NSU-Ausschuss: Auf den Spuren von Helfern und Mitwissern der Morde?

Das Maximilianeum, Sitz des Bayerischen Landtags. Bild: Rolf Poss/Bildarchiv Bayerischer Landtag

Bei mindestens zwei Taten in Nürnberg gibt es Kontaktpunkte, die von den mutmaßlichen Tätern über die Neonazi-Szene zu den Opfern führen – Das BKA weiß das seit langem

 

Der NSU-Untersuchungsausschuss von Bayern stößt bei seiner Suche wiederholt auf Spuren von möglichen Helfern und Mitwissern der Morde. Er folgt den früheren Ermittlungen des Bundeskriminalamtes und deckt damit zugleich dessen inkonsequente Arbeit auf. Denn nach dem Auffliegen des Trios Böhnhardt-Mundlos-Zschäpe im November 2011 wurde der Fokus auf sie reduziert und Unterstützung vor Ort geradezu programmatisch ausgeschlossen.

Konkret: Zwischen dem ersten Mordopfer Enver Simsek, der im September 2000 an seinem Blumenstand im Süden Nürnbergs erschossen wurde und mindestens einem führenden Mitglied der Nürnberger Neonazi-Szene gab es Berührungspunkte. Das wurde jetzt in der letzten Ausschusssitzung bestätigt. Zugleich hatte der Mann, Christian W., Kontakt zum NSU-Kerntrio oder zumindest zu dessen nahem Umfeld.

Gleiches gilt im Fall des Nürnberger Opfers Ismail Yasar, dem sechsten Mord der Serie. Über einen anderen Neonazi existiert eine Personenkennkette zu Jenaern Kameraden, darunter Uwe Mundlos. Das BKA weiß das spätestens seit 2012, hat den Zusammenhang aber nicht weiterermittelt. Auch das Gericht, vor dem der NSU-Prozess in München lief, ignorierte den Sachverhalt. Er hätte an der offiziellen Version von den zwei ausschließlichen Tätern Mundlos und Böhnhardt gekratzt, die BKA wie Gericht teilten.

Der Untersuchungsausschuss hob jetzt den Teppich an, unter den so vieles gekehrt worden ist. (Yvonne Boulgarides, Frau des Mordopfers Theodoros Boulgarides) Und dabei entdeckt man Überraschendes.

Jener Christian W., früherer stadtbekannter Neonazi, war jetzt als Zeuge geladen. Er trägt eine Base-Cap und – Corona-Regeln sei Dank – eine FFP2-Gesichtsmaske, die er die gesamte, fast drei Stunden dauernde Vernehmung über nicht abnimmt. Der Ausschuss akzeptiert die Vermummung.

Mit 15 wurde W. Mitglied der NPD. Grund sei sein „nationalistisches Elternhaus“ gewesen. Über zehn Jahre lang, bis etwa 2006, 2007, bewegte er sich in der rechtsextremen Szene von Nürnberg, als Skinhead sowie in der Fränkischen Aktionsfront (FAF), die später verboten wurde. Widersprüchliche Aussagen gibt es darüber, ob er auch beim Netzwerk Blood and Honour sowie dessen gewaltaffinen Ableger Combat 18 mitgemacht hat. Er bestreitet das.

Eine verquickte und vermischte Neonazi-Szene, inklusive diverser V-Leute

Die Nürnberger Szene hatte vielfältige und enge Kontakte zu Neonazis aus Thüringen und Sachsen. Im Jahr 2001 war Christian W. einige Monate liiert mit Mandy Struck aus Chemnitz, die mit dem NSU-Trio in Kontakt stand. Im selben Zeitraum, Juni 2001, wurde in Nürnberg Abdurrahim Özüdogru mit jener Ceska-Pistole erschossen, die bei allen neun Morden an Migranten verwendet wurde.

Struck stellte Beate Zschäpe unter anderem Ausweisdokumente zur Verfügung, damit die zum Beispiel zum Arzt gehen konnte. W. hatte seine Freundin mehrmals nach Chemnitz begleitet, will dort aber niemanden aus der Szene gekannt haben. Bis zum September 2022 ermittelte die Bundesanwaltschaft noch gegen Struck wegen Unterstützung des Trios, ehe das Verfahren zusammen mit vier weiteren eingestellt wurde.

