“Netanjahu ist nicht sehr daran interessiert, das Problem der Geiseln zu lösen”

Bild: IDF

Moshe Zuckermann über die Stimmung im Land, die Bewegung der Angehörigen der Geiseln, die planlose Kriegsführung der Regierung, die sich nur an der Macht halten will, und mögliche Lösungen des Konflikts.

Der Angriff von Hamas ist einen Monat her. Wie lebt man im Augenblick in Israel? Hat sich die Stimmungslage verändert? Wie ist es für dich?

Moshe Zuckermann: Ich verfolge alles aus einer gewissen Distanz. Ich persönlich bin ziemlich schockiert über das, was hier abläuft. Das Dilemma der Israelis im Moment ist klar. Es gibt die Entführten und die Gefangenen, die sie befreien sollen. Und auf der anderen Seite haben sie sich vorgenommen, Hamas sozusagen platt zu machen. Das bedeutet nichts anderes, als dass Israel nach diesem Schock durch das, was am 7. Oktober passiert war, im Moment selbst Kriegsverbrechen begeht, obwohl das nicht offiziell so dargestellt wird. Aber allein die Quantität an Palästinensern, die Frauen und Kinder, die umgekommen sind, hat eine ganze Menge mit diesem Vorhaben zu tun, die Hamas, die man selber hochgehalten hatte, jetzt wieder vernichten zu wollen. Das stellt ein Problem dar, denn in dem Moment, wo man das als Kriegsziel deklariert hat und dahinter auch stehen will, weil man seine Anhängerschaft nicht verlieren will und weil es auch wirklich in der Bevölkerung ein starkes Bedürfnis nach Vergeltung gibt, muss man so vorgehen.

Aber dem steht gegenüber, dass es nach meiner Ansicht das vorgängigste Ziele wäre, dass die Entführten und Gefangenen freikommen. Dafür kann man nicht warten, bis das Militär die Hamas niederringt, weil das auch bedeuten könnte, dass die Gefangenen und Entführten dabei zu Schaden kommen oder auch getötet werden. Man muss jetzt eine Alternative zu der sehr heftigen Gewalteskalation, die man angekurbelt hat, finden. Die Frage ist, ob man einen Deal mit dem Ziel machen kann, von mir aus alle in Israel sitzenden palästinensischen Gefangenen zu entlassen und dafür alle israelischen frei bekommen.

Aber selbst wenn so ein Deal zustande kommen sollte und man mit Hamas sprechen würde, würde das wahrscheinlich nur heißen, dass man diesen Gefangenen-Austausch macht und dann geht es genauso weiter. Es ist eigentlich auch kaum vorstellbar, dass die Hamas dem zustimmen würde.

Moshe Zuckermann: Wenn die Hamas das nicht mitmacht, wird sie niedergerungen. und dann kann man auf die Entführten nur noch einen Todessegen aussprechen. Das ist das Dilemma und deshalb ist die Frage, ob man das auch wirklich weiter betreiben soll. Ich bin auch der Meinung, dass diese Zielsetzung, die Hamas vollkommen platt zu machen, nicht erreichbar ist, ohne dass sich der Konflikt ausweitet und andere Kräfte und Faktoren mit einbezogen werden. Beispielsweise stellt sich heute schon die Frage, was mit der Hisbollah im Norden geschehen soll? Die Frage ist auch, wie weit es Iran zulassen würde, dass die Hamas niedergerungen wird? Was ist mit Katar, das man die ganze Zeit auch als Vermittlungsinstanz ansehen will?

Es stellt sich immer mehr heraus, dass es auf der einen Seite vordergründig eine ganze Menge militärischer Erfolge gibt, aber es bei weitem noch nicht so weit ist, dass die Hamas niedergerungen ist. Man hört Militärexperten im Fernsehen erklären, man brauche für die erste Phase drei Monate und dann für die weitere Säuberung, wie sie das im Jargon nennen, noch einmal neun Monate. Der Krieg soll also noch ein Jahr weitergehen. Wie soll man das allein wirtschaftlich verkraften? Und so weiter. Also ich bin nicht ganz überzeugt davon, dass das, was man sich vorgenommen hat, überhaupt praktizierbar ist. Aber so sehen das im Moment die Politiker nicht, unter anderem deshalb, weil sie sich darauf verpflichtet haben, das zu machen.

Aber es gibt doch die Angehörigen der Geiseln und anscheinend auch eine relativ große Bewegung drumherum, die für Gespräche sind.

 

Moshe Zuckermann: Die Bewegung ist leider noch nicht ganz so groß, wie man denkt, aber sie vergrößert sich allmählich. Wenn die Menschen sich solidarisieren, fordern sie im Grunde genommen zweierlei. Erstens sollte es humanitäre Hilfe für Gaza nur geben, wenn dafür Geiseln freigelassen werden. Das bedeutet aber auch, dass Menschen fordern, die Kampfhandlung einzustellen und einen Deal mit Hamas einzugehen. Sollte es sich herausstellen, dass das wirklich eine Massenbewegung wird, dann würde ein solcher Deal machbar sein. Ich glaube allerdings, dass die aktuelle Netanjahu-Regierung gar nicht so sehr daran interessiert ist, den Krieg jetzt schon zu Ende zu führen. Die wollen ja weitermachen. Die Verlängerung des Kriegs ist für Netanjahu persönlich sehr gut, weil er sich dann noch immer nicht stellen muss. Es ist auch eine Möglichkeit, das israelische Militär wiederherzustellen, obwohl es vollkommen klar ist, dass es am 7. Oktober versagt hat. Keiner von den Generälen oder von den oberen Rängen wird nach diesem Krieg noch in seiner Stellung bleiben können.

Interessant ist, was mit der Politik passieren wird. Die Leute sagen, dass es eine wütende Massen-Protestbewegung gegen Netanjahu und seine Regierung geben wird, so dass sie zurücktreten wird. Ich bin nicht so ganz überzeugt davon. Ich glaube, dass dieser Mann ein Überlebenskünstler ist und dass er sich jetzt schon darauf vorbereitet, wie seine Politik danach sein wird. Auf der einen Seite versucht er, alles auf das Militär und die Geheimdienste zu schieben, das hat er auch schon gemacht. Und auf der anderen Seite versucht er zu suggerieren, dass die Protestbewegung, die es vor dem Krieg gegeben hat, die Hamas motiviert hat, einen Waffengang zu beginnen, weil Israel geschwächt gewesen sei. Das ist ganz perfide, wie der Mann agiert und welche  Botschaften er an seine Leute gibt.

Er spaltet ja dann Israel auch weiter.

Moshe Zuckermann: Aber das ist ja genau seine Technik, weiterhin zu spalten, obwohl er dauernd von Einheit redet, weil er vor allem dafür sorgen muss, dass die Leute, die zu seinem Lager gehören, weiterhin zu ihm halten. Man muss allerdings sagen, dass nach den letzten Erhebungen sein Stand sehr schwer ist. Würden heute Wahlen sein, würde der Mann nicht nur verlieren, sondern eine Niederlage erleiden, wie man sich gar nicht vorstellen kann, dass es bei ihm jemals möglich sein könnte.

Gibt es denn eigentlich Stimmungsberichte aus dem Militär selber? Es sind ja sehr viele Rekruten eingezogen worden. Ist die Stimmung pro Krieg.

Moshe Zuckermann: Was wir vom Militär wissen, ist das, was wir von den Medien wissen. Und die Medien sind alle auf Kriegsstimmung, im Sinne, dass man das Militär stützen muss, weswegen es keine Gegegenstimmen gibt. In Haaretz kann man hier und da etwas lesen, aber da berichten sie auch nicht von den Rekruten, sondern von den Spannungen, die es zwischen Netanjahu und seinem Verteidigungsminister Gallant und dem Generalstabschef gibt. Die Soldaten, das muss man auch sagen, sind alle jetzt euphorisch, weil sie jetzt eine Feuerprobe bestanden haben. Und wenn man die letzten Wahlen anschaut, haben eine ganze Menge Soldaten Ben Gvir gewählt. Da ist wenig Kritik vorhanden, eher von den oberen Rängen als von den Soldaten.

Vor allem von den USA, wo man sich das eher traut als von Deutschland, kommt immer wieder die Kritik, dass man doch verhältnismäßig im Gazastreifen vorgehen und humanitäre Hilfe hereinlassen soll. Es gibt  auch Kritik an den Vorgängen im Westjordanland, wo die Siedler von Ben Gvir mit Waffen ausgestattet werden und es auch immer mehr zu Morden seitens der Siedler kommt und Menschen vertrieben werden. Besteht die Gefahr, dass im Westjordanland wieder eine Intifada aufkommt?

Moshe Zuckermann: Das ist das, was Ben Gvir initiieren will. Er will, dass es auch eine Front im Westjordanland gibt, weil er die Politik verfolgt, dass die Palästinenser auf allen Ebenen und in allen Fronten zerschlagen werden. Er ist beispielsweise dafür, dass Gaza nicht nur erobert, sondern auch neu von Juden besiedelt wird.

