Mit einem im Herbst 23 vorgelegten “Turbo-Programm” wollte Arbeitsminister Heil Ukrainer und Ukrainerinnen “möglichst nachhaltig in den Arbeitsmarkt integrieren”. Andere Politiker wirken dem entgegen.
Bei vielen deutschen Unternehmen des Dienstleistungsbereichs haben die ukrainischen Flüchtlinge die Hoffnung geweckt. dass ihre bislang vergebliche Suche nach neuen Arbeitskräften bald zum Erfolg führt. Die US-amerikanische Pizzerien-Kette L´Osteria z. B. lud in Oberhausen Ukrainerinnen zum kostenlosen Pizza-Essen ein und machte ihnen nebenbei Jobs als Küchenhilfe und Serviererin schmackhaft. Der Johanniter-Hilfsdienst in Berlin überschreibt sein Projekt, mit dem ukrainisches Pflegepersonal angeworben werden soll, locker-poppig mit “Ukraine goes Pflege”.
Selbst die Deutsche Bahn hat in München eine eigene Ausbildungsklasse für zukünftige Zugbegleiterinnen aus der Ukraine eingerichtet. Personal-Dienstleister wecken bei deutschen Arbeitgebern zusätzliche Erwartungen. “Viele ukrainische Flüchtlinge haben nur geringe Deutschkenntnisse, können aber als Hilfsarbeiter wunderbar eingesetzt werden, vor allem als Reinigungskräfte, Verpackungshelfer, Produktionshelfer, Servicekräfte…”, schreibt z. B. die Agentur “Personal-aus-Osteuropa”.
Doch die Erwerbsquote der in Deutschland lebenden ukrainischen Flüchtlinge ist auch 2 1/2 Jahre Jahre nach Kriegsbeginn niedrig. Im Juli legte die Bundesregierung Zahlen hierzu vor. Danach lebten im April 2024 rund 1,3 Mio. Ukrainer in Deutschland. Davon waren ca. 1,1 Mio. Flüchtlinge und unter diesen 743.000 im erwerbsfähigen Alter. Rund 135.000 gingen einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nach, 40.000 hatten einen Minijob. 79.000 erwerbsfähige Ukrainer und Ukrainerinnen schlossen im Juli diesen Jahres eine Integrationsmaßnahme ab. 33.000 befinden sich weiterhin in einer solchen. 62.000 erwerbsfähige Ukrainer gehen außerhalb von Integrationsmaßnahmen einer beruflichen, schulischen oder universitären Ausbildung nach.
Geringe Erwerbsquote ukrainischer Flüchtlinge
Die im Vergleich zu einigen Nachbarländern relativ geringe Erwerbsquote ukrainischer Flüchtlinge wird u. a. mit fehlenden Jobangeboten gemäß vorhandener Berufsqualifikationen bzw. einer langwierigen Anerkennung von ukrainischen Abschlüssen begründet. Mehr und mehr wird von Politikern und Medienvertretern in diesem Zusammenhang aber auch die den Ukrainern im Unterschied zu anderen Flüchtlingen gewährte Grundsicherung ins Spiel gebracht, die den Arbeitsanreiz mindere. Sicher auch mit Blick auf die am 29.9. anstehenden Landtagswahlen hat erst vor einigen Tagen Brandenburgs Ministerpräsident Woidke die Kürzung der Sozialleistungen für Ukrainer gefordert. Das ihnen gewährte Bürgergeld sei “nicht mehr zeitgemäß”.
Eine Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) hatte dagegen schon im November 23 darauf aufmerksam gemacht, dass die Höhe der Sozialleistungen nicht erklärt, warum viele ukrainische Flüchtlinge sich frühzeitig für Polen und Tschechien als Aufnahmeländer entschieden haben und später nur relativ wenige von diesen nach Deutschland weitergewandert sind. Ein großer Vorteil Polens und Tschechiens wie z. B. auch Dänemarks und der Niederlande bei der Realisierung einer höheren Erwerbsquote der Ukrainer sei deren “Zugangsmanagement” in den Arbeitsmarkt. Nicht eingegangen wird in der Studie im Falle Polens und Tschechiens auf den im Unterschied zu Deutschland hohen Arbeitskräftebedarf der dortigen Industrie und auf die Bedeutung von ukrainischen Communitys, die in den Ländern bereits vor dem Krieg existierten und bei der Vermittlung von Jobs und Wohnraum behilflich waren.
