Ukraine vs. Russland: IGH weist Terrorismusvorwürfe gegen Russland weitgehend zurück

Verlesung der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs über den Vorwurf der von 32 Staaten unterstützten Ukraine gegen Russland, gegen die Völkermordkonvention verstoßen zu haben. Bild: ICJ

In einem zweiten Verfahren wegen Verstößen gegen die Völkermordkonvention kann sich die Ukraine durchsetzen, aber nur, dass der IGH zuständig ist und verhandelt, ob die Ukraine Völkermord gegen die „Volksrepubliken“ begangen hat oder nicht.

Der Internationale Gerichtshof (IGH bzw. ICJ) hat letzte Woche nach der Vorentscheidung zu Israels Krieg im Gazastreifen und der Auferlegung von Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung, zwei Entscheidungen zum Ukrainekrieg getroffen. Sie sind kein Sieg der Ukraine über Russland, wie es in ukrainischen Medien dargestellt wird, aber auch nicht wirklich Russlands. Anders als bei der Entscheidung über den Vorwurf des Völkermords gegen Israel haben die Medien über die zwei Russland und die Ukraine betreffenden Entscheidungen kaum berichtet – obwohl oder weil sich in einem Verfahren 32 vorwiegend europäische Länder auf die Seite der Ukraine gestellt haben und keinen wirklichen Erfolg vorweisen können?

Die Ukraine hat bereits 2017 Russland vorgeworfen, durch Unterstützung der bewaffneten Gruppen in den „Volksrepubliken“ Donezk (DNR) und Lugansk (LNR) gegen das Abkommen gegen Terrorfinanzierung (International Convention for the Suppression of the Financing of Terrorism – ICSFT) und gegen das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination) auf der Krim aufgrund der Diskriminierung der  Krimtataren und der ukrainischen Bevölkerung zu verstoßen.  Die Ukraine griff zu Vorwürfen wegen der beiden Abkommen, weil Russland diese ratifiziert hat. Das Gericht hält in seiner Entscheidung ausdrücklich fest, dass eine „Aggression“ Russlands oder die „illegale Okkupation“ ukrainischen Territoriums nicht Gegenstand der Klage waren.

Im ersten Fall geht es um Mittel der Unterstützung terroristischer Aktivitäten, aber nicht um die Mittel zum Begehen von diesen wie Waffen oder Sprengstoff. Das Gericht hält fest, nicht über ausreichende Beweise zu verfügen, dass eine der bezichtigten Gruppen der Separatisten eine Terrorgruppe ist (um die Freiwilligenverbände der Ukraine wie Asow oder Rechter Sektor ging es natürlich in der ukrainischen Anklage nicht).

Russland hat nach dem Gericht die Verpflichtungen des ICSFT nach Artikel 9 nicht eingehalten, Terrorismusvorwürfen der Ukraine rechtzeitig nachzugehen, allerdings habe die Ukraine keine überzeugenden Gründe vorgelegt, dass terroristische Aktivitäten begangen wurden, weswegen hier die Klage der Ukraine zurückgewiesen wurde. Russland habe auch keine Gruppe im Donbass als Terrorgruppe listen müssen. Alle anderen Vorwürfe der Ukraine wurden zurückgewiesen. In der Hauptsache wurde die Klage zugunsten von Russland verworfen.

Der zweite Teil der Klage wurde aber insofern angenommen, als Russland nach 2014 im Schulsystem gegen das Abkommen verstoßen hat. Alle anderen Vorwürfe wurden zurückgewiesen, aber Russland habe die Auflage im Vorentscheid von April 2017 nicht eingehalten, jede Aktion einzustellen, die den Streit zwischen Ukraine und Russland verschärft. Als Grund wird genannt, dass DNR und LNR als unabhängige Staaten anerkannt wurden und die „spezielle Militäroperation“ gegen die Ukraine begonnen wurde. Der Verbot der Mejlis der Krimtataren  verletze hingegen die Verpflichtungen Russlands nach dem Abkommen nicht. Die Vereinten Nationen titeln: „Weltgerichtshof weist den Großteil der Terrorismusvorwürfe der Ukraine gegen Russland zurück“. Im Wesentlichen konnte sich die Ukraine hier nicht gegen Russland durchsetzen.

Eine “negative Feststellungsklage” wegen des russischen Vorwurfs des Völkermords ist möglich

Im zweiten Fall ging es darum, dass die Ukraine gleich nach dem russischen Angriff gegen Russland geklagt hat, dass “die Russische Föderation fälschlicherweise behauptet hat, dass in den Gebieten Luhansk und Donezk der Ukraine Völkermord stattgefunden und auf dieser Grundlage die sogenannte ‚Donezker Volksrepublik’ und ‘Luhansker Volksrepublik’ anerkannt und dann eine ‘spezielle Militäroperation’ gegen die Ukraine erklärt und durchgeführt hat“. Die Klageschrift fordert die Feststellung, „dass Russland keine Rechtsgrundlage hat, um in der und gegen die Ukraine Maßnahmen zur Verhinderung und Bestrafung eines angeblichen Völkermordes zu ergreifen”. Und die Ukraine wirft Russland vor, “Akte des Völkermords in der Ukraine zu planen”, und behauptet, dass Russland “vorsätzlich Angehörige der ukrainischen Nationalität tötet und schwer verletzt“. Gefordert werden „vorläufige Maßnahmen“, um die Rechte der Ukrainer zu schützen und die Situation nicht weiter zu verschärfen.

Das berührt neben der vom Westen zurückgewiesenen russischen Forderung nach Neutralität der Ukraine einen zentralen Punkt des Kriegs, allerdings umfasst die Völkermordkonvention nicht den Vorwurf der Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots. Eine gerichtliche Auseinandersetzung darüber will die Ukraine offenbar vermeiden und spielt daher über Bande mit der Völkerrechtskonvention. 32 Staaten – unterstützen die Ukraine mit Interventionen in diesem Verfahren. Deutschland hat erstmals eine Intervention beim IGH eingereicht, die der USA wurde vom IGH nicht zugelassen.

Konkret ging es in der Vorentscheidung primär darum, ob der Gerichtshof in diesem Fall für die Völkermordkonvention zuständig ist, was Russland bestritten hat. Nach Angaben der Ukraine hat Russland nach dem Abkommen seine Rechte missbraucht und seine Verpflichtungen verletzt, weil es der Ukraine zu Unrecht Völkermord vorgeworfen hat. Kiew – und die Unterstützerstaaten – verlangen, dass das Gericht bestätigt, dass die Ukraine im Donbass keinen Völkermord begangen hat, womit Russland die behauptete Legitimation für den Krieg bestritten würde.  Zusätzlich verlangte die Ukraine noch, dass das Gericht feststellt, dass Russland dann die falsche Anschuldigung des Völkermordes auch nicht zur Legitimation des Kriegs nutzen darf.

Es ging also bei dieser Vorentscheidung nicht darum, ob Russland wegen Völkermord angeklagt werden kann, sondern lediglich um Verletzungen der Völkermordkonvention, aber eben auch um die Klärung der Frage, ob der Ukraine Völkermord vorgeworfen werden kann. Das Gericht weist auch auf die mitunter teils seltsame Konstruktion der Klage hin:

„Die Ukraine behauptet nicht, dass die Russische Föderation keine Maßnahmen zur Verhinderung eines Völkermords oder zur Bestrafung von Personen, die einen solchen Völkermord begangen haben, ergriffen habe. Der Kläger behauptet vielmehr, dass der von der Russischen Föderation angeführte Völkermord nicht stattgefunden habe und die Behauptung in böser Absicht aufgestellt worden sei. Der erste Aspekt der Klage der Ukraine zielt darauf ab, vom Gerichtshof die Feststellung zu verlangen, dass es keine glaubwürdigen Beweise dafür gibt, dass die Ukraine einen solchen Völkermord begangen hat. Unter diesen Umständen ist es schwierig zu erkennen, wie das von der Ukraine beanstandete Verhalten der Russischen Föderation eine Verletzung ihrer Verpflichtungen zur Verhinderung von Völkermord und zur Bestrafung der Täter durch den Beklagten darstellen könnte.“