In Nürnberg wurden drei der insgesamt zehn Morde verübt, die dem NSU zugeschrieben werden. Der erste traf Enver Simsek, der mit seiner Familie im hessischen Schlüchtern wohnte und an den Wochenenden, Samstag und Sonntag, am südlichen Stadtrand von Nürnberg einen Blumenstand betrieb. Christian W. kannte diesen Blumenstand, wie er jetzt vor dem Untersuchungsausschuss in München bestätigt. Den Stand habe es schon ewig gegeben, sagt er. In der Regel verkaufte dort ein türkischer Mitarbeiter von Simsek die Blumen. Weil der im September 2000 aber in Urlaub war, betreute der Chef selber die Verkaufsstelle.

Bei seiner Vernehmung durch das BKA im Februar 2012 nach dem Auffliegen des NSU sagte Christian W. zunächst, er habe an dem Stand „öfters“ Blumen gekauft, korrigierte sich aber sofort und erklärte, er habe nur „einmal“ Blumen gekauft. Jetzt im März 2023 sagt er aus, er sei „einmal“ als Kind mit seinem Vater an dem Stand gewesen, um für die Mutter Blumen zu kaufen, er sei zehn oder elf Jahre alt gewesen. Da er Jahrgang 1979 ist, wäre dieser Kauf etwa 1990 gewesen. Simseks Blumenstand dort in der Liegnitzer Straße gab es aber erst seit Juni 1998.

Er war offensichtlich bemüht, seinen Kontakt zu dem späteren Mordopfer als eher zufällig und unbedeutend darzustellen. Man kann sich darüber täuschen, ob man irgendwo drei- oder vier Mal gewesen ist, aber nicht, ob es „öfters“ oder „einmal“ der Fall war. Man kann sich täuschen, ob man 20 oder 21 Jahre alt war, aber nicht, ob man erwachsen oder ein Kind war. Was hatte es also mit dem Kontakt des Neonazis W. zu einem späteren NSU-Opfer tatsächlich auf sich?

Die Frage ist umso bedeutender, als auch beim Mord an Ismail Yasar im Juni 2005 eine Personenkennkette über den Nürnberger Neonazi Jürgen Fr., der einmal Yasars Imbissbude beschädigte, zu den Jenaern Mundlos, Wohlleben, Gerlach führte.

Die Opferanwältin und Vertreterin der Familie Simsek, Seda Basay-Yildiz, wies 2018 in ihrem Plädoyer vor dem Oberlandesgericht München darauf hin, dass immer noch „offen“ ist, wer den mutmaßlichen Tätern Mundlos und Böhnhardt den Hinweis auf den Blumenstand und seinen Betreiber gab. „Es muss weiter ermittelt werden“, forderte sie mit Blick auf beide Fälle.

Eigenartig erscheint auch, dass es sich bei jenem Kriminalbeamten, der Christian W. 2012 im Auftrag des BKA vernahm, um denselben gehandelt haben soll, der vorher immer wieder mit der rechtsextremen Szene in der Stadt und mit W. zu tun hatte und zum Beispiel bereits 2004 dessen Wohnung durchsuchte. Den Beamten kenne er seit 1995, so W. jetzt im U-Ausschuss.

In Nürnberg existierte außerdem eine Wohnung, die von der Szene als Treffpunkt genutzt wurde, zu der es mehrere Schlüssel in verschiedenen Städten und Bundesländern gab und in der auch das Trio eine Zeit lang untergekommen war. Angemietet worden war die Wohnung durch ein Szenemitglied aus Jena. Die Polizei wusste um diesen Ort und wer sich dort traf.

Eine zentrale Figur, bei der Informationen zusammenliefen und die die Szenen aus Nürnberg, Thüringen und Sachsen verband, war Matthias F. Er stammt aus Ostdeutschland, zog nach Bayern und kehrte später wieder in den Osten zurück. Sein Name steht auf der sogenannten Garagen-Adressliste von Mundlos. W. war mit F. befreundet.

Mindestens drei Ereignisse – zwei in Nürnberg, eines in Thüringen – sind belegt, bei denen W. und die Jenaer zusammen waren. Darunter Uwe Mundlos, die in München angeklagten Holger Gerlach und Ralf Wohlleben sowie dessen Schwager David F.  F. kam aus dem selben Thüringer Ort, Oberweißbach, aus dem auch die in Heilbronn ermordete Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter stammte.

Alles in allem eine verquickte und vermischte Neonazi-Szene also, inklusive diverser V-Personen, in der auch Christian W. an führender Stelle verkehrte.

Dennoch versucht er vor dem Ausschuss seine Rolle kleiner zu machen. Kontakte zur Kameradschaft Jena oder zum Thüringer Heimatschutz bestreitet er. Er wiegelt wiederholt ab und sagt Sätze wie: „Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was da war. Scheinbar muss ich teilgenommen haben. Ich erinnere mich wahrscheinlich nicht.“

Was war so wichtig an der NPD?

