Tiefe Spaltung in Israel

Demonstration gegen die „Jurtizreform“ am 11. März in Haifa. Bild:Hanay/CC BY-SA-3.0

Der in Israel stattfindende Staatsstreich hat, wie man an der Protestbewegung sehen kann, einen Riss in der israelischen Gesellschaft bewirkt. Fraglich, ob er sich noch kitten lässt.

 

Die Spaltung in der israelischen Gesellschaft in Bezug auf die “Justizreform” hat mittlerweile Dimensionen erreicht, die man zwar schon lange geahnt, so deutlich aber noch nie zu Gesicht bekommen hat. “Noch nie”? Nun, das ist vielleicht etwas übertrieben.

Als sich im Jahr 2005 die “Loslösung” von Gaza vollzog, die jüdischen Siedlungen im Streifen aufgelöst und die Bewohner der Siedlungen ins Kernland Israel überführt wurden, fühlte sich das Lager der nationalreligiösen Siedler (Anhänger der messianischen Großisrael-Ideologie) vom Staat hintergangen und von den Befürwortern des von Ariel Sharon durchgeführten politischen Akts völlig entfremdet. Von “Trauma” war die Rede, und in der Tat waren die Bilder vom teilweise gewaltsam erzwungenen Abzug “herzzerreißend”. Selbst jene, die der Meinung waren, dass die jüdischen Israelis im Gazastreifen nichts verloren hätten, mochten z.T. nachvollziehen, dass die “Loslösung” den Betroffenen existentiell zusetzte. Besagtes “Trauma” gerann dann sehr bald zum stets effektiv eingesetzten Ideologem der “Entwurzelten”.

Und doch ist es diesmal anders. Denn während man sich im Jahr 2005 den betroffenen Siedlern gegenüber empathisch verhalten konnte (ihr Schmerz war ja authentisch, so ideologisch verquer er sich im übrigen generierte), ohne dass jedoch der Abzug aus dem Gazastreifen die Lebensrealität der Bürger im Kernland Israel ansonsten tangierte, geht es den Bürgern des Landes diesmal um ihre eigene Lebensrealität. Der Angriff auf die “Demokratie”, wie sie sie begreifen, ist nicht nur ein formal-theoretisches Anliegen aus dem Bereich der Politikwissenschaft, sondern dürfte die israelische Ökonomie, den Lebensstandard und die gewohnten bürgerlichen Freiheiten von Grund auf erschüttern. Das ist wohl der Hauptgrund, warum sich die seit zwei Monaten stetig anschwellende Protestbewegung aus so heterogenen Quellen der israelischen Gesellschaft speist.

Aber es sind nun einmal nicht alle israelischen Bürger, die so denken. Es mögen sich erste Zweifel unter Netanjahus Anhängern hinsichtlich seines Vorgehens geregt haben, aber sie haben noch keine politische Wirkung gezeitigt: Im großen Ganzen steht seine Partei geschlossen hinter ihm; niemand würde sich ernsthaft einfallen lassen, ihm die Führung streitig zu machen oder auch nur Kritik an seinem Verhalten öffentlich zu äußern – wer es wagen würde, wäre in kürzester Zeit im eigene Lager politisch erledigt.

Und was die “natürlichen Verbündeten” Netanjahus anbelangt, so liegen ihre Interessen und Bestrebungen so, dass sie in der Koalition, die sich um ihn gebildet hat, gerade ihr Eldorado gefunden haben – sie brauchen die “Justizreform” nicht weniger als Netanjahu, und wenn dabei das Land zugrunde geht, interessiert es sie herzlich wenig: Die orthodoxen Parteien begreifen das zionistische Israel ohnehin primär als eine zu melkende Kuh; und der vorbestrafte Führer der Schas-Partei Arie Deri hat ein ähnliches Interesse an der Bezwingung des Justizsystems wie Netanjahu. Die nationalreligiösen Parteien unter der Führung von Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir sind ohnehin vor allem darauf ausgerichtet, was ihnen einzig die gegenwärtige Koalition ermöglichen kann: die zunehmende jüdische Besiedlung des Westjordanlandes und die Stärkung der staatoffiziellen Gewalt gegen israelische Araber und “Linke”.