“Netanjahu will den Krieg nicht beenden”

Steht das im Hintergrund der Forderung, dass die Palästinenser aus Nord-Gaza in den Süden auswandern sollen? Man hört ja auch, es gebe Gespräche mit anderen Regierungen, dass die Gaza-Bevölkerung nach Ägypten ausquartiert werden sollen, um den Gazastreifen zu entvölkern. Ist das tatsächlich der Hintergrund?

Moshe Zuckermann: Die offizielle Politik ist es nicht. Wenn jemand dies ausgesprochen habt, wurde er zurückgerüffelt in dem Sinne von: Was macht ihr denn? Das ist nicht gut für Israels Propaganda. Ich glaube auch nicht, dass man wirklich Interesse haben kann, dass der Gazastreifen wieder neu von Siedlern besiedelt wird. Das sind wirklich nur die messianisch Durchgeknallten, die das durchziehen wollen. Aber es gibt mit Ben Gvir immerhin einen solchen Faktor in Israels Politik, auch wenn es kein dominanter Faktor ist. Sein Bestreben ist, erst einmal einen Flächenbrand auch im Westjordanland zu entfachen, weil er nicht nur die Hamas, sondern auch die PLO zerschlagen will, damit alle Palästinenser dorthin gehen, wo sie nach seinem Dafürhalten hingehören, nämlich zum Teufel, damit das ganze Land dann jüdisch besiedelt wird. Das ist nicht offizielle Politik Israels, und ich glaube auch nicht, dass das angestrebt wird.

Netanjahu hat allerdings gestern oder vorgestern gesagt, sein Ziel sei es, den Gazastreifen wieder völlig unter die Kontrolle von Israel zu bringen. Das deutet doch darauf hin, dass da andere Absichten dahinter stecken könnten.

Moshe Zuckermann: Das ist eine klare Absicht in dem Moment, in dem er das gesagt hat. Für meine Begriffe hat Amerika auch sofort reagiert und erklärt, das kommt gar nicht in die Tüte. Er hat das gesagt, weil er dann auch den gesamten Waffengang zu seinen Gunsten gewendet haben wird, weil die Kontrolle gewahrt werden muss. Er will den Krieg nicht beenden. Netanjahu will das so lange durchziehen, weil sein Prozess dann aufgeschoben wird und weil auch die Untersuchungskommission, die ganz ohne Zweifel nach diesem Krieg kommen wird, dann erst mal verschoben wird.

Aber irgendwann ist Schluss, auch wenn es jetzt noch ein Jahr gehen sollte.

Moshe Zuckermann: Irgendwann ist nach dem alten jüdischen Witz, in dem der antisemitische Prinz aus der Ukraine sagt: Du musst den Schwanz dieses Pferdes jetzt mit einem Schlag rausnehmen. Und der Jude sagt: Gut, das mache ich. Dann fragt man ihn: Wie machst du das? Ich habe mir ausbedungen, dass ich ein Jahr Zeit habe. In diesem Jahr kann entweder dieser Prinz sterben oder das Pferd wird sterben oder ich werde sterben. Das heißt, in dem Moment, wo man in solchen Kategorien denkt, geht es nicht darum, was jetzt ansteht, sondern dass ich mir noch mehr Zeit rausgeschlagen habe. Netanjahu denkt dauernd in solchen perfiden Kategorien. Ihm ist es egal, wenn dieser Krieg noch so und so viele israelische Soldaten fordern wird. Er kümmert sich nicht drum. Wenn er gewollt hätte, das sage ich als meine persönliche Spekulation, hätte er schon viel mehr für die entführten Geiseln und Gefangenen machen können. Das spürt man auch in der Bewegung der Eltern bzw. der Angehörigen der Entführten schon, dass Netanjahu gar nicht so sehr daran interessiert ist, das Problem zu lösen.

Ein anderes Problem, von dem ihr in Deutschland vielleicht nichts wisst, ist, dass der Mann sich nicht stellt. Er tritt von Zeit zu Zeit im Fernsehen auf, ohne sich dann aber auch fragen zu lassen. Im Gegensatz zu allen anderen, dem Verteidigungsminister, dem Generalstabschef und dem Militärsprecher, die alle nachher auch Fragen von der Presse zulassen, lässt er keine Fragen zu. Er kommt, sagt immer leere Sprüche und stellt sich nicht der Situation.