Aus Polen weiß man zudem, dass nicht wenige ukrainische Flüchtlinge bereits vor dem Krieg mit einem Job im Nachbarland geliebäugelt haben, da jobsuchende Ukrainer dort seit 2017 keine Arbeitsgenehmigung mehr benötigen. In Dänemark und den Niederlanden fand die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge von Anfang an unter anderen Prämissen wie in Deutschland statt. Über Personalserviceagenturen vermittelte und mit kurzfristigen Verträgen ausgestattete osteuropäische Arbeitskräfte sind seit den 90er Jahren in beiden Ländern ein volkswirtschaftlicher Faktor. An deren gesellschaftliche Integration war nicht gedacht. Aufgrund zahlreicher Betrugsfälle und unwürdiger Behandlungen haben speziell niederländische Arbeitgeber unter temporären Arbeitsmigranten seit langem einen schlechten Ruf.
Weil die demografische Situation in Deutschland sich deutlich ungünstiger darstellt als in den Niederlanden oder Dänemark, war hierzulande im Zusammenhang mit der ukrainischen Flüchtlingsbewegung von Anfang an die Vorstellung dauerhafter Einwanderung verbunden. Für eine langfristig angelegte Integration der Flüchtlinge, vor allem mittels Sprachkursen, stehen in Deutschland zudem zahlreiche Einrichtungen privater Unternehmen wie der sog. Wohlfahrtsverbände zur Verfügung.
Mit einer Simulations-Studie über die zukünftige Rolle der Ukrainer am deutschen Arbeitsmarkt hat das “Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung” der BfA so im Mai diesen Jahres auch Hoffnung auf deren baldige Arbeitsmarktintegration gemacht. Danach wird die Erwerbsquote, d. h. der Anteil der Erwerbstätigen unter den 18- bis 65 jährigen, bei den Kriegsflüchtlingen nach 5 Jahren ihres Aufenthalts in Deutschland bei 45 % liegen. Nach 10 Jahren würde sie sich mit 55% der Erwerbsquote der ansässigen Bevölkerung nähern, wobei es auch dann noch einen deutlichen Unterschied zwischen den ukrainischen Männern (68%) und Frauen (52%) geben werde. Als besonderes Problem für die schnelle Arbeitsmarkt-Integration von ukrainischen Frauen wird die im Vergleich zu anderen Flüchtlingsgruppen große Zahl von Kindern angeführt. Von wie vielen Ukrainern 2032 in Deutschland überhaupt auszugehen ist, erfährt man aus der Studie aber nicht.
Verunsicherung der Ukrainer in Deutschland
Tatsächlich hat in den letzten Wochen die Verunsicherung der Ukrainer in Deutschland hinsichtlich ihres weiteren Lebenswegs zugenommen. Mit dem Auslaufen der Integrationsmaßnahmen machen die Jobcenter Druck, Stellenangebote für Hilfskräfte weit unter Qualifikationsniveau anzunehmen. Die Arbeitsplätze befinden sich dann häufig in Orten, in denen die Wohnungssuche schwierig ist und die Lebenshaltungskosten hoch sind. Gegen bestimmte Flüchtlingsgruppen haben sich deutsche Behörden zudem diverse Diskriminierungsmaßnahmen ausgedacht.
Ukrainische Männer im Kriegsdienst pflichtigen Alter von 18 bis 60 Jahren – ca. 250.000 leben in Deutschland – bekommen nach der Verweigerung von Passverlängerungen seitens der eigenen Konsulate auf Initiative Hessens vielfach keinen deutschen Reiseausweis als Ersatzdokument mehr ausgestellt. Die Rückreise in die Ukraine gilt als “zumutbar”, auch wenn dort Kriegsdienst droht. Jährlich werden damit ca. 60.000 Ukrainer ohne Ausweispapiere in eine Art Schattenexistenz abgedrängt und müssen nach § 95 des Aufenthaltsgesetzes mit Strafverfolgung rechnen.
