
Kunst, linke Gesinnung und politisches Engagement – sind sie miteinander vereinbar? Für Rolf Becker waren sie nicht auseinanderzuhalten. Er blieb sich dabei immer treu.
Am 12. Dezember 2025 ist Rolf Becker gestorben. Sein Tod kam nicht unerwartet, er war schwer krank. Und dennoch ist man fassungslos, wenn schließlich das Unabwendbare eintritt. Beim geliebten Freund allemal. Die folgenden Zeilen sind nicht als Nekrolog gemeint. Vielmehr will ich mich auf Rolf, den schauspielernden Künstler beziehungsweise auf den Stellenwert seines Berufs für ihn, beziehen, und nehme dafür einen bemerkenswerten Spruch von ihm zum Anlass einer Erörterung. Rolf sagte einmal in einem Interview: “Die Schauspielerei war für mich ein Ausweichen vor einer Wirklichkeit, mit der ich schwer zurande kam.”
Man darf diesem individuellen Bekenntnis paradigmatische Bedeutung beimessen. Von Arthur Schopenhauer bis Sigmund Freud ist bereits im Denken des 19. Jahrhunderts das Wissen darum bezeugt, dass wir alle in einer Wirklichkeit leben, mit der wir schwer zurande kommen. Die Realität unseres Daseins als soziale Wesen ist so strukturiert, dass sie unseren individuellen Bedürfnissen und Willensansprüchen fundamental entgegensteht. Das Lustprinzip, mit dem man auf die Welt kommt, prallt gleich nach der Geburt auf eine als feindlich empfundene Realität. Und sehr bald ist man gezwungen, das Ausweichen vor der unliebsamen Wirklichkeit, die uns als Einzelmenschen umgibt, zu erlernen.
Die Abwehrmechanismen sind bekannt: Abgesehen von der Verdrängung, eignen wir uns vor allem die Fähigkeiten zu rationalisieren (mithin uns selbst vernünftig zu belügen) und zu sublimieren (also Ersatzpraktiken für den eigentlichen Trieb, das verborgene Verlangen und “unzulässige” Sehnsüchte zu finden). Eine besondere Stellung im Bereich der Sublimation nimmt bekanntlich die Kunst ein, zumal sie auch mit dem Attribut der kulturellen Hochwertigkeit behaftet ist.
Die Kunst zeichnet sich durch ihren Doppelcharakter aus. Zum einen schwindelt sie uns etwas vor, ist in ihrem Bezug zur Wirklichkeit insofern ideologisch, als sie uns über diese bewusst hinwegtäuscht. Alle Kunst ist dem Postulat des “Als ob” verpflichtet. Wo die Kunst zur Realität übergeht, gibt sie sich selbst auf; die Realität ist gleichsam ihre Grenze. Zum anderen steckt aber gerade in dieser Eigenschaft der Kunst ihr Wahrheitsmoment: Indem sie einen Gegenentwurf zur Realität erstellt, hat sie sich gleichsam in ihrem So-sein gegen das empört, womit man im realen Dasein nur schwer zurande kommt. Sie bezeugt in diesem Gegenentwurf die schiere Möglichkeit einer anderen Wirklichkeit. Theodor Adorno sprach in diesem Zusammenhang von “jähem Entronnensein” (von der Realität), welches man im Kunstwerk erfährt. Und unter allen Künsten führt uns die Schauspielerei diese Janusköpfigkeit der Kunst, letztlich aber auch die unserer lebensweltlichen Realität vor Augen. Denn wir alle handeln und denken so, als ob bestimmte Annahmen wahr wären, obwohl wir wissen, dass sie es nicht sind – und zwar deshalb, weil sie für unsere Orientierung und Praxis unverzichtbar sind. Alle Menschen schauspielern in diesem oder jenem Maß, sowohl als normierte Alltagspraxis als auch bei den großen Ereignissen des Lebens.
Aber man kann Rolf Beckers Diktum auch auf einer anderen Ebene nachgehen. Denn wenn die Schauspielerei ihm ein Ausweichen vor einer Wirklichkeit war, dann steckt ja bereits im Ausweichen die Wirklichkeit – sowohl als Bewusstsein von ihrer Unerträglichkeit als auch in der praktischen Notwendigkeit, ihr ausweichen zu müssen: die schlechte Wirklichkeit als Anlass des (künstlerischen, mithin künstlichen) Ausweichens vor ihr. Hervorzuheben ist dabei, dass gerade in dieser Konstellation von Not und dem Entrinnen von ihr das Politische der Kunst liegt. Nicht in der Proklamation des Politischen, die allzu leicht zum platten Slogen verkommen kann, sondern im gleichsam “unbewussten” schieren So-sein der Kunst.
Mit Bezug auf die Religion bemerkte Marx bekanntlich: “Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.” Und er fügte hinzu: “Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.”
So lange fortbesteht, was die Religion als Auswirkung der Not hervorgebracht hat, nämlich das gesellschaftliche Elend, kann Religion nicht aufgehoben werden und wahrt zwangsläufig ihre narkotische Wirkung. Ob die Kunst gleichfalls aufgehoben würde, wenn die gesellschaftlichen Zustände so emanzipativ geordnet wären, dass sich Kunst als Gegenentwurf zur repressiven Realität erübrigt hätte, kann man nicht wissen. Aber solange das gesellschaftliche Elend fortbesteht, wahrt Kunst die latente Funktion als Platzhalterin des noch emanzipativ zu Erringenden. Darin, wie gesagt, ist sie zutiefst politisch.
