Thüringer Landesregierung lässt bayerischen NSU-Ausschuss auflaufen

Konstituierende Sitzung Untersuchungsausschuss NSU II. Bild: Bayerischer Landtag

Die Abgeordneten müssen die einstige Neonazi-Führungsfigur Tino Brandt, zugleich langjähriger V-Mann des Verfassungsschutzes, befragen, ohne die dafür notwendigen Akten bekommen zu haben – So wird Aufklärung programmatisch verhindert

 

Dem derzeitigen bayerischen NSU-Untersuchungsausschuss bereitet nicht nur die CSU-geführte Landesregierung des Freistaates Probleme, sondern auch die von der Linkspartei geführte rot-grün-rote Landesregierung Thüringens, das sich ebenfalls Freistaat nennt. Unter Ministerpräsident Markus Söder wurden in München Daten gelöscht und Akten zum NSU-Komplex vernichtet. Und unter Ministerpräsident Bodo Ramelow wurden dem Ausschuss jetzt Akten vorenthalten, die er zur Befragung des Zeugen Tino Brandt gebraucht hätte.

Die fehlende Aufklärung der NSU-Mordserie ist also nicht nur eine Frage der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart. Nicht nur eine Frage der Sicherheitsbehörden, sondern vor allem der Politik, die diese Behörden deckt und machen lässt – eine übergroße Koalition von CSU, Freien Wählern, Linkspartei, Grünen und SPD gewissermaßen. Für mögliche aufklärungswillige Abgeordnete im bayerischen Landtag umso schwieriger, denn die Blockierer befinden sich auch in den eigenen Parteien.

Konkret: Am 24. November 2022 war Tino Brandt als Zeuge vor den Untersuchungsausschuss in München geladen. Er war einst eine der wichtigsten Neonazi-Figuren in Thüringen und zugleich Spitzel des dortigen Verfassungsschutzes.

Er steht für eine Art Paradigma: Der NSU-Komplex ist aus der Perspektive von Rechtsextremisten zu betrachten, aber genauso aus der des Geheimdienstes.

Mit 17 begann Brandt in der rechtsextremen Szene mitzumachen. Mit 19 erklärte er sich zur Kooperation mit dem Landesamt für Verfassungsschutz in Thüringen unter dem Decknamen „Otto“ bereit. Das war 1994, vier Jahre vor dem Untertauchen des Trios Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe, das er gut kannte.

1994 war ein wichtigstes Jahr. Neben Brandt wurde eine Reihe weiterer Neonazis als V-Leute angeworben, die später im Kontext NSU eine Rolle spielten: Thomas Richter (Deckname „Corelli“) aus Sachsen-Anhalt, Michael See („Tarif“) aus Thüringen,  Achim Schmidt („Radler“) aus Baden-Württemberg oder Carsten Szczepanski („Piatto“) aus Berlin/Brandenburg. Der Verfassungsschutz war also bereits vor dem NSU mit mehreren Figuren auf dem Spielfeld vertreten. Im selben Jahr wurde außerdem der Westimport Helmut Roewer Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) in Thüringen.

Den rechtsextremen Thüringer Heimatschutz (THS) hat der Verfassungsschutz unter anderem mittels seines V-Mannes Brandt selbst mit gegründet. Und mit Brandt führte der Dienst die Gruppierung, in deren Umfeld der NSU entstand, gleich noch mit an.

Den „NSU“ will er nicht gekannt haben, nur die drei Untergetauchten, erklärt er jetzt im bayerischen Landtag. Er sagt: „Ich kann mir auch heute noch nicht vorstellen, dass die als Mörder-Trio unterwegs waren.“ Vorstellen könne er sich aber, dass sie die Banküberfälle verübt haben.

Über die drei Untergetauchten sei seitens des Verfassungsschutzes (VS) nicht geredet worden: „Das war nicht erwünscht.“ Es hätte den V-Mann „Otto“ enttarnen können, wenn er in der Szene zu sehr nach den Dreien nachgebohrt hätte. Außerdem hätte das nicht der Rolle einer Führungsfigur entsprochen.

War für den Verfassungsschutz Brandts Rolle in der Szene also wichtiger, als das Trio zu finden? Oder wurde Brandts Mithilfe dabei etwa gar nicht benötigt?

Über Brandt war der Dienst auch an der Finanzierung der Untergetauchten beteiligt. Er kaufte mehrere Exemplare des selbstgemachten Brettspiels Pogromly. Das Geld ging an das Trio.