Auch das Trio Böhnhardt-Mundlos-Zschäpe will er nicht gekannt haben. Die Morde hätten er und seine Kameraden für „sinnlos“ und „verrückt“ gehalten: „Wer geht denn hin und bringt Kleinunternehmer um, welchen politischen Sinn soll das haben?“ Ihre Motivation sei gewesen, politisch etwas zu verändern. Dadurch, dass man jemanden umbringe, verändere man im Staat nichts: „Das weiß jeder.“

Er sei aus der Szene ausgestiegen, weil er deren Ziele nicht mehr geteilt habe. Konkret will er nicht werden, erklärt aber, er sehe die politischen Veränderungen in Deutschland nicht mehr so wie vor 20 Jahren. Heute sei es für ihn eine Demokratie – und wörtlich: „Dieser Staat ist der Staat!“ Sein Ausstiegsjahr aus der rechtsradikalen Szene gibt er zunächst mit 2005 an, dann spricht er davon, dass es auch 2006 gewesen sein könnte. Ausschussmitglieder gehen davon aus, dass er mindestens bis 2007 dabei war.

Im Verlauf der Vernehmung von Christian W. kommen noch zwei Sachverhalte zur Sprache, die einer Aufklärung bedürften. Bei der Wohnungsdurchsuchung eines Szenemitglieds in Herzogenaurach im Jahre 2004 habe der dafür verantwortliche Kriminalbeamte einen Zusammenhang mit den bis dahin fünf Ceska-Morden hergestellt, erklärt der Zeuge W. Er kann sich aber nicht erinnern, um welches Szenemitglied es sich gehandelt hat.

Bemerkenswert ist das, weil es hieße, dass die Polizei doch davon ausgegangen ist, die Nürnberger Szene könnte in die Morde verstrickt sein.

Der zweite Sachverhalt betrifft die Rolle der NPD, die als feste Konstante stets im Hintergrund der rechtsextremen Szene präsent war – und zwar nicht nur in Nürnberg. Etliche Führungsfiguren waren Mitglied der NPD, wie Matthias F., Ralf Wohlleben, Tino Brandt, Carsten Schultze – oder eben auch Christian W. Er sagt sogar, die Aktivitäten in der Szene und in der Fränkischen Aktionsfront (FAF) hätten nur das Ziel gehabt, junge Leute für die NDP zu rekrutieren. Ziel sei gewesen, einen NPD-Jugendverband zu gründen.

Doch wozu? Was war so wichtig an der NPD, die seit Jahren erodiert und bei Wahlen so gut wie keine Rolle mehr spielt? Warum wurden andererseits in diese heruntergekommene nationalistische Partei zahlreiche Informanten geschleust oder in ihr rekrutiert? Auch W. war vom Verfassungsschutz auf eine Zusammenarbeit angesprochen worden, wie er auf eine Frage aus dem Ausschuss erklärt. Er habe aber abgelehnt. Anwerbeversuche habe es öfters in der Szene gegeben. Unter den genannten NPD-Mitgliedern war mindestens Brandt ein V-Mann des Verfassungsschutzes, möglicherweise aber auch Wohlleben. Man könnte auf die Idee kommen, bei den Sicherheitsbehörden bestand ein Interesse, dass es die NPD gab.

Ähnliche Beiträge:

2 Kommentare

  1. Bei den ganzen NSU-Theorien hängt sowieso manches schief. Das geht bis in höchste politische Kreise. Warum ließ der später erschossene Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke den V-Mann Temme, der angeblich beim Mord an Halit Yozgat dabei war, bis zum Schluss in seiner Behörde arbeiten? Was ist mit den ganzen plötzlichen Todesfällen unter den überwiegend jungen Zeugen während des Prozesses? Hier ein guter Artikel darüber vom Juli 2018:
    https://terminegegenmerkel.wordpress.com/2018/07/05/umfrage-wie-wuerden-sie-im-nsu-prozess-entscheiden/

  2. Es wird immer mehr ans Licht verdunkelt…. will heissen, je mehr Details bekannt werden, desto lauter das Schweigen im Blätterwald. In dem Fall bzw. den Fällen wurden derart viele und auch derart haarsträubende Fehler gemacht, dass man eigentlich nicht nur und ausschliesslich von Unfähigkeit oder „dumm gelaufen“ ausgehen kann. Dazu die Unwilligkeit des Gerichts, sorgfältig die Hintergründe auszuermitteln.
    Beim Oktoberfest-Attentat wurden die Akten ja auch schneller zugeklappt als bei jeder Unfallflucht…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert