über die Lage in Israel stellt für mich z.Zt. eine der glaubwürdigsten Informationsquellen zu diesem Thema dar, an dem ich starken Anteil nehme.

    Ich habe drei (semi-berufliche) Kontakte in Israel, bei denen ich das Gefühl habe, jeglicher Austausch zum betreffenden Themenbereich ist ein einziges Minenfeld, und es wird vermieden irgendetwas anderes als genormte Floskeln auszusprechen…

    Ihnen meine besten Wünsche!

  3. “Es ist schwer, einem Außenstehenden das Dickicht des Problemkonglomerats, dem Israel gegenwärtig ausgesetzt ist, zu vermitteln.”

    So schwer ist es eigentlich nicht: Netanjahu, ein rechter, krimineller und verurteilter Politiker mit Freifahrtschein und Waffen aus dem Westen kapiert mit seiner rechten und faschistischen Bande Staat und Judekative; führt Krieg, lässt Palästinänser allen Alters abschlachten und aushungern, um seiner Entmachtung und Inhaftierung zu entgehen.
    Alles Weitere ergibt sich daraus….

    1. Nicht zu vergessen, dass auch alle anderen Präsidenten zuvor keine Palästinenserstaat wollten und alles taten, um den Palästinensern das Leben so schwer wie möglich zu machen, um sie zu vertreiben. Jetzt gehen sie halt noch viel weiter und betreiben einen Völkermord um das Ziel eines Großisrael zu erreichen. Es ist also keineswegs nur Netanjahu der Bösewicht. Selbst unter Rabin wurde munter gesiedelt und ein möglicher Staat wäre kaum eigen-und selbständig gewesen.

  4. Quatsch. Dass Israel Atomwaffen hat, ist seit Ende der 60-er bekannt. Dass es diese nur defensiv einsetzen würde, war den Nachbarstaaten absolut klar. Sie verlangten nicht nach eigenen Atombomben, um das abzuwehren.
    Ganz anders der Iran. Alle wissen, dass er an der Bombe baut, mit oder ohne Abkommen. Da nun wollen die Anrainerstaaten eigene Atomwaffen, weil sie das für nötig erachten. So schätzen sie die Mullahs ein, zurecht. Wenn es um Atomwaffen geht, kommen die tatsächlichen Einschätzungen zu Tage.
    Nun spendiert man Israel U-Boote, von denen aus sie einen Zweitschlag führen können, wenn der Iran angreift. Nicht mehr als ein Trostpflästerchen, denn eine Atombombe reicht, um Israel unbewohnbar zu machen.

  5. Israel hat seine Ziele formuliert, in Ordnung.
    Aber Israel hat nicht die ökonomischen Fakten hierbei berücksichtigt. Der beste Beleg wird durch die Rating Agenturen bereitgestellt, sie nehmen keine Stellung dazu!
    Israel hat auch nicht die ‘Axe der Bösen’ berücksichtigt und sitzt alleine da.
    Selbst aus dem $ Geberland kommen nicht so viele Ausrüstung nach wie benötigt und auch das benötigte Kapital.
    Israel ist wie die Ukraine, beide sind abhängig von den ‘Wohltaten’ aus dem Westen. Anscheinend sind beide durch extrem rechte Auslegung verseucht und wäre nicht auch in Israel eine ‘Entnazifizierung’ von Nöten?

    1. Jetzt ist es passiert!
      Auf RT englisch Version kam Moody ‘downgrade’
      “Israel’s credit rating downgraded on war risks”

      Netanyahu versicherte,, beim Erfolg der zu erreichenden Ziele wird wieder alles normal.
      Leider vergaß der Herr Präsident, das das die Investoren oder Anleger weniger interessiert. Im Gegenteil, das Kapital hat entschieden das Israel nicht gewinnen kann.

  6. https://antikrieg.com/aktuell/2024_02_11_lasstsie.htm
    “Lasst sie Dreck fressen
    Die letzte Phase des israelischen Völkermordes im Gazastreifen, eine orchestrierte Massenverhungerung, hat begonnen. Die internationale Gemeinschaft hat nicht die Absicht, sie zu stoppen
    (..)
    Die Rolle des UNRWA bei der Dokumentation des Völkermords sowie bei der Bereitstellung von Nahrungsmitteln und Hilfsgütern für die Palästinenser macht die israelische Regierung wütend. Premierminister Benjamin Netanjahu warf dem UNRWA nach dem Urteil vor, dem IGH falsche Informationen geliefert zu haben. Das UNRWA, das bereits seit Jahrzehnten ein Ziel Israels ist und 5,9 Millionen palästinensische Flüchtlinge im gesamten Nahen Osten mit Kliniken, Schulen und Lebensmitteln unterstützt, sollte nach israelischer Auffassung beseitigt werden. Israels Zerstörung des UNRWA dient sowohl einem politischen als auch einem materiellen Ziel.

    Die unbewiesenen israelischen Anschuldigungen gegen das UNRWA, dass ein Dutzend der 13.000 Mitarbeiter Verbindungen zu den Tätern der Anschläge vom 7. Oktober in Israel hätten, bei denen rund 1.200 Israelis getötet wurden, haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Dies veranlasste 16 große Geber, darunter die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Deutschland, Italien, die Niederlande, Österreich, die Schweiz, Finnland, Australien, Kanada, Schweden, Estland und Japan, die finanzielle Unterstützung für das Hilfswerk auszusetzen, von dem fast jeder Palästinenser im Gazastreifen für seine Ernährung abhängig ist. Seit dem 7. Oktober hat Israel 152 UNRWA-Mitarbeiter getötet und 147 UNRWA-Einrichtungen beschädigt. Israel hat auch UNRWA-Hilfslieferwagen bombardiert.
    (…) Die meisten Palästinenser im Gazastreifen sind bereits von der Vorstufe des Hungers – der Unterernährung – betroffen. Diejenigen, die hungern, haben nicht genug Kalorien, um sich zu ernähren. In ihrer Verzweiflung beginnen die Menschen, Tierfutter, Gras, Blätter, Insekten, Nagetiere und sogar Schmutz zu essen. Sie leiden an Durchfall und Infektionen der Atemwege. Sie reißen winzige, oft verdorbene Essensreste auseinander und rationieren sie.

    Da sie nicht genug Eisen haben, um Hämoglobin, ein Protein in den roten Blutkörperchen, das den Sauerstoff von der Lunge in den Körper transportiert, und Myoglobin, ein Protein, das die Muskeln mit Sauerstoff versorgt, zu produzieren, werden sie bald anämisch, und außerdem fehlt ihnen Vitamin B1. Der Körper ernährt sich von sich selbst. Gewebe und Muskeln verkümmern. Es ist unmöglich, die Körpertemperatur zu regulieren. Die Nieren schalten sich ab. Das Immunsystem bricht zusammen. Lebenswichtige Organe – Gehirn, Herz, Lunge, Eierstöcke und Hoden – verkümmern. Der Blutkreislauf verlangsamt sich. Das Blutvolumen nimmt ab. Infektionskrankheiten wie Typhus, Tuberkulose und Cholera werden zu einer Epidemie, an der Tausende von Menschen sterben.”

  7. Darf man Natganjahu als neuen Führer bezeichnen? Kantsch gesprochen ja, aber politisch wohl nicht, da das die USA und die EU Eliten zu Nazikolporteure machen würde. Was sie ja auch sind.

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