Stell dir vor, der Anschlag vom Breitscheidplatz ist vor Gericht und keiner kriegt’s mit

Berliner Kammergericht. Bild: Ansgar Koreng / CC BY-SA 3.0 (DE)

Am 23. Februar 2023 begann vor dem Berliner Kammergericht der Prozess gegen Semsettin E. und Jagar S.H., die mit dem angeblichen LKW-Attentäter Anis Amri in engem Kontakt standen. Diesen Zusammenhang verschweigt die Justiz.

 

Der Anklagevorwurf gegen Semsettin E. und Jagar S.H. lautet allgemein auf „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland“, womit der Islamische Staat (IS) gemeint ist, was wiederum die Verhandlung vor einem Staatsschutzsenat erklärt. Die konkrete Tat erscheint dagegen eher wie eine Kleinlichkeit: Jagar S.H. soll seinem großen Bruder Husan S.H. seine Ausweispapiere zur Verfügung gestellt haben, damit der ins Kriegsgebiet des IS in Nordsyrien reisen konnte. Semsettin E. soll dabei geholfen haben. Husan S.H. wird in einem eigenen Verfahren „gesondert verfolgt“, wie es heißt.

Den bedeutenderen Zusammenhang verschweigt die Justiz aber: Sowohl die Brüder Husan und Jagar als auch Semsettin E. zählten zu den Aktivisten in der ehemaligen Fussilet-Moschee in Berlin-Moabit, von der aus der Terroranschlag am 19. Dezember 2016 auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz mutmaßlich geplant und durchgeführt wurde. Sie standen unter anderem in Kontakt mit dem angeblichen Attentäter Anis Amri. Die Person Semsettin E. ist dabei von besonderer Bedeutung. Ihr gegenüber soll Amri nach der Tat gesagt haben, er sei nicht daran beteiligt gewesen und werde zu Unrecht beschuldigt.

An dieser Stelle eine Zwischenbemerkung: Als Beobachter der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse gehe ich davon aus, dass die Tat von mehreren Personen geplant und ausgeführt wurde. Anis Amri war einer von ihnen, meiner Einschätzung nach aber nicht derjenige, der den Lastwagen in die Menschenmenge des Weihnachtsmarktes gesteuert hat.

Das Kammergericht ist das höchste Strafgericht in Berlin, vergleichbar mit den Oberlandesgerichten in anderen Städten. Bereits Mitte Dezember 2019, vor mehr als drei Jahren also, hat die Generalstaatsanwaltschaft Berlin Anklage gegen Semsettin E. und Jagar S.H. erhoben. Dass die Prozesseröffnung so lange gedauert hat, hängt möglicherweise mit dem Hintergrund des Verfahrens zusammen. Nach dem Ende der Untersuchungsausschüsse im Bundestag, im Abgeordnetenhaus von Berlin sowie im Landtag von Nordrhein-Westfalen ist der Anschlag vom Breitscheidplatz nun nicht mehr im Fokus der Öffentlichkeit. Die Justiz erklärt die lange Dauer zwischen Anklageerhebung und Prozesseröffnung damit, dass wegen Corona weniger Prozesse stattfinden konnten und Haftsachen Vorrang hatten, also Fälle, in denen die Angeklagten in U-Haft saßen.

Große Aufmerksamkeit erfuhr die Prozesseröffnung gegen die zwei ehemaligen Fussilet-Mitglieder so jedenfalls nicht. Im Sicherheitssaal des Kammergerichtes nahmen gerade mal drei Journalisten und ein Zuschauer Platz.

Die Brisanz des Verfahrens kommt im Vertreter der Anklagebehörde zum Ausdruck: Oberstaatsanwalt Thorsten Neudeck, der in der Generalstaatsanwaltschaft die Staatsschutzabteilung leitet, verlas persönlich die Anklage. Seine Behörde betreibt für und anstelle der Bundesanwaltschaft die Staatsschutzverfahren in der Hauptstadt.

Prominenz übrigens auch bei den Anwälten. Semsettin E. wird verteidigt von Rechtsanwalt Detlef Kolloge. Er stammt aus der Anwaltssozietät, in der auch Gregor Gysi tätig ist und vertrat im Münchner NSU-Prozess Angehörige des Rostocker Mordopfers Mehmet Turgut.

Jagar S.H. und Semsettin E. gehörten zum radikalen Kern der Fussilet-Moschee und des Moschee-Vereins, der nach dem Anschlag verboten wurde. Mehrere Sicherheitsbehörden überwachten die nominell-islamistische Szene in Berlin. Das Landeskriminalamt und das Landesverfassungsschutzamt von Berlin, BKA und Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) sowie das LfV Mecklenburg-Vorpommern hatten mindestens sieben Informanten in der Moschee im Einsatz. Generalstaatsanwaltschaft Berlin, LKA Berlin und BfV führten Akten zu einer ganzen Reihe bekannter Szenemitglieder. Darunter Anis Amri, Bilel Ben Ammar, aber auch Semsettin E. Er wurde observiert und sein Telefon abgehört. Er unterhielt unter anderem engen Kontakt zum angeblichen Attentäter Amri. Sowie zu Rostam A., der in der kleinen Moschee in der Perleberger Straße direkt gegenüber einer großen Polizeiwache so etwas wie der Hausherr war und in dieser Rolle über viele freundschaftliche Kontakte zur Polizei verfügte. Semsettin E. war, wie eine Reihe anderer Islamisten auch, im bürgerlichen Beruf Mitarbeiter einer Security-Firma und hatte dadurch ebenfalls vielfältige Kontakte zur Polizei.