Neu ist das nicht. Diese Lager gab es in Israel schon immer, zumindest als Möglichkeit mit hohem Krisenpotential. Neu ist aber die nunmehr eingetretene konkrete Manifestation dieser Lagerbildung als ein zum Staatsstreich geronnener politischer Macht- und Herrschaftskampf. Dies hat eine tiefe Spaltung in der politischen Sphäre bewirkt, die sich wie ein bedrohlicher Riss in der israelischen Gesellschaft ausnimmt. Denn die ideologische Kontroverse ist nur ein Aspekt der Krise; ein anderer ist diese Krise als Spiegel einer Lagerbildung, die über das konkret Politisch-Ideologische hinausgeht: Es stellt sich nämlich die Frage, ob die Diskrepanz zwischen beiden Lagern nicht einen unüberbrückbaren Abgrund produziert hat, der fortbestehen wird, wenn sich die momentane Krise – wie auch immer – gelegt haben wird.

“Es ist mir egal, wenn alles zugrunde geht“

Es geht dabei nicht nur um den Kampf zwischen dem religiösen und dem säkularen Judentum im gegenwärtigen Israel; es geht auch um das, was in einem am Mittwoch publizierten Artikel der Journalistin Ravit Hecht zitiert wird. Ein dominantes Mitglied der Likud-Partei sagte ihr: “Es ist mir egal, wenn ich nichts zu essen haben werde, wenn das Militär auseinanderfällt, wenn alles zugrunde geht. Hauptsache, wir werden nicht wieder erniedrigt und aschkenasische Richter werden nicht über ihn [Netanjahu] ernannt.” Und dann weiter: “Wenn Netanjahu jetzt einen Kompromiss eingeht, setzt er sich einem doppelten Risiko aus: Er wird sowohl seine Basis [in der Partei] als auch seine Koalitionspartner verlieren.”

Neben der realpolitischen Einschätzung im zweiten Teil der Aussage, fällt vor allem die Apodiktik im ersten Teil auf: Der Mann will alles untergehen lassen, seine elementaren Lebensbedürfnisse, die Sicherheit des Landes, “alles”, wenn sein ethnisches Bewusstsein durch die Nominierung “aschkenasischer Richter”, die (dem aschkenasischen) Netanjahu schaden könnten, verletzt werden sollte. Ein Paradebeispiel für den in diesem Lager vorwaltenden “autoritären Charakter” grüßen. Das ist kein individueller Ausnahmefall, sondern massenwirksam lodernder Hass.

Das Ressentiment ist, wie gesagt, nicht neu, aber inzwischen zur effektiven Waffe im demagogischen Kampf des populistischen Premiers gegen “die Justiz” verkommen. Das, was er braucht, um seinem Prozess (und der eventuellen Gefängnisstrafe) “legal” zu entkommen, ist zur Matrix der Ausrichtung seiner Partei, mithin zum Fundament des Staatsstreichs geronnen. Ob sich diese Spaltung der israelischen Lager wird überwinden lassen, ist mehr als zweifelhaft. Es scheint heute fraglicher denn je. Es ist allseits bekannt, dass man die Israel durchwirkenden Konfliktkoordinaten stets durch den Popanz eines “äußeren Feindes” (etwa Sicherheitsgefahr, Antisemitismus etc.) zu schwächen und die innere “Einheit” zu konsolidieren trachtete. Es gilt abzuwarten, welcher “äußere Feind” diesmal dafür wird herhalten müssen.

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9 Kommentare

  1. Derweil Israel wohl Exportlizenzen für Waffenlieferungen in die Ukraine erteilt hat, um von Russland eingesetzte iranische Drohnen abzuschießen.
    Natürlich nicht um die rechtsnationale, faschistische Ukraine, in der Massenmörder und Antisemiten als Nationalhelden geehrt werden und sich ein Naziregiment als Nationalgarde hält, zu unterstützen, sondern nur, um ‚iranische‘ Drohnen zu bekämpfen..

    1. Natürlich nur aufgrund der iranischen Drohnen. Die deutsche Regierung empfängt diesen „Freund und Helfer der Demokratie“ noch mit offenen Armen. Sieht auch gut aus, wenn man dann erst einmal gemeinsam an einer Holocaust-Gedenkstätte steht …

  2. Beängstigend, dass solche Vögel die Atombombe – beinahe – in ihren Händen halten: „Ein dominantes Mitglied der Likud-Partei sagte ihr: “Es ist mir egal, wenn ich nichts zu essen haben werde, wenn das Militär auseinanderfällt, wenn alles zugrunde geht. Hauptsache, wir werden nicht wieder erniedrigt und aschkenasische Richter werden nicht über ihn [Netanjahu] ernannt.”

  3. Was ist das denn für ein Foto? Sind die alle in Gilead? Die gleichen Uniformen wie in der Serie »Handmaid´s Tale«.
    Puuh, dann haben die Kostüme in der Serie sogar einen Hintergrund? urls

  4. Interessant, dass Netanyahu seit Amtsantritt zwar u. a. von Scholz, aber immer noch nicht von Biden eingeladen worden ist:

    „Prime Minister Benjamin Netanyahu has instructed all cabinet ministers to avoid traveling to the United States, and to avoid meeting US government officials if they do, until he is invited to the White House by US President Joe Biden, a report said Tuesday.
    The report by Channel 12 news said that Netanyahu is angry he has not been invited yet and believes any minister meeting American government officials would underline that the premier himself has not attended such a meeting.
    Two and a half months after forming his hard-right government, not only has Netanyahu not been invited to the US, there aren’t even initial talks about coordinating such a visit. The report noted that former premier Naftali Bennett, who entered office in June 2021, visited the White House in August of that year.“

    https://www.timesofisrael.com/netanyahu-said-to-bar-ministers-from-meeting-us-officials-until-biden-invites-him/

  5. Interview „mit dem unabhängigen Journalisten, Autor und Wirtschaftswissenschaftler Dr. Shir Hever über die Umstände, unter denen sein Vortrag über Kinderarbeit in Palästina von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Deutschland kurzfristig abgesagt wurde. Außerdem erkunden wir die Bedeutung der israelischen Wahlen und wie sie sich auf die Zukunft Palästinas auswirken könnten.“ 25.11.22
    englisch:https://www.shirhever.com/2022/11/19/mccarthyist-silencing-in-germany/
    deutsch:https://www.youtube.com/watch?v=4PQu_Lw1yQo&t=181s

    Palästina Initiative Region Hannover:
    „ (…) Shir Hever geht es nicht nur um die Zensur der GEW Baden-Württembergs, die er in wachsende Zensurtendenzen in Deutschland einordnet. Er sieht Parallelen zum McCarthyismus in den 50er Jahren in den USA, analysiert das Muster im hiesigen und in McCarthys Vorgehen und geht auch auf die Wahlergebnisse in Israel ein.
    Zur Vorgeschichte: (…)“

    1. „Zur Vorgeschichte: Der GEW Kreisverband Rhein-Neckar-Heidelberg wollte am 27. Oktober eine Veranstaltung mit Dr. Shir Hever (…) zum Thema Kinderarbeit in Palästina durchführen – diese Veranstaltung wurde gegenüber dem Referenten kurzfristig ohne nähere Begründung abgesagt. Vorausgegangen war – wie sich herausstellte – der auf die GEW mit einem Brief des Antisemitismusbeauftragten Baden-Württembergs, Dr. Michael Blume, ausgeübte Druck.
      Die GEW beugte sich dem und weigert sich, diesen Brief dem Referenten und der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu geben. Offensichtlich sollte versucht werden, auf Grundlage einer Annahme, dem Referenten von vornherein – prophylaktisch – die Möglichkeit zu entziehen, Meinungen zu vertreten, die mutmaßlich die israelische Besatzungspolitik kritisieren und damit nicht der regierungsoffiziellen Auffassung entsprechen.
      Der Antisemitismusbeauftragte Dr. Michael Blume hat sich damit angesichts dessen, dass auch unter jüdischen Menschen die israelische Politik umstritten ist, die Hoheit angemaßt zu beurteilen, wer ein „richtiger“ und wer ein „falscher“ Jude ist.
      In der Presseerklärung der Jüdischen Stimme vom 11.11. heißt es dazu u.a.: “Dass die GEW sich diese nicht anderes als antisemitische Einstellung zu eigen macht, werden wir nicht schweigend hinnehmen.”
      Peinlich ist auch, dass Dr. Shir Hever angeboten wurde, sich gegen die Auszahlung des vereinbarten Vortragshonorars zum Stillschweigen über den Vorgang zu verpflichten.“
      ( Palästina Initiative Region Hannover https://www.palaestina-initiative.de/ )

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