Das Gericht kam zu dem Schluss, dass fünf der sechs vorläufigen Einwände (preliminary objections) Russlands abgewiesen werden. Der IGH erklärte sich in dem Fall für zuständig, weil er nach Art. IX für Streitigkeiten über die Anwendung und Erfüllung der Konvention zwischen Vertragsstaaten zuständig ist. Russland habe wiederholt Kiew des Völkermords an der russischsprachigen Bevölkerung des Donbass beschuldigt, womit sie die Notwendigkeit der Invasion zu begründen suchten. Russland sieht das Gericht nicht für zuständig, weil sich die Begründung für die “militärische Spezialoperation” auf das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der UN-Charta stütze. Die deswegen angeblich falschen und böswilligen Anschuldigungen würden nach dem Gericht aber an sich noch keinen “Missbrauch des Verfahrens” darstellen. Und eine “negative Feststellungsklage”, also dass Beweise für einen von der Ukraine begangenen Völkermord fehlen, sei grundsätzlich möglich. Festgestellt wird, dass die im März angeordnete Maßnahme, dass Russland sofort militärische Operationen in der Ukraine einstellen müsse, nicht eingehalten hat. Dass die Ukraine nach der eingereichten Klageschrift noch Veränderungen nachgereicht hat, was Russland monierte, wurde vom Gericht nicht beanstandet, auch nicht, dass die Anklage keine praktischen Folge habe.

Zurückgewiesen wurde vom Gericht, dass der Vorwurf Russlands, die Ukraine habe einen Völkermord begangen, schon ein Verstoß gegen die Völkermordkonvention sei. Der Prozess wird also weiter untersuchen, ob die Ukraine einen Völkermord im Donbass begangen hat und damit ob der Vorwurf der falschen Beschuldigung der Ukraine zutrifft. Ob Russland selbst Völkermord begeht, was wiederum die Ukraine und Unterstützerstaaten Russland vorwerfen, wird also vor dem IGH nicht verhandelt. Das Gericht sieht sich zudem nicht zuständig zu entscheiden, ob die russische Invasion oder die Anerkennung der beiden „Volksrepubliken“ die Völkermordkonvention verletzt hat.

 

 

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7 Kommentare

  1. Wir sind mitten im 3. Weltkrieg, an allen Fronten, medial, juristisch, ökonomisch, politisch und militärisch. Wenn ein Part versagt, wird ein anderer verstärkt. Es könnte allerdings noch schlimmer werden, wenn alle Teile versagen und nur noch die …Bombe für Ruhe sorgen kann, und dann für die nächsten 500 Jahre. Ob unsere Kriegstüchtigkeit dann noch hilft?

  2. Für mich ist das der Nachrichtenwert:
    “Der Prozess wird also weiter untersuchen, ob die Ukraine einen Völkermord im Donbass begangen hat und damit ob der Vorwurf der falschen Beschuldigung der Ukraine zutrifft.”

    Die Fakten:
    – 2 Millionen Vertriebene (eine enorme Zahl), 12.000 Tote im Donbass
    – 2014/15: Fortgesetzter und systematischer Beschuss von Wohngebieten im Donbass durch Artillerie von ukrainischer Seite (besonders durch den Rechten Sektor): ist ein klares Kriegsverbrechen, ein Missbrauch des Militärs und der Militärwaffen. Wird das Gericht die dadurch ausgelöste dauerhafte Vertreibung der Zivilbevölkerung auch als Völkermord werten?
    – 2014/15 in Folge des Maidan

  3. Hat nicht die Ukraine zigtausendemale Russland “Völkermord” vorgeworfen? Was angesichts offiziell 10.000 getöteter Zivilisten seit 2022 nicht nur lächerlich ist, sondern im Vergleich zu mindestens 14.000 Toten des Krieges Kiews gegen die “Volksrepubliken” seit 2014, also auf einen sehr begrenzten Gebiet, auch auf Kiew selbst zurückschlägt.