Ein weiteres Beispiel der Diskriminierung ist der seit dem neuen Schuljahr – auch hier spielt Hessen eine Vorreiterrolle – modellhaft für ukrainische Flüchtlingskinder angebotene “herkunftssprachliche Unterricht”. Ihn können nur die ukrainisch-sprachigen Schüler nutzen. Für die vielen russisch-sprachigen Flüchtlingskinder gibt es dieses Angebot nicht, denn, so das Kultusministerium, russisch ist “die Sprache des Aggressors”, – was wiederum Schulen und Schulverwaltungen nicht davon abhält, für Elterngespräche u. ä. die ehrenamtlichen Dolmetscherdienste von Russlanddeutschen in Anspruch zu nehmen.
Zwar stehen die Kriegsdienst pflichtigen ukrainischen Männer vorläufig unter dem besonderen Schutz der “Massenzustrom-Richtlinie” der EU und dies auch ohne offizielle Anerkennung ihrer von der UN zum allgemeinen Menschenrecht erhobenen Kriegsdienstverweigerung. Auch nach dem europäischen Auslieferungsabkommen ist eine Auslieferung wegen Verletzung militärischer Pflichten ausgeschlossen. Eine Verfestigung ihres Aufenthaltsstatus in Deutschland für sie und ihre Familien, was auch ein wichtiger Impuls für eine Arbeitsaufnahme wäre, findet aber nicht statt.
Aus persönlichen Gesprächen geht hervor, dass sich inzwischen viele Familien fragen, ob Deutschland überhaupt ihre neue Heimat sein kann und soll. Die Rückkehr in die Ukraine ist durch Zwangsrekrutierung der Männer für den Krieg und durch Strafverfolgung nach dem Krieg vielen Familien versperrt. Doch welche Optionen bleiben?
Kanada oder Polen als Option?
Kanada, das ukrainischen Kriegsflüchtlingen nach EU-Vorbild besonderen Schutzstatus gewährt, wird häufig genannt. Kanada, so die FES-Studie, hat seit Kriegsbeginn bis September 2023 1,189 Mio. Visa-Anträge von Ukrainern erhalten, über 900.000 Visa wurden erteilt. Dass bis September 23 nur rund 186.000 Ukrainer eingereist sind, hängt wahrscheinlich mit den hohen Reisekosten und der Scheu mancher Ukrainer vor dem endgültigen Abschied von Europa zusammen. Ab 2025 erhöht Kanada nochmals sein Immigranten-Kontingent auf dann 500.000 p.a.. Ukrainer, die unter Kanadiern Verwandte haben und/oder eine dort nachgefragte Berufsausbildung vorweisen können, haben sehr gute Chancen, in Kanada eine Berechtigung zum Daueraufenthalt zu erhalten. Aber auch in die USA, wo es Privilegierungen wie in Kanada nicht gibt, sind vom Februar 22 bis September 23 bereits 271.000 ukrainische Flüchtlinge eingereist.
Selbst Polen rückt für ukrainische Familien wieder in den Blick. Zwar hat die Warschauer Regierung eilfertig mit einem neuen Gesetz auf die Entsagung konsularischer Dienste durch die Ukraine reagiert und alle Ukrainer, denen die Kommunalbehörden unkonventionell ohne Vorlage eines gültigen Passes eine Aufenthaltskarte ausstellten, verpflichtet, innerhalb von 60 Tagen einen gültigen Pass zwecks Erneuerung der Aufenthaltskarte vorzulegen. Aber in Polen kann man z. B. im Unterschied zu Deutschland relativ problemlos einen ukrainischen Führerschein gegen einen EU-Führerschein umtauschen, der wiederum bei vielen polnischen Einrichtungen als Passersatz anerkannt wird.
Zehntausende Ukrainer haben sich inzwischen auch – mitunter mittels fragwürdiger Belege – eine polnische Abstammung bestätigen lassen und sind mit einer sog. “Karta Polaka” polnischen Staatsbürgern, sieht man vom Wahlrecht ab, weitgehend gleichgestellt. Und was nicht unwichtig ist: Die leichtere sprachliche Orientierung, viele der Heimat ähnliche Lebensgewohnheiten und die Existenz einer im Umgang mit der Bürokratie erfahrenen ukrainischen Community vermitteln den Flüchtlingen in Polen oftmals ein subjektives Sicherheitsgefühl, das im “bunten” Deutschland vielfach fehlt.
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