Aufgrund des Krieges in Nahost wurden in den letzten Wochen demonstriert, wie schon lange nicht mehr. Eine der größten Massenvertreibungen der Gegenwart findet allerdings woanders statt – und erlebt fast keinerlei Aufmerksamkeit.
„Ich musste damals gehen. Man wollte uns nicht mehr haben“, sagt Zabi, 34, aus Kabul. „Damals“ – das war im Jahr 2017, als der Afghane gemeinsam mit einem Teil seiner Familie vertrieben wurde. Seit seiner Kindheit lebte er in Peschawar in der pakistanischen Provinz Khyber Pakhtunkhwa, wo in den letzten Jahrzehnten Hunderttausende von Afghanen eine Zuflucht fanden aufgrund der Kriege, die in ihrer Heimat tobten.
Zabis Vater gehörte zu jenen Geflüchteten, die bereits in den 1980er-Jahren ins Nachbarland gingen. Damals wurde Afghanistan von der Sowjetunion besetzt und Massenbombardements und Vertreibungen gehörten zum blutigen Alltag. Später folgten neue Unruhen und Konflikte. Dass Zabi irgendwann zurückmuss, kam ihm nie in den Sinn. Er wuchs in Pakistan auf, ging dort zur Schule und sprach fließend Urdu. Dann kam eine große Abschiebewelle des pakistanischen Staates und viele Afghanen mussten gehen. Nur Zabis Bruder, der andere Dokumente hatte und ein kleines Geschäft führte, durfte bleiben.
„Am Anfang war es schwierig für uns. Wir hatten hier Angst, auf die Straße zu gehen. Es gab Bombenanschläge und Räuberbanden, die mordeten“, erinnert sich Mohammad Ayoub, Zabis Vater, an seine erste Jahre in Kabul. Er kehrte in den Westen Kabuls, aus dem er ursprünglich stammte, zurück. Doch vieles hatte sich verändert. Die meisten Freunde, Nachbarn und Verwandten hatten vor Jahren das Land verlassen. „Am besten wäre es, wenn wir nach Pakistan zurückkehren“, so Ayoub.
Doch dies wird wohl nicht mehr geschehen, wie die letzten Tage und Wochen gezeigt haben. Während viele Menschen auf Gaza, Tel Aviv oder die Westbank blicken, haben sie wahrscheinlich noch nie von Torkham gehört. An ebenjenem Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan herrschen abermals dystopische Verhältnisse. Der Grund: Rund zwei Millionen afghanische Geflüchtete werden von Pakistan gezwungen, das Land zu verlassen. So viele, wie noch nie zuvor. Der fadenscheinige Vorwand: Kollektiver Terrorverdacht. Dass dies ausgerechnet von Pakistan kommt, das jahrzehntelang militante Gruppierungen im Nachbarland, zuletzt allen voran die Taliban in den letzten zwanzig Jahren, unterstützt hat, ist absurder Zynismus in Orwellscher Manier.
„Sie wollen immer alles auf uns abwälzen. Das hat lange Tradition dort“, sagt Zabi. In Pakistan konnte sein greiser Vater wenigstens ärztlich behandelt werden. In Afghanistan seien die Verhältnisse deutlich schlechter. Die Hoffnung, irgendwann nach Pakistan zurückzukehren, ging lange nicht verloren. Kein Wunder, denn Kabul war Zabi und seinen Geschwistern fremd. Als sie zurückkehrten, herrschte noch der Krieg der NATO. Selbstmordattentate der Taliban, brutale Militäroperationen und eine hohe Kriminalitätsrate bestimmten den Alltag.
In den letzten Wochen wurden bereits Hunderttausende von Menschen nach Afghanistan abgeschoben. Ohne ihr Hab und Gut mussten sie gehen. Es kam zu beeindruckenden Sitzprotesten entlang der Durand-Linie, der offiziellen Staatsgrenze zwischen Afghanistan und Pakistan. Sie wurde 1893 von den britischen Kolonialisten gelegt und hat seitdem für viel Unheil gesorgt. Damals fand das Great Game zwischen den Briten und den Russen statt – auf Kosten der Afghanen. Letzten Endes konnte das Empire sich durchsetzen, indem es mit Emir Abdur Rahman Khan einen gefügigen Herrscher in Kabul installierte. Der Emir bedankte sich für die britische Unterstützung und all die Waffen, die ihm geliefert wurden, indem er der neuen Grenze zustimmte.
Bis heute fühlen sich viele Menschen in Afghanistan von der damaligen Entscheidung verfolgt. Die Entstehung des pakistanischen Staates, die ein halbes Jahrhundert später stattfand, und die damit verbundenen Repressalien betrachten sie deshalb nur als eine Art Fortführung britischer Kolonialpolitik.
Viele abgeschobene Afghanen kennen, ähnlich wie Zabi, ihre afghanische Heimat kaum und kamen vor Jahrzehnten ins Land. In pakistanischen Großstädten, wo in diesen Tagen auch zahlreiche propalästinensische Proteste stattfanden, wurden afghanische Geflüchtete gejagt, eingesperrt und gefoltert. Greise und Kinder wurden von Polizisten oder anderen bewaffneten Gruppen niedergeknüppelt. Der afghanische Massenexodus gehört jetzt schon zu den größten Vertreibungen der Gegenwart. Das Interesse daran hält sich allerdings, gelinde gesagt, in Grenzen.
Während viele Menschen in Pakistan für die Rechte von Palästinensern und Palästinenserinnen auf die Straße gehen, scheinen sie sich für die Repressalien des eigenen Staates kaum zu interessieren. Dasselbe ist auch global und in vielen mehrheitlich muslimischen Staaten zu beobachten. Abgesehen von der afghanischen Diaspora, die sich der Thematik widmet, liegt der Fokus auf Nahost. Dort scheinen die Ungerechtigkeiten einfach gestrickt zu sein, während die Emotionen hochkochen. Von diesem Narrativ profitieren auch brutale Diktaturen und repressive Regime wie das pakistanische. „Free Gaza“ gilt eben nicht vor der eigenen Haustür.
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Es wird eben überall eng, wo die Geburtenrate zu hoch ist. Und hier sind es zwei Nachbarländer:
– 1960 bis 2022 stieg die Einwohnerzahl in Pakistan von 44,99 Millionen auf 235,82 Millionen,
– 1960 bis 2022 stieg die Einwohnerzahl in Afghanistan von 9,00 Millionen auf 41,13 Millionen,
die vollkommen Übervölkert sind. Dazu gibt es noch Überschwemmungen in P, die den Lebensraum und den Nahrungsanbau weiter einschränken. Und A ist in weiten Teilen sehr karg, fast Wüstenähnlich.
Danke der Zahlenrecherche, bringt aber nix. Es scheint allgemeiner Konsens zu sein das Thema Überbevölkerung nicht zur Kenntnis zu nehmen. Weder dort noch in Äthiopien, Sudan, weder in Zusammenhang mit ökonomischen und sozialen noch mit Umweltfragen – nix. Ein Elefant im Raum, man man da steht in der öffentlichen Diskussion so langsam ein ganze Elefantenherde. Deshalb drehen sich die ganzen Diskussionen auch so fruchtlos im Kreis.
Wenn die angebliche Überbevölkerung der Grund ist, warum existieren so viele Kriege mit tausenden von Toten und Völkerwanderungen auf dieser Welt?
Weil man nach günstigen Facharbeiter Ausschau hält, weil man erarbeitetes Geld nach Hause sendet, weil man die heimische Bevölkerung gegen andere bewegt, oder das das KAPITAL weiterhin ihr mieses Spiel betreibt, um andere zu beschäftigen?
Der Fragenkatalog ist nicht vollständig, da ich die Digitalisierung, Drohnentechnik, und erwartete Gewinne der Zocker nicht eingebracht habe.
Nicht der Mensch ist das Problem, sondern die Gier.
1, Wieso sollen Kriege und Überbevölkerung ein Widerspruch sein?
2. “Nicht der Mensch ist das Problem, sondern die Gier.” – des Menschen?
Oben sagtest du noch, das Kapital sei die Ursache. Also ökonomische Gesetzmäßigkeit, Vermehrung des vorgeschossenen Kapitals oder menschlicher Charaktermangel.
Ich glaube ersteres ist der Grund und das Zweite eine Ideologie. Kann man nichts machen, der Mensch ist halt so.
und das Tier im Menschen, Revierverteidigung, ist auch nicht zu vernachlässigen…
Revierverteidigung ist kein Problem, wenn sie sich auf das eigentliche Revier, wo man geboren ist, beschränkt.
Die Gier fast aller ist allerdings ein Problem.
War klar, dass die sog. Humanisten aufschlagen und zum Thema “Über” bevölkerung sinieren.
Bloß nicht differenzieren und möglichen Ursachen auf den Grund gehen, warum eigentlich immer die kapitalistische Peripherie gemeint ist, in der ein fatalistisches “zuviel” an Menschen vorkommt.
Auch wir hier im Zentrum sind zuviel. Und wir Hirnis bestellen unseren Nachwuchs massenhaft von draussen.
In der Tat, ein jämmerliches Theater über die Situation von Millionen von Menschen.
Jedoch, befindet sich diesr Welt im Umbruch. Dieser Umbruch findet zuerst dort statt, wo potentiell existenzielle Rohstoffe sind, um danach andere unter versorgte Regionen aufzubauen.
Genau dieser Prozess findet gerade statt, das rekrutieren von ‘Kräften’, um den Aufbau zu ermöglichen. Ein Staat der sich unter neuen Bedingungen befindet, muss ersteinmal sich selbst als Führung beweisen, auch deshalb, weil international die politische Führung nicht anerkannt ist. Afghanistan bleibt aber trotzdem ein Staat der im dortigen Korridor inklusive Rohstoffe von starkem Interesse ist für die ‘neue’ Geopolitik.
Diese neue Geopolitik, wird vor allem im Finanzbereich neue Akzente erfahren und jeder ‘failed State’ wird eine Chance erhalten sich mit seiner ‘Politik’ zu behaupten.
Nächstenliebe, Mitmenschlichkeit, Humanismus oder Toleranz sind eben nicht wichtig im Islam. Die haben da einfach andere Prioritäten gesetzt!
Archipel Gaza Eben!
Bei meinen Reisen durch einige dieser Länder habe ich schlichtweg das Gegenteil erfahren.
Vermutlich gibt es auch dort Propaganda, die Menschen für ihre Ziele gewinnen kann.
Wie bei uns auch, nur das unsere Propaganda eben andere Ziele hat.
Ja Gastfreundschaft
Na also – dann kann der Islam ja nicht der Grund der Vertreibung sein.
Bei aller Berechtigung für die Kritik an der Handlungsweise der aktuellen pakistanischen Regierung darf man einen Unterschied zum Fall Gaza nicht verwischen. Dort sind diejenigen, die vertrieben werden sollen, Einheimische, es handelt sich um die autochthone Bevölkerung. Das hat schon noch eine eigene Qualität.
Die von den Engländern gezogene Grenze trennte auch Menschen die zur gleichen Volksgruppe gehören.
Juden sind immer die Guten und die anderen sind keine Menschen, so einfach ist das!
“Damals wurde Afghanistan von der Sowjetunion besetzt und Massenbombardements und Vertreibungen gehörten zum blutigen Alltag. Später folgten neue Unruhen und Konflikte.”
Wieder diese lückenhafte Nato-Erzählung.
Ende der 70er kämpften zuerst die linken Regierung gegen die von außen finanzierte Islamisierung, dann die Sowjetarmee, dann bekämpften sich die von außen (USA vs. Pakistan) aufgepäppelten Islamisten gegenseitig. Wie kommt der Autor auf die Idee, dass das “neue Unruhen und Konflikte” waren. Sie waren die direkte Folge der antikommunistischen Eindämmungsarbeiten der CIA in Afghanistan und weil Pakistan seine eigenen Gotteskrieg haben wollte, kamen dann die Taliban dazu. Die verselbständigten sich ebenso wie die mit Hilfe der CIA aufgebaute Al Kaida.
Die Nachwirkungen der Kolonialzeit nimmt der Autor in seine Erzählung auf, die von den USA geleitete postkoloniale Manipulation nicht. Ich kann mir das nur mit einer hartnäckigen Natophilie erklären.
Auch Pakistan betreffend ist mir die Empörungsschiene im Artikel ein bisschen zu nährwertreduziert. Dort kämpfen seit die USA ab 2001 die Islamisten bekämpften und die sich nach Pakistan zurückzogen die Militärs und Religiösen mit und gegeneinander. Miteindnader, wenn es gegen Indien oder Afghanistan geht, gegeneinander innerhalb Pakistans. Immerhin scheint der Autor dort so weit offen zu sein, dass er sich nicht blind auf eine Seite stellt und nur die Taliban oder nur die Militärs kritisiert.
Die linke Regierung hat sich blutig an die Macht geputscht. Da sie keinen Rückhalt in der Bevölkerung hatte rückte die Rote Armee zur Unterstützung an. Auch vor dem Putsch war keine starke Islamisierung vorhanden, man achtete halt die Tradition.
“Blutig an die macht geputscht”
König Saud wurde von Vetter Daud geputscht und er rief die Republik aus. Das passierte als König Saud im Ausland shoppen war. Unblutiger geht nicht.
Ein paar Jahre später wurde der Parteiführer Chaiber ermordet und Taraki zuerst verhaftet. Dann wird Daud gestürzt, erschossen und Taraki wird Präsident.
Das Blut (von einem) floss also schon vor dem Putsch. Dein “blutig an die Macht geputscht” und dein Getue als wäre das das Blut des Volks gewesen ist ziemlich neben der Spur.
Das städtische Afghanistan wäre zur Modernisierung bereit gewesen. Die Mullahs aber nicht. Die und ihre Anhängerschaft wurden über die Jahre stetig vom CIA mit Waffen und Geld gepäppelt, so dass immer mehr islamistische Widerstand herrschte, als die linke Regierung hätte in den Griff bekommen können.
Nach wenigen Monaten war Afghanistan ein Islamisten-Hotspot aus dem aus der ganzen Welt immer noch mehr Islamisten dazu strömten (Aubau der Al Kaida), weil dort (vgl. Syrien ab 2011) durch das ausländische Geld ein gutes Auskommen als Sölnder zu leben war.
Als die Sowjets raus waren, war die Lage so weit stabil, dass die Regierung weiter machte, bis die Sowjetunion die Unterstützungsgelder einstellte und die bis dahin Afghanistan-treuen Warlords auf die Gegenseite wechselten, weil dort weiterhin Geld zu verdienen war.
Dann übernahmen die Islamisten. Der Putsch war tatsächlich blutig.
Dummschwätz: Ich war zufällig gerade in der Gegend (Kabul) und habe in einem Ministerium nahe meiner Unterkunft die Arbeit der Hinrichtungskommandos vernommen.
Erzähl deine Ideologie jemand anderen.
“Dummschwätz”
🙂
Ein guter, durchdachter Kommentar – danke.
Nun sind überall auf der Welt die Muslimbrüder auf der Straße und die werden das nutzen, um Forderungen durchzusetzen, die sie schon immer stellen wollten. Ihr Ziel ist es, den gesamten sunnitischen Islam zu übernehmen, es soll keinen Islam ohne sie mehr geben. Orchestriert vom Obersten aller Muslimbrüder. Kennt ihr den? Er heißt Erdogan.
Die Abschiebung der Afghanen könnte durchaus eine ihrer Forderungen sein. Es ist auf jeden Fall ein unfreundlicher Akt gegen Afghanistan, das hierdurch eventuell destabilisiert werden soll.
Denn die Taliban sind definitiv keine Muslimbrüder. Das erklärt auch, warum der Islamische Staat dort mit unverminderter Gewalt die Regierung zu stürzen versucht. Der IS ist eindeutig Teil der Muslimbrüder.
Das wiederum wird der Iran zu verhindern versuchen. Eine Regierung aus Muslimbrüdern an seiner Ostflanke ist nun genau das, was er unter allen Umständen vermeiden will.
Soweit die sichtbare Geopolitik.