Polen nach Regierungswechsel: Vom Enfant terrible zum EU-Musterknaben?

Donald Tusk am 11.12 im polnischen Parlament. Bild: Piotr Tracz/Kanzlei des Sejm

 In seiner Regierungserklärung hat der neue Premier Donald Tusk vorläufig nur zu erkennen gegeben, in welchem Dilemma sich Polens EU-Politik bewegt.  

Tusks Vorstellung des Regierungsprogramms bestand zu großen Teilen in einer Abrechnung mit der alten nationalkonservativen PiS-Regierung, die in der Aussage gipfelte, dass das Wahlergebnis vom 15.10. „ein friedlicher Aufstand für die Demokratie“ und gegen die „brutalen politischen Kämpfe“ der PiS war. In langen politisch-philosophischen Ausführungen propagierte Tusk „die Kraft durch Einheit“.

Auf viele drängende Fragen der polnischen Innenpolitik, wie die inflationsbedingte neue Armutsentwicklung oder die katastrophale Unterfinanzierung des Gesundheitswesen, gab Tusk keine Antworten. Tusks europapolitische Aussagen waren eher ambivalent. „Je stärker die EU ist, um so stärker ist auch Polen“ rief er den Sejm-Abgeordneten zu. Andererseits verkündete er im Zusammenhang mit aktuellen Handelskonflikten mit der Ukraine: „Wir werden gegenüber allen, wirklich allen Nachbarn unsere polnischen Interessen vertreten.“

Wahrscheinlich wird Tusk, zumindest in der ersten Phase seiner Regierungszeit, tatsächlich bemüht sein, „nationale Zuverlässigkeit“ unter Beweis zu stellen. Immerhin hatte der verbitterte PiS-Vorsitzende Kaczynski ihn noch kürzlich als „Agenten Deutschlands“ tituliert. Tatsächlich gilt Tusk bei vielen Polen nicht erst nach seiner Wahl zum EU-Ratspräsidenten 2014 als Vertrauensperson vor allem Berlins, worin wiederum nicht alle einen Nachteil sehen. Tusk hängt immer noch nach, dass er und seine damalige Partei KLD nach Enthüllungen seines politischen Weggefährten Pawel Piskorski in den 90ern mit einem Millionen-Kredit der CDU unterstützt wurden. Eine erste Prüfung „nationaler Zuverlässigkeit“ haben die Europapolitiker seiner Partei zumindest  bereits im November bestanden.

Ein von den deutschen Linken bis zu den Konservativen diverser Länder reichendes Bündnis hatte im EU-Parlament den Anstoß für einen neuen EU-Vertrag gegeben. In 65 neuen Bereichen soll nach dem beschlossenen Antrag das Prinzip der Einstimmigkeit bei den Ratsbeschlüssen aufgehoben werden. Neue Zuständigkeiten soll die EU u. a. in der Außenpolitik, in der Industrieförderung und im öffentlichen Gesundheitswesen bekommen. Die endgültige Entscheidung über die Änderungen des EU-Vertrages müsste allerdings im Europäischen Rat, und dies vorläufig noch einstimmig, gefällt werden.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben alle polnischen EU-Abgeordneten gegen den Antrag gestimmt. Ohne Referendum wäre es für jede polnische Regierung nur schwer zu rechtfertigen, einer weitgehenden Aufgabe des Veto-Rechts im Europäischen Rat zuzustimmen, zumal man mit Bestimmungen des polnischen Verfassungsrechts in Konflikt käme. Andererseits betonen selbst die Nationalkonservativen die große Bedeutung der EU auch für Polen. Aber sie sehen EU-Europa als Staatenbündnis, nicht als Bundesstaat. Auch die überwiegende Mehrheit der polnischen Bevölkerung bekennt sich zur EU. Die bescheidene Wohlstandsentwicklung der letzten 20 Jahre bringen viele in Zusammenhang mit der EU-Mitgliedschaft. Selbst mit gesellschaftspolitischen Vorgaben der EU wie LGBT-Rechten hat offenbar eine Mehrheit keinerlei Probleme, was die PiS nicht erkannte und auch deshalb die Wahlen verlor.