Ich glaube, Netanjau ist zunächst und vor allem – und da bin ich beeinflusst von den Medien, die das längst thematisiert haben – mit der Rettung seiner eigenen Haut beschäftigt. Er ist nicht beschäftigt mit der Politik, mit der Frage beispielsweise, was nach dem Krieg sein soll. Wenn die Hamas niedergeschlagen und der Krieg beendet ist, wie geht es dann weiter? Wer soll den Gazastreifen übernehmen? Er will ja die PLO dort nicht haben. Was will er denn? Es gibt keine Gespräche, die bekannt geworden sind, über Kriegsziele jenseits der Parole, dass die Hamas zerschlagen werden soll. Wer soll Gaza übernehmen? Wer soll mit dabei sein, denn Gaza muss wieder aufgebaut werden?

Was Milliarden kosten wird.

Moshe Zuckermann: Viele, viele Milliarden.

Und nach dem Krieg ist auch zu erwarten, dass die Stimmung in der Bevölkerung nicht gerade pro-israelischer geworden ist.

Moshe Zuckermann: Von pro-israelisch kann sowieso nicht die Rede sein. Ich kann mir vorstellen, dass eine ganze Menge Palästinenser Israel mehr hassen, aber nicht unglücklich sind, wenn die Hamas nicht mehr da ist. Hamas wird von der PLO am meisten gehasst, sie hat dafür auch eine ganze Menge getan.

Das Problem ist doch überhaupt, dass sowohl die PLO als auch die Hamas eigentlich nicht wirklich Vertreter der Palästinenser sind …

Moshe Zuckermann: In Israel ist Barghouti, ein ehemaliger Terrorist, der großes Charisma hat, inhaftiert. Wenn der freigelassen würde, wäre er ein Anwärter auf die Nachfolge von Mahmud Abbas. Aber Israel ist gar nicht daran interessiert. Israel hat alles nach der Devise divide et impera gemacht. Durch das Ausspielen der Hamas gegen die PLO wurde verhindert, dass es zu einer einheitlichen Führung der Palästinenser kommt und dass eine politische Lösung im Sinne der Zwei-Staaten-Lösung möglich wird. Das ist genau das, was Israel in den letzten 25 Jahren gemacht hat.

“Die Zwei-Staaten-Lösung ist so sehr vereitelt worden, dass sie heute nicht mehr verwirklichbar ist”

Viele wie Biden und Co. sprechen jetzt wieder von der Zwei-Staaten-Lösung. Aber ist denn die Zwei-Staaten-Lösung überhaupt noch durchführbar? Es sind ja Hunderttausende Siedler im Westjordanland, die man nur schwer wieder herausholen kann. Du hast selbst einmal davon gesprochen, dass es dann zu einem Bürgerkrieg kommen würde.

Moshe Zuckermann: Die Zwei-Staaten-Lösung ist für meine Begriffe so sehr vereitelt worden, dass sie heute nicht mehr verwirklichbar ist. Es gibt ja einige Bedingungen. Die eine Bedingung ist der Rückzug der Israelis aus den besetzten Gebieten, zweitens der Abbau der Siedlungen, drittens die Klärung der Jerusalem-Frage als Hauptstadt von zwei Staaten und viertens vor allem auch das Rückkehrrecht der Palästinenser. Es würden sich um 100.000 oder 200.000 Palästinenser handeln, die in das Kernland Israels zurückehren würden. Die Bedingungen sind heute nicht mehr machbar. Das war vor 30 Jahren noch machbar, als nur einige Zehntausend Siedler im Westjordanland lebten, heute sind es 650.000. Der israelische Politologe Meron Benvenisti hat schon vor 30 Jahren gesagt: So wie wir das Land besiedelt haben, ist das irreversibel. Das heißt, man kann die Leute dort nicht mehr rauskriegen.

Dann ist das Gerede von der Zwei-Staaten-Lösung letztlich nur eine Blase?

Moshe Zuckermann: Das ist für meine Begriffe nur ein taktisches Gerede und hat mit einer wirklichen Lösung nichts zu tun. Die reale Lösung müsste die Eine-Staat-Lösung sein, die heute noch utopischer aussieht als die Zwei-Staaten-Lösung. Es ist eine Sackgasse, die man meint, durch die Zerschlagung der Hamas aus der Welt zu schaffen. Aber was soll denn danach kommen? Das ist ja die große Frage.

Hamas ist ja nun wirklich eine Terrorgruppe, die sich als Widerstands- oder Befreiungsorganisation gibt. Darüber kann man wahrscheinlich streiten, aber nach dem, was sie gemacht hat, ist sie wie der Islamische Staat auch eine Terrorgruppe, die Schrecken verbreiten will und die brutalen Aktionen auch vorgeführt und inszeniert hat. Berechtigt ist daher ohne Zweifel,  gegen diese Gruppe auch militärisch vorzugehen. Das müsse dann verhältnismäßig nach dem Kriegsrecht geschehen. Wie kann man sich das überhaupt vorstellen? Was heißt verhältnismäßig? Man erwischt zum Beispiel einen Hamas-Führer und tötet dabei drei Zivilisten. Kann man das ethisch irgendwie quantifizieren oder genauer sagen?

Moshe Zuckermann: Ich möchte erst etwas dazu sagen, was du anfangs gesagt hast. Für mich war Hamas noch nie eine emanzipative Befreiungsbewegung. Ich bin ein Marxist, und Marxisten haben nicht sehr viel im Sinn mit religiösen Fundamentalisten, nicht im Westjordanland, aber auch nicht unsere Fundumentalisten. Das sind ganz reaktionäre Bewegungen, die es geschafft haben, politisch sich als Herrschaft zu etablieren und militärisch aufzurüsten. Aber Befreiungsbewegungen sind das für mich nicht. Hamas ist für mich keine Bewegung, mit der ich mich solidarisieren kann, ganz im Gegenteil.

Das Problem besteht nur darin, dass es die Bewegung ist, die es mit Israels Hilfe geschafft hat, sich im Gazastreifen zu etablieren. Jetzt hat man plötzlich gesehen, dass man die Geister, die man rief, nicht mehr los wird. Jetzt ist mit einmal die Frage aufgetaucht, was man damit macht? Für mich ist das nicht lösbar, indem man versucht, jetzt die Hamas zu zerschlagen, weil damit eine ganze Menge an Verbrechen einhergeht. Kollateralschaden nennt man das, aber das ist kein Kollateralschaden. Obwohl man sich als moralische Armee ausgibt, die chirurgische Operationen ausführt, ist das Quatsch. Es sind Tausende von Frauen und Kinder schon jetzt umgekommen und es werden noch viele umkommen.

Wenn man die Bilder von Gaza-City ansieht, sind dort schon große Gebiete dem Erdboden gleich gemacht worden.

Moshe Zuckermann: Aber darunter sind noch Tausende von Leute begraben. Es sind nicht nur die Häuser, die explodieren, die darunterliegenden Leichen sind das andere. Und von daher sage ich, dass man das nur politisch angehen kann. Zuerst muss das Problem mit den Entführten gelöst werden. Dann soll eine Konstellation aus verschiedenen Kräften Druck auf Gaza ausübt, damit eventuell auch über die Vermittlung von Katar eine politische Lösung gefunden wird.

Katar ist ja nun kein politisches Vorbild, ein autoritärer Staat …

Moshe Zuckermann: In der Not, heißt es so schön im Deutschen, frisst der Teufel Fliegen. Ich bin auch kein Anhänger von Katar. Übrigens hat Israel ja mit Katar kooperiert. Israel wollte die Hamas halten, also durfte Katar die Gelder überweisen. Diese Paradoxien gibt es hier. Wenn dieses Problem nicht politisch, sondern nur militärisch angegangen wird, dann wird es immer mehr zu einer humanen Katastrophe. Jedes Mal, wenn es zu so einem Waffengang kommt und immer mehr Menschen sterben, entsteht die nächste Generation von Israel-Hassern und eventuell auch von Terroristen und Menschen, die Israel bekämpfen wollen. Israel kann so das Problem nicht lösen, deshalb muss die Alternative eine politische Lösung sein, nachdem man sich auf einen Deal mit Hamas eingelassen hat. Von mir aus könnten alle Gefangenen freigelassen werden, damit die Geiseln befreit werden.

“Es gibt kein Israel. Es gibt die Bevölkerung, die aufgespalten ist”

Ist denn dafür  eine Mehrheit der Israelis im Augenblick zu haben?

Moshe Zuckermann: Damit haben wir begonnen. Die Bewegung vergrößert sich. Es gibt mittlerweile diese gelben Farbebänder, die die Solidarität mit der Bewegung der Angehörigen symbolisieren. Man sieht das in Tel Aviv immer mehr. Wenn man sehen wird, dass immer weiter gekämpft wird und so die Geiseln und Entführten in immer größere Gefahr geraten, kann ich mir vorstellen, dass auch in der Bevölkerung mehr Leute sich damit identifizieren werden. Aber das ist Spekulation.

Israel wird durch den Krieg, den es führt, immer isolierter. Ist das ein Thema in Israel? Also, ob man es sich politisch erlauben kann, in die Ecke gedrängt zu werden?

Moshe Zuckermann: Du sprichst von Israel. Es gibt kein Israel. Es gibt die Bevölkerung, die aufgespalten ist. Es gibt die Siedler, von denen aus alle Goi, also alle Nichtjuden, zur Hölle gehen können. Es gibt die liberalen Israelis, die immer mehr in Zugzwang geraten, aber auch immer mehr in die Ecke gedrängt werden. Es gibt vor allem die politische Klasse, die einzig damit beschäftigt ist, wie sie überlebt. Sie ist gar nicht mit der Frage beschäftigt, wie unser Stand in der Welt ist. Das ist denen egal. Netanjahu ist es egal, wie wir in der Welt stehen, wenn er nur überleben und der Bevölkerung sagen kann, jetzt, wo die Welt gegen uns ist, dann erst recht. Es ist ja sein Vorteil, so manipulativ zu operieren. Das ist das Israel, mit dem wir es zu tun haben im Moment. Und wer sind seine Minister? Letzte Woche haben sie sich nicht entblödet zu sagen, man sollte eine Atombombe über Gaza abwerfen.

Der Minister darf jetzt zwar an Kabinettssitzungen nicht mehr teilnehmen, ist aber nicht entlassen worden. Das zeigt ja auch, wie mächtig diese Gruppe ist.

Moshe Zuckermann: Er ist nicht entlassen worden, weil Netanjahu das scheißegal ist, wenn dieser Mann so eine Idiotie von sich gibt, die Israel natürlich propagandistisch desavouiert. Er will nur seine Koalition aufrecht erhalten. Der Minister ist einer von Ben Gvirs Leuten. Daher will er ihn nicht entlassen, weil dann Ben Gvir sagt, wenn du ihn entlässt, dann hast du keine Regierung mehr. Das ist für Netanjahu die endzeitliche Vorstellung, nicht die eventuell toten Geiseln, sondern dass er seine Macht verliert und zum Rücktritt gezwungen wird. Von welchem Israel reden wir hier? Von Israel, das ich vertrete, von Israel, das die Siedler vertreten, von Israel, in dem gewissermaßen Judo-Nazis in der Regierung sitzen, also auch solche Leute, die mal kurz eine Atombombe abwerfen wollen?

Am 7. Oktober hat sich nicht nur erweisen, dass an diesem Tag die Regierung und die Geheimdienste, versagt haben, sondern auch danach die ganzen Regierungsministerien. Im Grunde genommen ist eine ganze Menge von denen funktionslos sind. Die Posten wurden nur verteilt, damit die Koalition zustandekommt. Das ist eine dysfunktionale Regierung. Wenn sich nicht eine Zivilgesellschaft auf freiwilliger Basis organisiert hätte, die viele Aufgaben, die eigentlich die Ministerien erfüllen müssten, übernommen hätten, würde es noch viel schlimmer als ohnehin stehen. Die desolate Situation von Israel ist im Moment, dass es eine Regierung hat, die zwar einen Krieg zu führen versteht, nachdem sie versagt hat, aber die nicht fähig ist, das, was mit diesem Krieg entsteht, auch wirklich in die Hände zu nehmen und zu meistern.

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Das Gespräch wurde am Mittwoch, den 8.10.2023, um 16 Uhr geführt.

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23 Kommentare

  1. Die SMO von Russland in der Ukraine hatte sehr deutlich ihre Ziele benannt, dem Faschismus ein Ende zu setzen. Die heutige Situation dort, sieht alles andere als gut aus für die Ukraine.
    Ich denke, daß eine ähnliche Denke in Israel und Palästina vollzogen wird.
    Den Grund sehe ich darin, das im Vorfeld klar über die Medien formuliert wurde, das diese ‘Eugenik’ länger weilen wird. Sie währt länger nicht um der toten Willen, sondern um eine breite Mehrheit davon zu überzeugen, daß das der vernünftigere Weg sein mag.
    Ich bin der Meinung das was wir heute erleben eine sehr lange Vorgeschichte besitzt und. diese Geschichte soll nicht nur die betroffenen erreichen, sondern vielmehr eine breite Weltöffentlichkeit.