    Zumal Kiew hier eindeutig rassisch/völkisch “selektiert” hat, indem ethnische Russen bekämpft und vertrieben wurden, von Russland umgekehrt Ukrainer aber nicht.

  4. Meiner Meinung nach sollte Russland eine sorgfältige Sammlung aller Äusserungen ukrainische Offizieller, aber auch Journalisten, “Wissenschaftler” etc. sammeln und präsentieren, die die ethnisch russische Bevölkerung der Ostukraine, der Oblasten Donezk und Lugansk besonders, als “genetisch degeneriert”, Untermenschen (nieliudi) und sonst minderwertig darstellen. Davon quellen die ukrainischen Medien, offiziellen und offiziösen Verlautbarungen über. Und es gab reihenweise Vertreibungsdrohungen, “Tshelodan, Boksal, Moskwa”, Koffer, Bahnhof, Moskau, für alle, die sich nicht arisieren bzw ukrainisieren lassen wollten. Im Sinne von Raphael Lemkin ist das Völkermord, eine Gruppe unter Bedingungen zu stellen, die ihre ganze oder teilweise Auslöschung intendiert oder bewirkt.

    1. Wenn das Gericht dafür einen Antrag braucht und nicht aus Geschäftsordnung selbst aktiv wird, stelle ich ein großes Manko einer Überforderung fest.
      Und wenn es die Akjtisierung der Umstände ab dem 17. Februar mit der massiven Zunahme der Artillerie-,Beschlüsse nicht verarbeiten kann, wäre es strukturell in meinen Augen eine Lachnummer.
      Juristische Theologie, welche nicht imstande ist, unmittelbar vernünftig und gerecht zu wirken, interessiert mich nicht. “Roma locuta, causa finita” stellt eine Grundtugend von Eselstreue dar.
      “Rom hat gesprochen und damit brodelt die Sache erst recht” lautet meine Anklage an ein überfordertes Gericht und damit ein hinreichend unfähiges.
      Ich verlange von jeder Rechtsorganisation, dass diese eigene Unzulänglichkeiten im Auge hat und aktiv nach deren Aufhebung (der Unzulänglichkeiten) trachtet.
      Wenn das nicht der Fall ist, schmeiße ich auf jeden Rechtsstaat dieser Form.
      Nur damit das eindeutig klar gestellt ist.

  5. Zu dem Urteil vom IGH zu Israel war eine Richterin aus Ghana und stimmte für Israel. Einen Tag später wurde seitens der ghanesischen Regierung ein dementi abgegeben, das die Richterin nicht im Namen Ghana urteilte.
    Zur Ukraine und ihrer Klage, die Ursache für den Konflikt in den Oblasten, ist aufgrund eines illegalen Umsturz durch den Westen veranlasst….
    Was aber ein wenig durchklingt ist, das das Urteil vorsichtig neutral agierte und das die Ukraine und ihre 32 Unterstützer sich überhaupt nicht darüber freuen können.
    Der IGH hat wohl noch keine Klage von Russland erhalten für die seit Jahren ausgübten Terrorangriffe an der zivilen Bevölkerung. Vielleicht geschieht das zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die SMO beendet ist.

    1. Die Richterin Sebutinde ist aus Uganda, nicht aus Ghana, und Uganda hat klar gestellt, dass sie nur ihre eigene, nicht die der ugandischen Regierung (der selber auch enge Beziehungen zu Israel nachgesagt werden) vertreten hat.
      Diese Richterin hatte in Edinburgh ihren Abschluss gemacht. In etlichen Verfahren am ICJ hatte sie stets im Sinne westlicher Auffassungen votiert. Im Falle SA vs Israel hat sie gar als Einzige alle 6 Punkte des Gerichts gg Israel abgelehnt, sogar den, dem der israelische Richter zugestimmt hatte.

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