Die in den Worten Rolf Beckers implizit angelegte Dichotomie von Wirklichkeit, mit der er schwer zurande kam, und der Schauspielerei als Ausweichen vor dieser Wirklichkeit, muss also aufgehoben werden. Das ist insofern wichtig, als somit der vermeintliche Gegensatz von Beckers Kunst und seinem Engagement als politischer Aktivist, in welchem das realitätsbezogene Ziel explizit war, sich von selbst aufhebt. Rolf war Sozialist, Humanist, Künstler und Schöngeist zugleich, ohne je diese Kategorien seines Daseins auseinanderdividieren zu wollen. Wer diese Symbiose von Künstlertum und politischem Kampf aufzulösen trachtete, waren die Sachwalter jener institutionalisierten Wirklichkeit, mit der er schwer zurande kam und gegen die er ankämpfte – ankämpfen musste.
Und so kam es, dass er auch in einer herzlosen Welt, in welcher der Geist geistloser Zustände herrscht(e), einen Preis zahlen musste. So berichtete die Kulturzeitschrift “Melodie & Rhythmus” im Jahr 2020, Rolf Becker sei eingeladen gewesen, im Wiener Albert Schweitzer Haus einen Erich-Fried-Abend unter dem Titel “Texte gegen Krieg und Entfremdung” zu gestalten. Der 1988 verstorbene Dichter war ein scharfer Gegner der Politik Israels gegenüber den Palästinensern. Es dauerte auch nicht lange, bis der Druck proisraelischer Aktivisten die Verwalter des Albert Schweitzer Hauses bedrängte, die Raumzusage für die Veranstaltung zu annullieren. Die Erklärung: “Weil Erich Fried, dessen Vater von der Gestapo ermordet worden war, den Zionismus abgelehnt und die israelische Besatzungspolitik kritisiert hatte, wird in diesen Kreisen bis heute gegen ihn gehetzt. ‘Fried war Antisemit, und wer seine Propaganda hören will, ist es auch’ [hieß es]”.
Für Rolf, der mit Fried befreundet gewesen war, war eine solche Diffamierung unfassbar: “Dass ausgerechnet in einem Haus, das nach Albert Schweitzer benannt ist, der die israelische Politik unter Netanjahu ganz sicher nicht gutgeheißen hätte, Werke des in Wien geborenen Juden Erich Fried nicht mehr vorgelesen werden dürfen, ist mehr als eine Schande […] Die Verantwortlichen sollten sich schämen.”
In einem Interview mit einer Lokalzeitung vom Januar 2003 wurde Rolf nach dem Einsatz für Slobodan Milošević und die Forderung dessen Freilassung befragt. Die Antwort war eindeutig: “Wir haben nie gefordert, dass Milošević freigelassen wird”, aber mit dem Zusatz: “Man kann nicht einen Mann vor ein Tribunal der Siegermächte stellen, weil die sich immer freisprechen. Die Verurteilung der Verbrechen, die es ohne Zweifel auch in Jugoslawien gegeben hat, musste durch den Internationalen Gerichtshof erfolgen, vor den auch Frau Thatcher, die Herren Schröder, Scharping, Fischer usw. hätten zitiert werden müssen.” Und auf die Frage, ob diese öffentliche Stellungnahme sich auf sein berufliches Schaffen ausgewirkt habe, antwortete Rolf: “Ja, 2004 hat die ARD im Kulturjournal behauptet: ‘Rolf Becker: Seltsames Engagement für Milošević.’ Das stimmte zwar nicht, aber schlagartig war für mich bundesweit Schluss. […] Offiziell wurde meine Sperre erst 2011 aufgehoben. Man muss eben in Kauf nehmen, dass man für seine Meinung gelegentlich auch eine Tracht Prügel bekommt.” Gefragt, ob er retrospektiv anders gehandelt hätte, sagte er: “Nein, aber ich hätte juristisch gegen die Unterstellungen vorgehen müssen.”
Auch in diesen beiden, hier exemplarisch aufgeführten Episoden der Schikane scheint die Rolf Beckers Leben durchwirkende Verschwisterung von Kunst und Politik auf. Wenn er Heine, Brecht, Fried oder das “Kommunistische Manifest” von Marx/Engels in seiner unvergesslichen Stimme rezitierte, war es ihm neben der Kunst um die Politik (bzw. um politische Aufklärung) zu tun. Zugleich war es aber auch die künstlerische Rezitation, die den Anlass zu seiner politisch ausgeschlachteten Verfolgung und (streckenweise erfolgreichen) Ausgrenzung gab. Dass er sich dabei immer treu blieb und nie einknickte, stand ganz außer Frage.
Als er bereits todkrank im Hospizbett lag, in welchem er wenige Tage später starb, hatte ich Gelegenheit, ihn ein letztes Mal per Video-Zuschaltung aus Tel Aviv zu sehen. Ich winkte ihm zu und bat ihn, mir zurückzuwinken. Da erhob er, sichtlich geschwächt, zugleich aber selbst noch in der Agonie unbeirrt, seine Faust zum sozialistischen Kampf- und Solidaritätsgruß.



Danke
Danke.
Als Rohwedder im Film “ ich bin ein Elefant madame“ hat er sich für immer in meine Erinnerung eingebrannt.
RIP
Das der Film eine Prophezeihung war. Hab ich in diesem Moment des Lesens erst erkannt.
Mit sozialistischem Gruß:
https://youtube.com/shorts/uvxO4KZ-sS8?si=ifFTsGpMi2YgN88D
Danke.
Lieber Rolf Becker, danke für Ihr Beispiel dafür, was „Aufrechter Gang“ bedeutet. r.i.p. Und danke Mosche Zuckermann für Ihre Worte zur Bedeutung des Schauspielers als Lebensform. Rolf Becker hätte sich darüber gefreut.