Dennoch haben viele Polen die Vorstellung, dass die EU von einer Achse Deutschland-Frankreich-Benelux dominiert wird und ihr Land nur in der zweiten Klasse spielen darf. Das große West-Ost-Gefälle bei Einkommen und Löhnen, z. T. innerhalb der gleichen Konzerne, ist den meisten geläufig. So war es vor allem der Anspruch, Polen politisch und ökonomisch zu einem „Partner auf Augenhöhe“ zu machen, der den Nationalkonservativen bei den Sejm-Wahlen 2015 und 2019 eine Mehrheit einbrachte. Nach einem von Mateusz Morawiecki noch in seiner Zeit als Vize-Premier entwickelten Konzept sollte ein bedeutsamer nationaler Kapitalstock aufgebaut werden. 24 große lukrative Unternehmen mit Staatsbeteiligung wurden bereits 2017 zum Ärger der EU als „strategisch und unverkäuflich“ deklariert.

Die deutsche Politik steht im Umgang mit Polen weiterhin vor erheblichen Herausforderungen

Ehrgeizigen volkswirtschaftlichen Plänen entsprach eine außenpolitische Positionierung, die auf ein Gegengewicht zu den alten EU-Ländern im Westen setzte. Ein enges Bündnis mit den USA und die sog. Drei-Meeres-Kooperation der Klein- und Mittelstaaten an Ostsee, Adria und Schwarzem Meer gehört in diesen Zusammenhang. Nicht ohne Selbstbewusstsein – von manchem im Land mitunter als Selbstüberschätzung ausgelegt – sprach man dem eigenen Land eine gewisse Führungsrolle im Raum zwischen Deutschland und Russland zu.

Obwohl in Berlin wie in Brüssel der Warschauer Regierungswechsel mit Erleichterungen aufgenommen wird, steht die deutsche Politik im Umgang mit Polen weiterhin vor erheblichen Herausforderungen. Antideutsche Stimmungsmache nationalkonservativer Medien, öfter unfreiwillig gestützt durch Schmuddel-Kampagnen in Polen vertretener deutscher Medienkonzerne gegen PiS-Politiker, belasten die deutsch-polnischen Beziehungen inzwischen auch auf gesellschaftlicher Ebene.

Andererseits ist Polen heute der wohl wichtigste Wirtschaftspartner Deutschlands in der EU. Bei den deutschen Importen steht Polen, sieht man von den nominell durch den sog. Rotterdam-Effekt irreführenden Zahlen für die Niederlande ab, unter den EU-Ländern an erster Stelle. Und dabei wird ein spezielles polnisches „Exportprodukt“ in der Statistik nicht erfasst: Arbeitskräfte. Die Bundesanstalt für Arbeit registrierte im Jahr 2019 allein 68.900 Pendler aus Polen, also solche Erwerbstätige,die für sich und ihre Familienangehörigen den Wohnsitz im Heimatland beibehalten.

Und auch bei den Waren-Importen aus Polen gibt es eine Besonderheit: Es handelt sich zu großen Teilen um konzern-internen Austausch. Denn deutsche Unternehmen haben in den letzten drei Jahrzehnten Polen systematisch zu einem wichtigen Stützpfeiler ihrer transnationalen Produktions- und Handelsketten gemacht  Dabei profitierten sie nicht nur von den niedrigen Löhnen – durchschnittlich erreichten die Kosten pro Arbeitsstunde in Polen 2022 rund 32% des deutschen Niveaus -, sondern auch von diversen Subventionen und Steuererleichterungen. Insbesondere die 14 polnischen Sonderwirtschaftszonen (SWZ) in vermeintlich strukturschwachen Regionen bieten fast paradiesische Investitionsbedingungen. Wenn die eigenen Werke in einer ausgewiesenen Boom-Region angesiedelt sind, wie die von Volkswagen in der Wojewodschaft Posen, dann wurde das Werksgelände einfach zu einer Dependance einer entfernten SWZ deklariert. Für deutsche Handelsketten wie Lidl, Rossmann, Kaufland, Mediamarkt u. a. ist Polen einer der wichtigsten Auslandsmärkte. Deutsche Autohändler verkaufen jährlich rund 400.000 Alt- und Gebrauchtfahrzeuge nach Polen.

Trotz der verweigerten Privatisierung lukrativer Unternehmen ist Polen also auch während der acht Jahre PiS-Regierung gerade für deutsche Konzerne ein wichtiger und verlässlicher Partner gewesen. Ob Polen nun mit Tusks liberaler Regierung zum politischen Musterknaben der EU aufsteigt, bleibt abzuwarten. Die EU hat der neuen Regierung schon einmal ein Willkommensgeschenk überreicht: Von den Polen zustehenden, wegen vermeintlich fehlender Rechtsstaatlichkeit aber blockierten Mittel des „Corona-Wiederaufbaufonds“ wurden inzwischen 5 Mrd. Euro nach Warschau überwiesen.