    Irren ist möglich, wie beschrieben nur Gedanken…

    1. diese zwei Probleme Ukraine und Palästina zu vergleichen ist abwegig…
      Ur- Probleme
      in der Ukraine wollte sich die NATO, trotz mehrerer Proteste aus Russland, bis an die russische Grenze ausdehnen. Nach dem Putsch wurden die russische Minderheiten drangsaliert, Verfolgt, Verbote von Sprache, Kultur, usw. das ganze Programm wenn man provozieren will… und alles, was der WWertewesten” beabsichtigt hat, Schwächung, Zerfall und Regime Change in Russland…
      sind nicht eingetreten- im Gegenteil, Russland ist stärker den je und der Westen rutscht in eine Depression…
      gut beschrieben von Jeffrey Sachs
      in Palästina ist die Situation anders… gut ausgedrückt hat es Moshe Dayan, einer der Gründerväter Israels der 1956 sagte:
      „Welchen Grund haben wir, uns über ihren heftigen Hass uns gegenüber zu beschweren? Seit acht Jahren sitzen sie in ihren Flüchtlingslagern in Gaza, und vor ihren Augen verwandeln wir das Land und die Dörfer, in denen sie und ihre Vorfahren gelebt haben, in unser Zuhause.“ …
      und in der zwischenzeit sind es 75. Jahre und die Palästinenser haben trotz UNO Resolution keinen Staat, im Gegenteil es werden seit Jahrzehnten illegale israelische Siedlungen gebaut und die Palästinenser ausserhalb von Gaza Freiluftgefängnis werden von militanten Siedlern verfolgt, gefoltert und vertrieben… (Indianer des NahOst?)
      und 6000 Palästinenser sollen ohne Gerichtsurteil im Gefängnis vegetieren (sieht nach Guantanamo des NahOst aus)
      es wundert mich nicht dass nach 75. Jahren “Gefangennahme” und Perspektivlosigkeit sich riesiger Haß aufstaut, das dann der Ausbruch ohne gleichen brutal ist… und da haben Sie Recht, es sollte die breite Öffentlichkeit erreicht werden und das geht heutzutage nur mit der allergrößten “Aufmerksamkeit”…

      1. Etwas Wahres ist aber dran am Vergleich Ukraine/Israel: So wie USA und Nato den Angriff Russlands auf die Ukraine provoziert hat, so hat Israel (mit Netanjahu) den Angriff der Hamas provoziert. Laut westlichen Medien natürlich beides unprovoziert, einfach nur weil Hamas bzw. Russland böse sind. In der Ukraine dient Butscha als Rechtfertigung gegen Friedensverhandlungen und in Israel dient der Hamas-Überfall als Rechtfertigung für die Vertreibung der Palestinenser. Krieg als Instrument der Politik demokratischer Staaten.

  2. Dysfunktionale Regierungen sind wohl die “Regelbasierte Ordnung” von der immer die Rede ist! Klebrige Korrupte Politiker wohin man Weltweit schaut, und abwählen lassen sich diese Funktionslosen, auch nicht mehr.

    Ewigerkrieg als Zwanzig Jahres Ziel oder eine ganze Generation für immer verschwenden.

  3. “Der Krieg soll also noch ein Jahr weitergehen. Wie soll man das allein wirtschaftlich verkraften? Und so weiter.” In erster Linie – was soll in dieser Zeit mit der Bevölkerung Gazas geschehen? Wann beginnen die Leute zu sterben wie die Fliegen? Wenn es nicht bereits der Fall ist?

    “Aber Befreiungsbewegungen sind das für mich nicht. Hamas ist für mich keine Bewegung, mit der ich mich solidarisieren kann, ganz im Gegenteil.” Ja. Vielleicht muss man das wirklich so ausdrücklich sagen, obwohl es doch eigentlich mehr als auf der Hand liegt, dass man sich als Linksdrehender nicht mit religiös grundierten Rechtsextremen solidarisiert.

    Warum ist es nicht wortwörtlich selbstverständlich, dass man sich nicht notwendigerweise auf die eine Seite stellt, wenn man die andere kritisiert? Wie manichäisch tickend muss man sein, um derart schwarzweiss zu denken?

  4. So oder so, für die eigenen Schuldkultbetreiber und Terrorversteher könnte es in Israel bald ungemütlich werden. Aus Sicht der Hamas gibt es eh keinen Unterschied, da ist Jude gleich Jude und Israel wird seine Lehren aus dem 7. Oktober ziehen.

    Als Kind hat mir mein Vater mal gesagt, fang keinen Streit an, gehe dem wenn möglich aus dem Weg, aber wenn dich einer haut, dann hau so fest zurück, daß der das nie wieder macht.

    Und genauso handelt nun Israel und zwar mit dem Zorn der Gerechten. Man reißt das Übel mit der Wurzel raus und bekämpft Feuer mit Feuer.

      1. Das Zitat ist nicht sonderlich originell, dieses die grundlegende Verhaltensmaxime lernt man in jedem Survival – Kurs.
        Gefecht ausweichen wenn immer geht, wenn nicht geht so hart und entschlossen wie möglich kämpfen.
        Davon abgesehen passt es hier nicht, da ja Israel vor Jahrzehnten den Streit mit Bruch der UNO-Resolutionen zur Aufteilung des Landes begonnen hat.
        Weiter davon abgesehen ist in der Tragik der Situation, 2 religiös fanatisierte Lager in einem winzigen völlig übervölkertem Gebiet , ohnehin jede Parteinahme fehl am Platz, Die Handelnden auf beiden Seiten haben einen an der Klatsche und handeln gegen das Interesse ihrer Völker. Man könnte nur von außen Versuchen irgendwie lindernd zu wirken. einstweilen wird international viel geschwafelt und wenig getan. Kommt mir alles ein wenig wie Theater vor, gegen Russland hat man nicht so lange geschwafelt, sonder Fakten geschaffen.

        1. Bronson kann ich akzeptieren.
          Aber diese selbstmitleidige Niete ist ein Netanjahu mit angeklebtem Bart,
          wie alle ‘Ziegenfreunde’ dieser Welt.

    1. Schauen Sie sich Israel auf der Karte an: Ein Fremdkörper umringt von Feinden, ein Stachel im islamischen Fleisch. Was meinen Sie wie lange Israel das noch durchhält – im Niedergang der westlichen Vorherrschaft in der Welt?
      Israel hat nur 2 Möglichkeiten: Sich zu arrangieren mit der arabischen Umgebung (also bedeutende Zugeständnisse machen) oder es verschwindet von der Landkarte. Ein Exodus aus Israel setzt ja bereits ein. Zurück bleiben vermutlich nur die Ultraorthodoxen – mit denen kann man sich vorstellen wie es ausgeht.

  5. Das Problem ist, dass der palästinensische Terrorismus sich gegen alle richtet, während die Israelis nur Palästinenser und andere Araber attackieren, und wahrscheinlich ein jüdisches Erez Israel vom Jordan bis zum Meer anstreben.

    1. seit wann gibt es den Palästinensischen Terrorismus, und warum, Ziele…
      seit wann gibt es den Israelischen Terrorismus, und warum, Ziele…
      wenn man diese Fragen geklärt hat kommt man zum Ziel…

  6. Zunächst ein großer Dank an Moshe Zuckermann für seine Schilderung zur innenpolitischen Lage in Israel.
    Die Lage scheint wenig Hoffnung für eine dauerhafte friedliche Lösung geben wenn die Optionen zwischen Bürgerkrieg, Vernichtung und Vertreibung der Palistinänser, keine 2 oder 1 Staatenlösung, liegen.

    Ich frage mich daher ob das auf einen ewigen Krieg oder gar auf einen größeren Krieg hinausläuft? Ich habe mal davon geträumt in einer friedlichen und für alle Menschen gerechten Welt zu leben. Wenn ich all die Konflikte auf der Welt sehe, glaube ich nicht mehr daran das noch zu erleben.

    Wirklich sehr schade

  7. Wieso ist eine Zweistaatenlösung so unmöglich? Wer wäre denn der Gewinner? Erstmal nur Gaza betrachtet.

    Ganz vorneweg Israel. Denn es könnte sich dann die Kosten für die Absperrung sparen und die Kosten für die Versorgung des Gaza, die, wie man sieht, ja wohl eine hundertprozentige ist. Und keine Raketen mehr von dort. Das ist ja nur möglich, weil Gaza kein Staat ist, sondern ein Flüchtlingslager, in dem niemand für etwas verantwortlich ist. Als Staat sähe das anders aus. Ebenso profitiert Katar, das seine Milliarden dann sinnvoller einsetzen kann.

    Ob Netanjahu das kapiert, ist fraglich. Der aber ist eh schon so gut wie weg. Erübrigt sich.

    Natürlich profitiert auch die Gaza-Bevölkerung. Wenn da ein Staat mit einem Rechtssystem und einer Justiz existiert, kann da investiert werden. Saudi-Arabien hat schon zu Trump-Zeiten zwei Milliarden angekündigt. Kein Problem.

    Wo so viele Vorteile sind und eine Lösung dringend notwendig ist, warum soll das diesmal nicht klappen?

    Och lasst mir doch meine Hamas, wäre der Satz, der herauskäme, wenn man Zuckermanns Artikel in dieser Art beschränken müsste. Schon klar, seine Bücher sind nichts als die völlig kritiklose Übernahme der Hamaslügen, mit linkem Anstrich versehen. Der Moshe vermisst etwas, wenn die Hamas nicht mehr ist.

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