Vom Thüringer Landesamt ist im Laufe der Jahre jede Menge Geld an Brandt und den THS geflossen (Brandt: „Ein großer Sponsor“). Mit dem Geld wurde das Kameradschafts-Netzwerk aufgebaut, und der Dienst konnte mit seiner Figur Brandt seinen Einfluss in der Szene sichern. Insgesamt soll es sich um eine sechsstellige Summe gehandelt haben.

Der Dienst warnte seinen Spitzel vor Durchsuchungen der Polizei, so dass er belastendes Material aus der Wohnung bringen und zum Beispiel in einem Schließfach am Bahnhof bunkern konnte. Straftaten hätten den Dienst nicht interessiert, gibt Brandt jetzt im November 2022 zu Protokoll. Und wenn er ein Wochenende in Polizeigewahrsam verbringen musste, habe es vom VS eine „extra Trostprämie“ gegeben.

Der Name Tino Brandt durchzieht den gesamten Bericht des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses von 2019. In dem Gremium hatte auch ein leitender Vertreter des Verfassungsschutzes ausgesagt, dass die Enttarnung Brandts im Jahr 2001 durch „einen Vertreter aus den eigenen Reihen“ erfolgt sei, sprich durch den Dienst selber. Die bisher unbeantwortete Frage ist, weshalb?

Im Juli 2014 musste Brandt als Zeuge im NSU-Prozess in München aussagen. Dabei konfrontierte ihn das Gericht auch mit seinen Treffberichten beim Verfassungsschutz. Zeugnisse eines überzeugten, kleinkarierten Spitzels, der dem Geheimdienst detailliert über die Szene berichtete. Für die Angeklagte Beate Zschäpe war das offensichtlich zu viel. Am zweiten Tag von Brandts Vernehmung sprach sie ihren drei Verteidigern das Misstrauen aus und sorgte für eine Zäsur in dem Verfahren. In der Folge bekam sie zwei zusätzliche Verteidiger. Der Prozess stagnierte ein Jahr lang.

Vorläufiger Schlusspunkt von Brandts zwielichtiger Karriere war im Dezember 2014 seine Verurteilung zu fünfeinhalb Jahren Haft wegen vielfachen Kindesmissbrauchs. Unter anderem hatte er Jungen an Männer zum Sex vermittelt. Ein kriminelles Feld, das im Zusammenhang mit der Neonazi-Szene nicht nur einmal auftaucht. Auch auf einem Computer des Trios wurden kinderpornografische Bilder entdeckt.

Fehlende Akten ermöglichen eine Märchenstunde

Jetzt erscheint dieser Mann also als Zeuge vor dem bayerischen NSU-Untersuchungsausschuss und die Abgeordneten sind nicht in der Lage, ihn qualifiziert zu befragen und seine Antworten anhand von Akten des Thüringer Verfassungsschutzes zu überprüfen. Die Behörde enthält dem Landtagsgremium die Unterlagen vor. Daneben warten die Abgeordneten aber auch noch auf Unterlagen des Generalbundesanwaltes.

Der Zeuge Brandt merkt schnell, was für Wissenslücken die Abgeordneten haben, und nutzt das, um seine Vernehmung in eine Märchenstunde umzuwandeln. Beispielsweise erklärt er, aus der sächsischen Szene niemanden gekannt zu haben. Schießübungen  mit scharfen Waffen bestreitet er. Ein Foto zeigt ihn aber in Südafrika mit einem vollautomatischen Gewehr. Er gibt zu, dort Schießübungen mitgemacht zu haben. Aber in Deutschland hätten sie höchstens Spielzeugwaffen benutzt. Ihm falle auch niemand aus der Szene ein, der scharfe Waffen hatte, erklärt er in der Ausschusssitzung. Von der Waffenübergabe im Frühjahr 2000 durch Carsten Schultze an Mundlos und Böhnhardt will er nichts gewusst haben.

Mindesten zwei Lieferstränge mit Waffen nach Thüringen sind inzwischen bekannt. Das Trio hatte 20 Schusswaffen in seinem Besitz. Ein zweiter Strang führte ebenfalls nach Thüringen, wo er endete, ist bis heute unklar. Über ein Dutzend Leute waren an diesen Beschaffungsketten beteiligt. Sprengstoff hatte nahezu jedes Szenemitglied.

Wo er herkam, ist bis heute ebenfalls nicht aufgeklärt.

Der Thüringer Tino Brandt war im bayerischen Coburg beim rechtsextremen Verlag Nation Europa angestellt. Das soll den föderalistisch aufgestellten Dienst durcheinander gebracht haben. Das Thüringer Landesamt soll Angst gehabt haben, dass ihn die bayerischen Kollegen übernehmen könnten. Er sollte sich deshalb nach Thüringen zurück ummelden und tat es.

In Plauderton verfallen unterläuft Brandt dann noch ein möglicher Fehler, der so einiges über die Verquickung von Szene und Verfassungsschutz (VS) aussagt. Die Neonazis hatten das Prinzip aufgestellt, sich einem Kameraden zu offenbaren, sollte man vom VS auf eine Mitarbeit angesprochen werden. Er habe sich Kai Dalek aus Bayern offenbart, sagt Brandt. Der habe ihm die Erlaubnis gegeben, mit dem VS zu sprechen. Dalek galt als Führungskader in der Szene, war zugleich aber ebenfalls ein V-Mann, wenn nicht sogar mehr.

Brandt hatte sich genau genommen also dem bayerischen Verfassungsschutz anvertraut. Informierte der daraufhin die Thüringer Kollegen? Hat Brandt selber seinen Führungsbeamten in Kenntnis gesetzt und teilten die das wiederum den bayerischen Kollegen mit? Hatte der Thüringer Dienst vielleicht vorgeschlagen, dass sich Brandt Dalek anvertrauen solle, damit die Enttarnung unwirksam blieb? Finden sich Antworten dazu in den Akten? Die Geschichte zeigt aber auch, dass in Bayern ebenfalls VS-Unterlagen über Brandt vorhanden sein müssten. Zum Beispiel in den Akten von Dalek. Allerdings gehörten zu den bevorzugt vernichteten Akten im Geschäftsbereich des bayerischen Innenministeriums ausgerechnet die zu Kai Dalek.

Als Zeuge im NSU-Prozess äußerte sich Dalek auf die Frage, ob er von Brandts Spitzeltätigkeit wusste, schwammig. Er habe es zwar nicht gewusst, aber vermutet, sagte er aus.

Brandt pflegt jetzt im U-Ausschuss ein ähnlich zweideutiges Auskunftsverhalten. Auf die Frage, ob sich Szenemitglieder auch bei ihm als THS-Führungsfigur gemeldet haben, weil sie vom VS angesprochen wurden, antwortet er: „Ja, öfter.“ In der Kameradschaft Jena habe es drei oder vier Fälle gegeben. Das ist etwa ein Drittel der Mitgliederzahl. Brandt weiter: Wer V-Mann war, habe man aber nicht gewusst.

Auf die Frage, was er dem Verfassungsschutz alles berichtet habe, sagt er, er habe nur mitgeteilt, was für Demos oder Veranstaltungen es gab, oder ob Leute aus anderen Bundesländer anreisten. Er habe nie Berichte geschrieben. Aufträge seien ihm nicht erteilt worden, er habe kein agent provocateur sein wollen.

Die Ausschussmitglieder müssen ihm das so abnehmen, weil sie es nicht überprüfen können. Die Frage bleibt aber: Wie liefen die Treffs von ihm mit seinem Führungsbeamten genau ab? Bekam er doch Aufträge und mit welchem Ergebnis wurden sie erledigt? Indem er die Dokumente zurückhält, schützt der VS seinen einstigen Spitzel also noch im Jahr 2022. Vor allem aber schützt er damit die Wahrheit. Allem Anschein nach ist die nicht so freundlich, dass sie bekannt werden dürfte.

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3 Kommentare

  1. Danke schön für den Bericht, Herr Moser.
    So direkt habe ich den Honigtopf für zu erwartende, geschaffene, sogenannte Rechtsradikale und dessen staatlich alimentierte Förderer und Begründer noch nie beschrieben sehen.
    Leider, leider wird natürlich von Politik, Geheimdiensten und Gesinnungsjustiz infolge derer anzunehmenden staatlichen Selbstdelegimentierung nach Strich und Faden gemauert werden.
    Was im Zuge der derzeitigen Tagespolitik allerdings kaum noch ins Gewicht fallen sollte.
    Wie sagte schon die Oggersheimer KanzlerBirne: ah weng Bimbes.

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