Italienische Terrorermittler kamen nach dem Anschlag zu der Einschätzung, dass Semsettin E. und die Brüder Jagar und Husan S.H. zu einer etwa zwölfköpfigen Gruppe von Islamisten in der Fussilet-Moschee gehörten, die Anschläge planten. Weil es bei dem Anschlag in Berlin auch ein italienisches Todesopfer gab, weil der angebliche Attentäter Amri aus Italien nach Deutschland gekommen war und außerdem in Italien den Tod fand, führte Italien eigene Terrorermittlungen durch. Ihre Erkenntnisse teilten die italienischen Ermittler mit ihren deutschen Kollegen.

Was ist vom Dementi Amris zu halten?

Im November 2019, als in Deutschland drei parlamentarische Untersuchungsausschüsse liefen, davon zwei in Berlin, soll ein Informant gegenüber einer Sicherheitsbehörde Folgendes berichtet haben: Laut Semsettin E. soll Amri kurz nach dem Anschlag gesagt haben, er sei nicht daran beteiligt gewesen und werde zu Unrecht beschuldigt. Das im Tat-LKW aufgefundene Dokument, eine Duldungsbescheinigung der Ausländerbehörde Kleve vom August 2016, habe er Monate vorher bei der Polizei in Berlin abgegeben. Bemerkenswert ist diese Entschuldigung deshalb, weil sich Amri in den Augen der Ermittler ja zu der Tat bekannt haben soll, indem er zum Beispiel persönliche Gegenstände, wie Handys und Geldbeutel, in dem Fahrzeug hinterließ. Ein Tat-Dementi passt damit nicht so recht zusammen. Zu dem Dementi würde dagegen wiederum ein zweites Dementi von Amri passen, denn er hatte sich per WhatsApp-Nachricht auch gegenüber Freunden von dem Anschlag distanziert: „Ich habe mit dieser Sache nichts zu tun. Bitte helft mir“, hatte er geschrieben.

Wegen des angeblichen Tatdementis Amris gegenüber Semsettin E. wurde der im April 2020 vom BKA zur Zeugenvernehmung einbestellt. Er erschien nicht und ließ durch seinen Anwalt mitteilen, er mache von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch. Nun geschah etwas Ungewöhnliches: Die Bundesanwaltschaft akzeptierte die Weigerung und verzichtete auf die Vernehmung. Wenn man heute bei der obersten Strafverfolgungsbehörde in Karlsruhe nach diesem Vorgang fragt, bekommt man die irritierende Auskunft: „Der Hinweis auf ein Tat-Dementi des Anis Amri konnte durch die Ermittlungen nicht bestätigt werden.“ Was für Ermittlungen, fragt man sich, wenn der Hauptzeuge gar nicht vernommen wurde? Eher handelt es sich um Nicht-Ermittlungen.

Wer der Informant war, der über Semsettin E. und dessen Kontakt mit Amri berichtet hatte, ist nicht bekannt. Auch nicht, für welche Behörde er im Einsatz war.

Nach dem Anschlag verließ nicht nur Anis Amri die Stadt, ehe er vier Tage danach in Italien von Polizisten erschossen wurde. Unter anderem tauchte sein Zimmermitbewohner Khaled Abdeldaim zwei Wochen lang unter, ehe er aufgespürt wurde. Bilel Ben Ammar, der Amri 2015 nach Deutschland geholt hatte, war zehn Tage von der Bildfläche verschwunden. Und auch Semsettin E. verließ Berlin für zwei Wochen Richtung Türkei und Saudi-Arabien. Knapp ein Dutzend Kontaktpersonen von Amri wurden 2017 aus Deutschland abgeschoben.

Der jetzige Prozess erscheint wie ein Ersatz für den eigentlich notwendigen Prozess gegen Mitwisser oder Mittäter des Anschlags. Wie eine nebensächliche Inszenierung, um nicht die Hintergründe der Tat vom Breitscheidplatz, der 13 Menschen zum Opfer fielen, untersuchen zu müssen. Im März sind sechs Verhandlungstage terminiert.

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3 Kommentare

  1. Die ganze Geschichte ist genau so bescheuert wie die NSU-Fabel.
    (Man denke nur an das angeblich vorne auf der Stoßstange gefundene Handy…)
    Am Besten gar nicht beachten.

    Tragisch nur, dass bei diesen Inszenierungen immer wirklich lebende Menschen sterben mussten.

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