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6 Kommentare

  1. Man muss sich nur die Diskussionen anhören, wo polnische Politiker
    als deutsche Agenten bezeichnet werden, wenn sie nicht kritische genug über Deutschland
    genug eingestellt sind.

    Nein, machen wir uns nichts vor, Polen ist das neue Schoßhündchen
    der Transatlantiker und schon länger ein U-Boot in der EU.
    Ach was, aber das macht auch nichts mehr, die EU ist dem Untergang
    sowieso geweiht, da macht dieses Kleinklein auch nichts mehr..

  2. Im Hinblick auf deutsche Interessen dürfte es keinen so großen Unterschied, ob nun Tusk oder Morawiecki am Ruder ist.

    Für beide kommt verständlicherweise Polen zuerst. Ich bezweifle, dass sich Tusk so deutschfreundlich geben wird, wie es laut Artikel offenbar manche annehmen. Er wird lediglich gegenüber der EU und ihren neoliberal-globalistischen Strukturen etwas mehr Entgegenkommen und Nachgiebigkeit zeigen. Im Hinblick auf die speziellen engen Beziehungen zu den angelsächsischen Mächten wird sich aber wenig bis nichts ändern, sodass Polen ggf. gegenüber einer (theoretisch einmal etwas störrischen) EU als Hebel einsetzbar wäre. Bisher hat ja Deutschland diesen Part übernommen, nun können die zwei Hebel mit einander konkurrieren, wer den Boss mehr zufrieden stellt.

    Die Unterschiede zwischen Tusk und Morawiecki betreffen also hauptsächlich die polnische Innenpolitik und kaum die Außenpolitik. Beide waren bzw. sind heute America´s Darling.

    In wirtschaftlicher Hinsicht wird sich nichts ändern.

    1. Sie spielen auf die Kfz-Diebstähle von Polen in Deutschland an. Auch wenn die Zahlen deutlich zurückgegangen sind, sollte man das Problem nicht einfach negieren.
      Was man aber wissen muss: Der gigantische Import von Gebraucht-Autos ist in gewisser Hinsicht die Basis für die Kfz-Diebstähle. Die Regierungen der östlichen Beitrittsländer haben sich lange Zeit mit Zöllen, Registrierungsgebühren u. ä. gegen die Blechlawine aus dem Westen gewehrt, weil ihre Länder weder die Infrastruktur-Voraussetzungen für eine schnelle Massenmotorisierung hatten – Verkehrsopferzahlen waren/sind extrem hoch – und auch die Volkswirtschaften durch den Abfluss von Kaufkraft für Autos und Rohöl belastet werden. Zuletzt – ich meine 2016 – hat der EuGH Rumänien verboten, eine Registrierungsgebühr für importierte Altfahrzeuge zu erheben. Der freie Markt hat gesiegt.
      Viele Leute in diesen Ländern haben sich billig mit Alt-Autos versorgt. In Polen ist die Pkw-Dichte mit rund 550 pro 1000 Einwohner ähnlich hoch wie in Deutschland, nur dass die Autos durchschnittlich viel älter sind. Allerdings fehlt die Kaufkraft, um die Fahrzeuge zu warten bzw. mit entsprechenden Ersatzteilen zu reparieren. Folge: Es hat sich ein grauer Markt von Scheunen- und Garagenwerkstätten entwickelt, der mitunter von zerlegten Fahrzeugen aus dem Westen versorgt wird. Deshalb ist in Polen ein älterer Golf oder Astra auch eher Diebstahls-gefährdet als ein exotisches neues Auto aus Asien.

  3. Moin Richard
    @Polen nach Regierungswechsel: Vom Enfant terrible zum EU-Musterknaben?
    Sicher ist es sinnvoll, etwas Gehirnakrobatik zu dem Thema zu betreiben, doch sind Sie sicher, das es sinnvoll ist, damit so kurz nach der Regierungsbildung an die Öffentlichkeit zu gehen?
    Außer natürlich, Sie verfügen über seeehr viel Freizeit und wenden sich an Leser, denen es ebenso geht. 😉
    Grüße

  4. Aus RT englische Version, Überschrift
    „Democracy denied: A sinister force controls the US presidential debates“
    Eingangstext
    ‚A commission run by the Republicans and the Democrats gatekeeps third-party and independent runners from the public eye‘

    Eine Kommission, die kontrolliert wer sich aufstellen darf zu Wahlen. Nachdem allgemein vermutet wird, daß die EU und andere befreundeten Länder einen Vasallenstatus innehalten, was liegt dann näher wer dann regieren darf, beeinflusst durch die Kommission?

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