Stephan Schleim über die Gründe für den Erfolg von Wilders Ein-Mann-Partei, die schwierige politische Situation in den Niederlanden und die Möglichkeit einer außerparlamentarischen Regierung.
Du lebst schon seit vielen Jahren in den Niederlanden und hast jetzt auch natürlich die Wahlen mitverfolgt, in denen der rechte Islamophobe Gerd Wilders mit seiner Partei zur stärksten politischen Kraft wurde. Es wird manchmal gesagt, seine Partei der Freiheit habe nur ein Mitglied und das sei er selbst. Ist das denn richtig?
Stephan Schleim: Ja, das wissen sogar nicht alle hier in den Niederlanden. Ich hatte gerade noch ein Gespräch darüber, weil gerade Zahlen veröffentlicht wurden. Nach den Wahlen ist es oft so, dass viel in bestimmte Parteien eintreten. Durch den Schock sind in der Woche seit der Wahl viele in die Grün-Linke und die Arbeiterpartei. Gerd Wilders Partei ist in dieser Auflistung nicht dabei, weil sie formal wirklich nur ein Mitglied hat, nämlich Gerd Wilders selbst. Das ist auch für Deutsche interessant. In der Pressekonferenz mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht wurde erwähnt, dass man nach einer Form sucht, eine Partei zu bilden, so dass es keine Störfaktoren gibt, also dass etwa kleine Gruppierungen die ganze Partei aushebeln können. Das Problem hat Geert Wilders, als er seine Partei gegründet hat, auch schon bedacht. Wenn sie formal nur ein Mitglied hat, gibt es auch nie Stress mit anderen, wenn die Mitglieder oder die Abgeordneten nicht machen, was er will. Immerhin sind jetzt 37 Abgeordnete im Parlament, was sehr viel ist im niederländischen Parlament. Wenn die nicht machen, was er will, dann kann er sie wahrscheinlich einfach so mit einem Fingerschnippen rauswerfen bzw. wieder abberufen. Also wenn man aus der Warte der Effizienz sieht, hat man natürlich weniger Probleme, wenn man formal nur ein Mitglied in der Partei hat. Aber das ist natürlich nicht sehr demokratisch.
Ist das denn überhaupt rechtlich möglich? Welchen Status hat diese Parteifraktion im Parlament, wenn sie nur ein Mitglied hat?
Stephan Schleim: In der Niederlande wählt man eine Person auf einer Liste einer Partei. Die Anzahl der Sitze ergibt sich aus der Anzahl der Stimmen dieser Liste. Es können Leute, die weiter unten stehen, bevorzugt werden, wenn sie mehr Stimmen haben als diejenigen, die oben stehen. Wilders hat eine solche Liste vorgegeben und die Leute werden dann gewählt, sind aber formal nicht Mitglied der Partei, sondern im Endeffekt Parteilose, die in seinem Auftrag in den Parlamenten oder auch in anderen Funktionen dann sitzen.
Hätten die dann nicht auch mehr Freiheiten gegenüber ihm?
Stephan Schleim: So tief bin ich nicht ins Grundgesetz eingestiegen. In Deutschland sagt man ja, die Abgeordneten seien nur ihrem eigenen Gewissen gegenüber verpflichtet. Ich vermute mal, dass das auch so ist. Aber weil es in Wilders‘ Partei selbst keine demokratischen Mehrheitsverhältnisse, keine Abstimmungen gibt, sind die Abgeordneten sehr viel stärker von ihm abhängig. Aber es kann natürlich sein, dass es Streit gibt und sich Abgeordnete aus der Fraktion abspalten. Aber formal sind sie nicht Mitglied der PVV, auch wenn sie für sie im Parlament sitzen. Das ist schon sehr interessant.
Wilders ist schon seit 2006 mit der Partei im Parlament vertreten. Was war denn jetzt der Grund dafür, dass die Partei so stark zugelegt hat?
Stephan Schleim: Das ist natürlich die Frage aller Fragen. Ich würde gerne kurz darauf zurückgehen, warum überhaupt am 22. November gewählt wurde, weil ja eigentlich erst im März 2021 die letzte Wahl war. 2021 war ein Rassismus-Skandal ans Tageslicht gekommen, durch den Pieter Omtzigt, ein Abgeordneter der christlichen Partei (CDA), auf einen Schlag bekannt geworden ist. Er war jetzt auch in den Medien, weil er eine neue Partei gegründet hat. Er war eine Art Whistleblower und hat dafür gesorgt, dass dieser Skandal (Toeslagenaffaire) aufgedeckt wurde, dass zum Beispiel bei Menschen mit ausländischem Namen oder mit einer doppelten Staatsbürgerschaft viel genauer nach Steuerhinterziehung, Betrug und so weiter gesucht wurde.
Regierung ist aufgrund der Migrationsfrage gescheitert
Hat die Regierung denn die Anweisungen gegeben, dass mehr in dieser Richtung geprüft wurde?
Stephan Schleim: Die christliche Partei war an der Regierung beteiligt. Für sie war es schon sehr unangenehm, dass Pieter Omtzigt als Abgeordneter der Partei das aufdeckte, was zum Sturz der Rutte-Regierung führte. Nach der vorhergehenden Wahl hatte es fast ein Jahr gedauert, um die letzte Rutte-Regierung zu bilden. Es war die längste Zeit für die Bildung einer Koalition in der Geschichte der Niederlande. Und da war Pieter Omtzigt, dieser Whistleblower, ein Dorn im Auge. Es kam zu einem Riesenskandal, weil zufälligerweise ein Pressefotograf Papiere, die eine der Frauen beim Gang zu den Regierungsverhandlungen im Arm trug, fotografiert hatte. Durch Vergrößern konnte man dann lesen, dass Omtzigt für die Bildung dieser Regierung im Wege war. Er ist aus der CDA ausgetreten, war zuerst fraktionslos und hat dann eine eigene Partei gegründet.
Vor zwei Jahren wurde also die neue Koalition mit sehr viel Mühe nach langer Zeit mit vier Parteien gebildet und ist im Sommer 2023 schon wieder gescheitert, weil es keine Einigung über Asylfragen gab. Rutte hat daraufhin den Rücktritt der jetzt noch im Amt befindlichen Regierung beantragt und schließlich erklärt, dass er nicht mehr als Kandidat zur Verfügung steht. Interessant ist, dass die Regierung aufgrund dieser Asyl- oder dieser Migrationsfrage gescheitert ist, weil es im Endeffekt nur um den Familiennachzug ging. Die christlichen Parteien in der Koalition haben darauf bestanden, aber Rutte lehnte das ab und hat die Koalition damit zerbrochen. Im Jahr kommen zwischen 40.000 bis 50.000 Asylsuchende in die Niederlande. Das ist keine so riesige Welle, wie das in den Medien manchmal dargestellt wird. 50.000 Menschen in einem Land mit 18 Millionen Einwohnern ist nicht so viel, würde ich sagen. Aber die Regierung hat es nicht geschafft, dies den Menschen zu vermitteln.
In Ter Apel wurde der Auffangort für die Asylsuchenden gebaut, direkt im Grenzgebiet zu Deutschland, also so wie manche Länder wie Belgien ihre Kernkraftwerke an der Grenze zum anderen Land bauen. Hier sind die Zustände eskaliert. Letztlich ging es nur um einige Asylsuchende, für die es keinen Platz mehr gab, weswegen sich Rote Kreuz und Ärzte ohne Grenzen eingeschaltet haben. Unter ungeklärten Bedingungen starb sogar ein Baby. Eigentlich ging es nur ein paar hundert Menschen, was immer wieder dazu geführt hat, dass dieses Thema in die Medien kam. Man muss aber dazu auch sagen, dass es vor allem junge Männer waren, die wahrscheinlich keine realistische Aussicht auf einen Asylstatus hatten. Die haben auch Ladendiebstähle begangen oder sind in Bussen oder Bahnen manchmal gewalttätig geworden. Also es gab schon Probleme, aber eigentlich war es eine sehr kleine Gruppe. Trotzdem ist dieses Thema so aufgebauscht worden, dass daran die Regierung gescheitert ist.
Den Menschen wurde versprochen, dass die sozialen Probleme, wenn keine Migranten mehr kommen, gelöst würden
Ging es dabei auch um Muslime, was ja das Hauptthema von Wilders ist?
Stephan Schleim: Genau. Geert Wilders war früher selbst ein Parteikollege von Rutte oder auch dessen Konkurrent, je nachdem wie man es sieht. Er hat sich dann abgespalten und aus der Migration sein Hauptthema gemacht. Er sagt, alle politischen und sozialen Fragen haben mit dem Thema Migration zu tun, und hier vor allem mit Anhängern der muslimischen Religion.
Du hast gefragt, warum er jetzt so groß werden konnte. Interessanterweise haben die Umfragen das vorher nicht gezeigt. Hier gab es ein Kopf-an-Kopf-Rennen der vier größten Parteien, also der VVD von Rutte, der PVD von Wilders, der GrünlinksPvdR-Partei und der Partei Neuer Gesellschaftsvertrag (NSC) von Pieter Omtzigt. Erst wenige Tage vor der Wahl hat Wilders es irgendwie geschafft, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung auf das Thema Migration zu richten und den Menschen zu versprechen, dass er dies lösen wird.
Wir haben eine soziale Krise, wir haben Corona und die Inflation hinter uns, viele sind von Armut bedroht, ein ganz großes Problem sind die hohen Mieten und die fehlenden Wohnungen. Parteien, leider auch Omtzigt, haben dann das Problem den Ausländern in die Schuhe geschoben und gesagt, weil wir zu viel Migration haben, sind die Mieten zu hoch. Den Menschen wurde versprochen, dass die sozialen Probleme, wenn keine Migranten mehr ins Land kommen, gelöst würden. Das stimmt natürlich nicht, aber hat doch viele davon überzeugt, diese Parteien zu wählen.
Das ist alles ähnlich wie gerade in Deutschland auch, wo auch die Probleme mit Ausländern oder Asylsuchenden verbunden werden. Hast du als Psychologe eine Erklärung dafür, warum das so verfängt? Ist es einfach Komplexitätsreduktion?
Stephan Schleim: Ja, das spielt bestimmt eine Rolle. Aber wir sollten vielleicht noch mal kurz drüber reden, was die Alternativen gewesen wären. Ein großes Problem war auch, dass Rutte nicht zurückgetreten ist, sondern nur gesagt hat, er stehe als Parteivorsitzender nicht mehr zur Verfügung. Er hat das Feld einer interessanten Persönlichkeit überlassen, nämlich Dilan Yeşilgöz. Sie ist selbst eine türkisch-kurdisch-stämmige Einwanderin, die als Mädchen mit ihrer Mutter aus der Türkei in die Niederlande gekommen ist. Ihr Vater hatte als Gewerkschafter Probleme nach dem Militärputsch in der Türkei, weswegen sie geflohen sind. Yeşilgöz ist zwei Jahren Justizministerin. Ursprünglich war sie Mitglied der Sozialistischen Partei. Sie war extrem links und ist jetzt rechtskonservativ. Sie war zuvor in Amersfoort und dann in Amsterdam in der Stadtverwaltung tätig. Sie wurden dann eingeladen, in die VVD, also in die Ruttepartei, einzutreten und ist erst seit August dieses Jahres Parteivorsitzende geworden. Sie hatte also gerade mal zwei, drei Monate die Möglichkeit, sich zu profilieren. Selbst als Ministerin hatte sie noch keine zwei Jahre Regierungserfahrung. Und jetzt als relative junge Frau, als Einwanderin, ist sie keine typische Gallionsfigur einer national-konservativen Partei.
Ich weiß nicht, ob das eine Rolle spielte. Manche Leute haben bei Umfragen gesagt, sie könnten sich doch nicht mal ihren Namen merken. Das könnte beeinflusst haben, dass sie als konservative Politikerin, die sich um das eigene Volk kümmert, nicht wirklich wahrgenommen wurde. Sie hat in Gesprächen vor den Wahlen immer wieder versprochen, für alle da sein zu wollen, sie wollte eine inklusive Gesellschaft. Das ist nach hinten losgegangen und die Partei hat sehr viele Stimmen verloren. Sie haben zehn Sitze verloren und kommen nur noch auf 15 Prozent. Wilders hat 20 Sitze dazugewonnen und kommt auf 23,5 Prozent. Ich glaube, dass das etwas mit der Person zu tun hat. Und dann ist es auch so, dass die Grünlinks-Partei, die sich mit der sozialdemokratischen Arbeiterpartei unter Timmermans, den man aus der EU kennt, zusammengeschlossen hat, nur zweitstärkste Partei wurde.
Hängt der Erfolg von Wilders vielleicht auch damit zusammen, dass er für einen EU-Austritt plädiert. Wird die EU in den Niederlanden wie in vielen rechten Kreisen abgelehnt?
Stephan Schleim: Wilders Partei fordert im Programm eine bindende Volksabstimmung über den Verbleib oder eigentlich über den Austritt der Niederlande aus der EU. Im Parteiprogramm gibt es sehr viele Punkte, die wohl nicht mit dem EU-Recht vereinbar sind. Zum Beispiel, was auch mich persönlich betreffen würde, dass auch für EU-Bürgerinnen und -Bürger Arbeitsgenehmigungen brauchen würden, was dem Prinzip der Freizügigkeit und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit völlig entgegenläuft. Er will harte Grenzkontrollen und auch die Armee an der Grenze einsetzen kein Geld mehr nach Brüssel überweisen und Geld zurückholen. Wenn man das wörtlich nimmt, wäre das, was in Polen in den letzten Jahren passiert ist, noch relativ harmlos im Vergleich dazu.
Gibt es wie bei den Engländern eine Brexit-Stimmung?
Stephan Schleim: Ich glaube nicht, dass die meisten Niederländerinnen und Niederländer mit der EU unzufrieden sind. Also jedenfalls nicht mehr als in anderen Ländern auch. Wir sind ja alle genervt von diesen Regulierungen und dass da weit entfernt von uns Entscheidungen getroffen werden, die uns Dinge aufzwingen, die wir vielleicht nicht verstehen. Aber ich glaube nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung wirklich aus der EU raus will.
Aber ich wollte noch etwas zu den Alternativen sagen. Das linksliberale Spektrum hat seinen Tiefpunkt erreicht. Sie haben nur noch eine kleine Fraktion im Parlament. Timmermann ist vielleicht nett und erfahren, aber er ist auch sehr elitär. Er ist niemand, der die kleinen Leute auf der Straße überzeugen könnte. Wilders, und das könnte auch für Deutschland, vielleicht für das Bündnis Sahra Wagenknecht interessant sein, versucht hingegen, die soziale Not der Leute ernst zu nehmen, und sagt eben gleichzeitig, Migration sei das Problem Nummer eins. Er hat einen Donald-Trump-Wahlkampf „Let’s make Amerika great again“ in dem Sinne geführt, dass die Niederlande wieder an die erste Stelle kommen müsse. Er hat im Endeffekt die Leute angesprochen und davon überzeugt, der beste Politiker für ihre heutige Lage zu sein, indem er die soziale Not der Leute mit Ausländerfeindlichkeit verknüpft hat.
Es gab bereits Koalitionsverhandlungen. Wilders hat, wie ich glaube, schon eine Absage von der VVD und von Omtzigt bekommen. Besteht denn überhaupt die Chance, dass Wilders Regierungschef werden könnte?
Im Parlament gibt es 15, im Senat 16 Parteien
Stephan Schleim: Ich lese auch jeden Tag die deutschen Nachrichten. Dass das so berichtet wurde, stimmt nicht ganz. Yeşilgöz sagt, sie will nicht mit Wilders regieren. Ihr Standpunkt ist, dass die VVD so viel an Stimmen verloren hat, dass man sich neu besinnen müsse und man sich aus der Regierung zurückziehen sollte. Gleichzeitig erklärte sie, dass sie eine Minderheiten-Regierung von Wilders stützen würde. Sie würde Wilders also nicht verhindern.
Pieter Omtzigt, dessen Partei auf einen Schlag 20 Sitze von 150 bekommen hat und damit die viertgrößte im Parlament ist, sagt, er sehe noch rechtsstaatliche Bedenken und habe noch offene Fragen. Im Parteiprogramm von Wilders sind so viele Punkte drin, die mit dem EU-Recht sicherlich und mit dem niederländischen Grundgesetz wahrscheinlich nicht vereinbar sind. Wilders will beispielsweise ins Grundgesetz schreiben, dass die jüdisch-christliche und humanistische Tradition an erster Stelle steht und der Islam nicht zu den Niederlanden gehört. Oder er will verbieten, dass es muslimische Schulen oder muslimische Vereine gibt und so weiter und so fort. Artikel eins im niederländischen Grundgesetz sagt, es darf keine Diskriminierung geben aufgrund von ethnischer Herkunft und Religion.
Omtzigt hat zwar gesagt, es gebe rechtsstaatliche Bedenken und man müsse erst noch bestimmte Fragen klären, aber es ist gerade erst gewählt worden und die letzte Regierungsbildung hat zehn Monate gedauert. Die meisten Beobachter sind sich einig, dass es auch diesmal nicht einfacher werden wird. Daher ist alles, was jetzt geäußert wird, erst einmal strategisch zu sehen. Bisher ist wenig ausgeschlossen. Es könnte darauf hinauslaufen, dass es eine Minderheitsregierung geben wird.
Das große Problem in den Niederlanden ist, dass es keine 5%-Hürde gibt. Wenn man 0,66% der Stimmen bekommt, hat man schon einen Sitz. Anders als in Deutschland ist die Anzahl der Sitze immer gleich: 150 in der zweiten Kammer oder im Parlament und 75 in der ersten Kammer im Senat. Deshalb haben wir jetzt hier im Parlament sage und schreibe 15 Parteien.
Wir haben noch gar nicht über die Bauernpartei gesprochen. Die Bauern haben sich im Sommer im Zuge dieser Stickstoffkrise gegen Umweltauflagen gewehrt, wodurch die Bauern-Protestpartei bei der Wahl zum Senat im Sommer viele Sitze gewonnen hat. Die Mehrheitsverhältnisse sind jetzt in der ersten und zweiten Kammer sehr unterschiedlich, im Senat gibt es sogar 16 Parteien.
Das Land ist, so meine Vermutung, relativ unregierbar geworden. Rutte könnte nach der Wahl zur ersten Kammer verstanden haben, dass das Land jetzt schwer regierbar geworden ist, weil die Mehrheitsverhältnisse in der ersten Kammer nicht mehr zu denen in der zweiten Kamme passen. Der Senat kann zwar keine eigenen Gesetze vorschlagen, aber er kann alle Gesetze blockieren. Er hat sozusagen ein Veto-Recht.
Ist im Senat die Wilders Partei auch stärker vertreten?
Stephan Schleim: Nicht so stark. Sie hat von 75 Sitzen gerade einmal vier Sitze gewonnen. Die größte Partei ist die Bauern- und Protestpartei. Im Sommer haben die Menschen emotional auf die Proteste reagiert. Die Bauern Autobahnen besetzt und Heuballen angezündet. Und es ging auch gegen die EU-Umweltrichtlinien. Das war so ähnlich wie in Deutschland beim Heizungsgesetz und den Wärmepumpen.
Die Leute sind wirklich extrem genervt
Wie steht denn Wilders zur Klimapolitik? Ist das ähnlich wie bei der AfD hier, die sagt, es keinen menschengemachten Klimaerwärmung.
Stephan Schleim: Ob er den menschengemachten Klimawandel bestreitet, weiß ich nicht. Aber im Programm steht ganz klar, dass er keine Umweltgesetzgebung will. Die Niederländer stehen ganz vorne. Er will die Verteuerung durch den CO2-Preis, grüne Energie-Förderung oder Vorschriften dazu nicht, welche Heizung die Leute einbauen sollen.
Gibt es dann auch hier wie in Deutschland eine Stimmung gegen Grün und gegen eine Klimapolitik?
Ja, ich glaube, die Leute sind wirklich genervt. Die Niederlande hat natürlich mit den Deichen und dem Meeresspiegel ein sehr großes Interesse daran, die Erderwärmung zu reduzieren. Aber die Leute sind wirklich extrem genervt. Und wenn sie keine Möglichkeiten haben, eine Wohnung zu finden, wenn alles teurer wird und man dazu dann noch vieles vorschreibt … Ein ganz konkretes Beispiel. Wir wollten unser Haus isolieren, aber es gibt Umweltauflagen, dass man Fledermäuse schützen muss. Allein die Untersuchung, ob wir Fledermäuse hier in den Mauern haben, ist teurer als die ganze Isolation. Solche Auflagen, die zum Teil vom EU-Recht, zum Teil vom nationalen Recht vorgegeben werden, sind so komplex und machen es so teuer, dass die Menschen sie ablehnen, ist mein Eindruck.
Tragisch ist, dass zum Beispiel die hohen Wohnkosten zum Teil durch eigenes Versagen verursacht wurden. Internationale Investoren und auch große Wohnungsfirmen haben viele Wohnungen aufgekauft. Manche Städte wollen das nicht mehr zulassen und haben den Riegel vorgeschoben. Aber dann hat zum Beispiel die Rutte-Regierung reagiert, dass Eltern noch bis Ende dieses Jahres ihren Kindern bis zu 100.000 € steuerfrei schenken können, damit sie bessere Chancen haben, eine Wohnung zu kaufen. In den Niederlanden gibt es sehr viel mehr Wohneigentum als in Deutschland zum Beispiel. Das bedeutet, dass die Menschen, die wohlhabend sind, bevorteilt werden, eine Wohnung zu kaufen, während diejenigen, die keine reichen Eltern haben, keine Chancen mehr haben, weil die Preise so gestiegen sind. Und dann gibt man dafür den Migranten die Schuld. Wie gesagt, es geht eigentlich nur um eine relativ kleine Zahl von Migranten, aber niemand konnte dieses Problem bisher lösen. Und dann entlädt sich der Unmut eben auf dieses Thema Migration und Einwanderung.
Eine außerparlamentarische Regierung?
Wie geht es jetzt weiter? Hier in Deutschland wird die AfD von den Mitte- und Linksparteien noch geächtet. Ob das nach den nächsten Wahlen noch so sein wird, wenn sie auch stärker werden, was zu erwarten ist, muss man absehen. Aber Wilders Partei ist zwar auch extrem, scheint aber hier nicht so geächtet zu sein wie die AfD hier in Deutschland.
Stephan Schleim: Der Wahlausgang war sicherlich ein Schock für viele. Niemand konnte sich vorstellen, dass die PVV mit einem so einem großen Abstand stärkste Partei wird. Aber was mich persönlich fast mehr schockiert hat, war, wie schnell die Medien umgeschwungen sind. Wilders hat wahrscheinlich auch von Italien gelernt, sich gemäßigter auszudrücken, während im Programm schon noch sehr krasse Dinge stehen. Jetzt ist, glaube ich, seine Strategie, sich in den Sondierungsverhandlungen kompromissbereit zu zeigen. Jetzt sagt er auf einmal, irgendwie gehören doch alle zu den Niederlande dazu, was gar nicht passt zu den Äußerungen im Programm. Es war ein zweiter Schock, dass die Medien relativ schnell so tun, als ob man mit Wilders zusammenarbeiten kann. Interessant ist aber auch, ich habe es kurz erwähnt, dass in der Woche nach den Wahlen für so ein kleines Land wie die Niederlande mit dreieinhalbtausend Menschen relativ viele in GrünLinks und die PwdA eingetreten sind. Das zeigt, dass Menschen innerhalb von nur einer Woche wachgerüttelt wurden und mehr sagen, wir müssen vielleicht doch wieder politisch aktiv werden.
Auf jeden Fall wird es sicherlich nicht einfach. Ich habe schon auf die Zersplitterung zwischen der zweiten und ersten Kammer hingewiesen. Übrigens will Wilders nach seinem Programm den Senat abschaffen, vielleicht auch aus dem Grund, weil es dann weniger Kontrolle durch noch eine unabhängige Kammer gibt. Ja, es wird zähe und schwierige Verhandlungen geben. Eine Möglichkeit, die jetzt diskutiert wird, wäre eine sogenannte außerparlamentarische Regierung, also dass nicht die Parteien die Minister stellen, sondern das Parlament eine Art Expertenregierung wählt, die dann nach Vorgabe von bestimmten Themen arbeitet.
Aber wer soll die beauftragen? Das müsste ja dann auch im Parlament geschehen.
Stephan Schleim: Durch Mehrheiten im Parlament. Im Endeffekt ist es ja auch in Deutschland so, dass nicht die Regierung selbst Gesetze verabschiedet, sondern das Parlament. Dafür müssen auch Mehrheiten geschaffen werden. Die Idee ist, dass man keine Regierungskoalition mehr hat – man sieht ja in Deutschland mit der Ampel, wie schwierig das schon mit drei Parteien sein kann -, sondern man würde bei den Sondierungen nach Mehrheiten für einen Konsens suchen. Bei einem Thema wie dem Umweltschutz könnte es dann Mehrheiten anderer Parteien geben, als beim Thema Migration. Man verhandelt keinen gemeinsamen Koalitionsvertrag, sondern verabschiedet zu einzelnen Themen Gesetze, was übrigens auch seit dem Rücktritt der Regierung, die jetzt noch geschäftsführend im Amt ist, geschieht. Es sind auch jetzt weiterhin Gesetze verabschiedet worden, weil es keinen Fraktionszwang mehr gibt. Und es könnte durchaus so weiter gehen.
Das wäre ja ein interessantes Experiment. Das klingt doch demokratischer fast als das mit dem Fraktionszwang.
Stephan Schleim: Genau. Es kann gut funktionieren. Auch in Deutschland stimmt vielleicht die Opposition einem eigentlich guten Gesetz nicht zu, weil sie der Regierung den Erfolg nicht gönnen will. Das würde wegfallen. Demokratisch gesehen, wäre das gar nicht mal so verkehrt. Aber mit 15 Parteien im einen Parlament und 16 Parteien im zweiten Parlament ist es einfach sehr, sehr, sehr komplex. Ich fürchte, dass hier politisch ein Stillstand für die nächsten Monate, vielleicht sogar Jahre eintreten wird. Und vielleicht gibt es dann sogar auch Neuwahlen, dann sieht das Meinungsbild wieder ganz anders aus. Niemand weiß genau, was passiert. Aber dass es nicht einfach wird, das ist, glaube ich, den meisten bewusst.
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Also insgesamt eine Krisenstimmung in den Niederlanden.
Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder man regelt die Themen, die den Wählern
am Herzen liegen wie Migration und EU-Autokratie, oder der Wähler schafft Mehrheits-
verhältnisse, die das Ganze zu regeln imstande sind.
Neben der Migration, mal so nebenbei die halbe Landwirtschaft zerstören?
Wenn die Niederlanden gar keine Regierung hätten, würde es schon weniger schlimm sein!
Das gleiche trifft auf uns zu.
Es gib ja duchaus eine Kenia-artige Alternative zu Wilders: PvdA5GL, NSC, D66 geduldet durch die VVD.
Und 50K Flüchtlinge p.a. entsprechen in DE ca. 233K. Also soo klein ist die Zahl nicht, zumal die NL deutlich dichter besiedelt sind. Und die Wohnungsnot ist deutlich prekärer. Da kommen Verteilungsfragen auf’s Tapet.
Noch ein paar Groschen, für manche wohl ein Rant. Nun – das Thema fixt mich einfach.
Das stimmt so nicht. Sie mag vielleicht heutzutage manchen als „viel“ erscheinen. Aber im Vergleich mit früheren Wahlen ist diese Abgeordnetenzahl definitiv nicht sehr viel. Mal ein stichprobenartiger Blick in die holländische Wahlgeschichte:
Wahlen 1956:
PvdA: 50
KVP: 49
VVD: 13
1963:
KVP: 50
PvdA: 43
VVD: 16
1977:
CDA: 53
PvdA: 49
VVD: 28
1989:
CDA: 54
PvdA: 52
VVD: 27
1994:
CDA: 37
PvdA: 34
VVD: 31
2006:
CDA: 41
PvdA: 33
SP: 25
VVD: 22
2012:
VVD: 41
PvdA: 38
PVV: 15
Anmerkung I: die Tweede Kamer hat seit 1956 immer 150 Sitze.
Anmerkung II: vorgezogene Neuwahlen sind in Holland nicht so selten.
Es zeigt sich, dass sich in früheren Jahrzehnten zwei Parteien (Christ- und Sozialdemokraten) oft ein Kopf-an-Kopf-Rennen lieferten und dabei deutlich mehr Sitze hatten als die PVV heute. Die rechtsliberale VVD kam als dritte Kraft dahinter. Mit der Parzellisierung der Wahllandschaft und der selbstverschuldeten Entmannung der PvdA gab es aber bei den letzten Wahlen meist nur noch eine mittelgroße Partei (VVD, jetzt PVV) und viele kleinere. Da sind dann 37 Sitze in der Tat eine Hausnummer – aber auch kein Erfolgs- oder Einflussgarant. Die „Socialistische Partij“ war 2006 unter Jan Marijnissen klare Wahlsiegerin, legte um zehn Prozentpunkte zu und erhielt mit 25 Sitzen ihr „Rekordergebnis“ – so what? Sie kam nicht in die Regierung und verlor bei der Folgewahlen wieder deutlich (obwohl es immer noch das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte war). Heute ist sie unter Marijnissens Tochter auf dem Weg in die politische Bedeutungslosigkeit (ihre Inhalte sind vergleichbar mit der Woken unter Kipping / Riexinger).
Sagt man. Man sagt aber auch: Es gibt die Verfassung und es gibt die Verfassungswirklichkeit. Laut Art. 38 GG mag jedes MdB nur seinem Gewissen unterworfen sein. Real ist das nicht der Fall („Fraktionsdisziplin“). Es gibt weder in Holland noch in Deutschland ein „freies Mandat“. Das ist ein Idealbild genauso wie weiter unten, wo es im Interview heißt:
Ja, das Parlament verabschiedet Gesetze. Aber wie das abläuft – ach, das kann einer wie Marco Bülow erläutern, der hat das ja aus nächster Warte miterlebt.
Bis Ende der 1980er lag die Zahl der Menschen, denen Asyl in den Niederlanden gewährt wurde, laut Daten der Weltbank bei jährlich um die 10 000. Auch wenn die Zeit damals gerne verklärt wird – sie war weder krisen- noch fraktionsfrei. Band Aid trällerte sein „Do they know it’s Christmas“ nicht ohne Hintergrund (Äthiopien). In den 1990ern erfolgte dann ein rapider Anstieg mit einem ersten Höhepunkt im Jahr 2001 (152 000 Asylsucher).
Die Zahlen für die letzten zehn Jahre lagen nun deutlich über den von Schleim genannten 40 – 50 000. 2016 bis 2021 pendelten sie sogar um die 100 000 jährlich, 2022 waren es 218 000. Aber auch wenn es „nur“ 50 000 wären: Es wäre eine Verfünffachung gegenüber den früheren (keineswegs krisenfreien) Jahrzehnten. Ob man das als „nicht so viel“ erachtet hängt m.E. sehr davon ab, wo und in welchem Milieu man lebt und wie sehr man von den Auswirkungen dieses Prozesses persönlich betroffen ist. Die Umrechnung für Deutschland hat ja dankenswerterweise @ jjkoeln übernommen. Hier noch für Interessierte eine Darstellung des niederländischen Migrationssaldos von 1995 bis 2022. Die Entwicklung der letzten Jahre wird einige Wähler umgetrieben haben.
Ich kann dieses „die Regierung hat es nicht geschafft den Menschen xyz zu vermitteln“ nicht mehr hören. Sorry no sorry. Das hat mich bereits in der Agenda-Debatte der 2000er genervt: „die SPD hat es bloß nicht geschafft ihre gute Politik den Leuten zu vermitteln“. An der Agenda 2010 war aber nichts gut. Zumindest nicht für meine Klasse. Mit dem Argument entmündigt man im Grunde bloß die Menschen und stellt sie als dumm oder unbelehrbar dar.
Herrn Schleim will ich diese Intention dabei nicht einmal unterstellen – mir geht es nur um das Argument und das kann ich einfach nicht ab. Es gibt sehr viele Menschen, die sich mit politischen Themen umfänglich auseinandersetzen. Viele nehmen nämlich die Schattenseiten – ob von Migrations-, Klima-, Sozial-, Außen-, Pandemiepolitik oder schlicht „der“ Politik –konkret wahr, weil sie von ihnen schlicht persönlich betroffen sind (Wohnungs- / Arbeitsmarkt, Gesundheitsversorgung). Denen muss man nichts dazu „vermitteln“. Deren Stimme und Argumente müsste man vielleicht mal ernst nehmen und nach richtigen Lösungen suchen. Geht natürlich nicht in einem System, in dem Zwangsmigration, Austerität. soziale Spaltung und Co. tragende Säulen und sehr wohl erwünscht sind.
Davon abgesehen, stoße ich mich auch an der Wassermetapher („Welle“) für Menschen, ist aber eine andere Diskussion.
„Zustände eskaliert“ klingt für mich immer wie „Zusammenstöße auf dem Tempelberg“. Wer oder was stößt da zusammen? Omnibusse?
Also: Was für Zustände eskalieren? Das ist so nüchtern-unkonkret. Ich komme ja selber aus dem beschreibenden Sprech, mache das häufig auch. Deswegen reibe ich mich daran.
Mal einfach als Formel: Zwangsmigration + Austerität und neoliberale Dominanz im frugalen Aufnahmestaat = „sozialer Sprengstoff“ (um eine andere Metapher zu wählen). Ein „menschenunwürdig“ sollte man den Zuständen voranstellen. Mindestens.
Für die Betroffenen vor Ort spielt es aber keine Rolle, ob das eine „kleine Gruppe“ und „manchmal“ oder eine „große Truppe“ und „sehr oft“ ist. Sie wollen mit diesen Problemen nicht konfrontiert und vor allem nicht alleine gelassen werden. Ich frage mich auch, ob man das hierzulande so hinnehmen würde, wenn jemand über Region xy berichtete und sagte: „Die Gelbwesten / Querdenker / Eintracht-Fans haben auch Ladendiebstähle begangen oder sind manchmal gewalttätig geworden. Trotzdem ist das so aufgebauscht.“ Hängt vermutlich von der Gruppe ab, von wem und ob das hingenommen würde…
In meiner Region werden Asylsucher generell nur im Industriegebiet oder in den unterprivilegierten Bezirken am Stadtrand untergebracht. Dort wo schon andere gesellschaftlich Schlechtgestellte leben und genug mit ihren Problemen am Hut haben. Man könnte auch sagen die Neuen werden bei uns „abgeladen“ und ihrem Schicksal überlassen. Anders natürlich es handelt sich bei ihnen um von den hiesigen Eliten als rassisch wertvoller erachtete Menschen, sprich Ukrainer. Die bekommen ja Privatunterkünfte inklusive zweier beleuchteter Carports für die SUVs und sonstiger Privilegien. Und nein das ist nicht überzeichnet, nur ein Teilen persönlicher Alltagserlebnisse (gesammelt vor der Haustüre, in Ämtern, bei der Tafel…). Und die Kritik am rassistischen Gegeneinander-Ausspielen von Migrantengruppen habe ich von Emran Feroz…
Mag auch sein, dass in Holland im konkreten Fall etwas aufgebauscht wurde. Sehr häufig bekommen Menschen hier aber die Probleme und Folgekosten der Zwangsmigration in ihrem Alltag direkt mit und brauchen dann gar keine mediale Aufbauschung mehr um frustriert zu sein oder wütend zu werden.
Man muss es knallhart sagen: viele heutige Wähler von GroenLinks, SP, D66, Omtzigt etc. bekommen die Schattenseiten ihrer Politik nicht mit oder machen sich nicht viel aus ihnen. Ist hierzulande in den gut situierten Milieus der Ampel oder Union ebenso. In Unistädt(ch)en wie Marburg, Tübingen oder Heidelberg und zugehörigem Speckgürtel lebt es sich für einen signifikanten Bevölkerungsteil und dessen Kinder sehr gut. „Migranten“ lernt man in Gestalt von Erasmusleuten, Postdocs und Aufsteigern oder allenfalls auch in Gestalt des Busfahrers und der Haushaltshilfe kennen. Wie viele Verbildete haben Langzeitarbeitslose, Kleinrentnerinnen oder Handwerker zum Freund? Ich meine nicht bei Facebook. Ziemlich wenig. Klassen- und milieuübergreifende Freundschaften und Hochzeiten werden auch von Tagesschau und Co. inzwischen als im Schwinden begriffen erachtet. Die Profiteure bleiben unter sich. Und die Betroffenen zunehmend auch. Dementsprechend ist das Wahlverhalten. Materielle wie immaterielle Verlierer der Verhältnisse stimmen entweder nicht ab (wie ich), wählen ungültig oder irgendeine Kleinstpartei – oder eben systemische Alternativen oder solche die man dafürhält.
Dann hierzu:
Stichwort „junge Männer“. Ist der Umgang mit dieser Personengruppe nicht ein trauriges Beispiel wie mit männlichem Leben in unserer Gesellschaft umgegangen wird? Der Mann begegnet „uns“ immer nur als „Gift“ (Stichwort: toxische Maskulinität). Sei es der „böse weiße Alte“ oder der „böse migrantische Junge“. Und bei Israel / Gaza hört man 24 / 7 alles über die Schicksale der toten Frauen und Kinder – alles schön und gut und richtig, aber was ist mit den toten Jungs und Männern (ob Kinder, ob israelische Heranwachsende im Panzer, ob palästinensische, die ihnen gegenüberstanden)? Und fangt mir jetzt nicht „fragiler Männlichkeit“ an…
Natürlich sind einige dieser „jungen Männer“ in ihrem Verhalten problematisch. Aber hat man sich mal damit auseinandergesetzt wo das herkommt? Außer von „Koran“, dem Zauberargument zum Diskussionsabwürgen. Hat man sich mal gefragt, was oftmals jene „jungen Männer“ ob mit oder ohne abgelehnten Asylstatus, hierzulande für ein Schicksal haben / erwartet? Unter welchem Druck sie stehen? In ihren Herkunftsländern setzen ihre Familien größte Hoffnungen auf sie – hierzulande schaffen sie es bestenfalls zum Lieferandoboten oder Orangenpflücker, wenn ihnen ihr Antrag nicht ohnehin abgelehnt wird. 5000 Dollar + x, bei der Todesfahrt durch Sahara und Mittelmeer knapp dem Tod von der Schippe gesprungen und jetzt die Aussicht auf Lager am Ende von Holland / Ruanda / Albanien. Die Sprachkurse sind mangelhaft, die Aufnahmegesellschaft fundamental anders, häufig offen hostil. Anschluss findet man allenfalls unter gleichgesinnten Migranten oder der Moschee, viele „Segnungen“ der westlichen Zivilisation sind nur kurzweilige Verführungen (schnelles Essen, schneller Sex, schnelles (Leasing-)Auto schneller Konsum) oder zur Gänze unerreichbar (echter Lamborghini, stabile Beziehungen zu Frauen / Einheimischen, gut bezahlte Arbeit…).
Der viel verfemte @ Majestyk schrieb hier nicht umsonst mal: Massenmigration ist menschenfeindliches Unrecht. Da kann man sich dran reiben, aber es ist nicht viel überzeichnet, wenn er damit u.a. sagt, dass die Zwangsmigration Verlierer am Fließband produziert.
Und es ist doch vielmehr ein Wunder, dass nicht noch viel mehr „junge migrantische Männer“ randalieren, stehlen oder gar morden bei den Perspektiven und Leben, die sie hier haben. Nur die wenigsten werden zum „König vom Deutschland“ – das war schon bei den „klassischen“ Auswanderern so, die wenigsten schafften es in den USA vom Tellerwäscher zum Millionär.
Und: diese Männer werden eben immer nur als „junge, kriminelle Migranten“ wahrgenommen. Leute! Die kamen hier vor acht, neun Jahren an, da gab’s nen Teddybär für diese „süßen Kleinen“ und gut. Aus den Augen, aus dem Sinn. Und nu? Das waren auch mal Kinder mit Träumen, Gefühlen und Hoffnungen. Oft sind sie es heute noch.
Die Randale hat m.E. weniger mit dem Geschlecht und dem Alter als mit sozialen und kulturellen Bedingungen zu tun. Olivier Roy wies nicht umsonst darauf hin, dass in den Vorstädten in den 60ern noch die frustrierten französischen Jugendlichen zu finden waren – heute sind es eben frustrierte, migrantische Jugendliche.
Und damit dreht sich die Katze wieder im Kreis: Um dem Problem Herr zu werden müsste man global an die Wurzeln der Massenmigration („Fluchursachen“) ran und hierzulande an die heilige Kuh Austerität. Sprich, man müsste das System überdenken und Asche, richtig viel Asche, in die Hand nehmen. Aber das is ja nicht…
Das klingt wie Scholz, der sich letzte Woche im Bundestag hinstellte und „Corona“ und „Inflation“ beschrieb als wären sie wie Manna vom Himmel gefallen. Ja, warum sind denn viele von Armut bedroht? Woher kommt das Problem mit den Mieten? Antwort: Sie gibt es aufgrund bestimmter Regierungshandlungen. Niemand zwang die Regierung den sozialen Wohnungsbau zu torpedieren. Niemand zwang die Herr- und Frauschaften in Den Haag oder Berlin irrsinnige Pandemiemaßnahmen aufzulegen. Niemand zwang sie Sanktionen zu verhängen, um Russlands Wirtschaft zu „vernichten“. Aber es gibt eben Milieus, die von all diesen Handlungen profitieren und für die hohe Mieten und hohe Energiepreise kein Problem darstellen, sondern gewollt sind.
Wie gesagt: Will man das zurückdrehen, müsste man ans System ran. Viel Spaß beim Versuch…
Ach, bevor ich’s vergesse: für wen liegen die Folgen der Pandemie- und Sanktionsregimes eigentlich bereits „hinter uns“? Die in Frage gestellte Bürgergelderhöhung ist nicht mal ein Inflationsausgleich. Viele Kinder sind immer noch traumatisiert. Andere Milieus, andere Problemlagen…
Sie ist 46, das holländische Durchschnittsalter ist – 42. „Jung“ ist wirklich relativ. Arme Männer werden in Deutschland im Schnitt übrigens 70 Jahre alt. Für die ist 46 schon kurz vor dem letzten Lebensabschnitt…
Yeşilgöz war im letzten Kabinett Ruttes anderthalb Jahre Justizministern. Das ist in der schnelllebigen Politik nicht unbedingt wenig. Die Spitzenkandidatur war natürlich erst im Spätsommer, es ist aber beileibe nicht so, dass hier ein politischer Newcomer gelandet wäre.
Im Übrigen: „Unserem“ geliebten Gutti aus Franken reichten damals ein paar Wochen als „Wirtschaftsminister“, um zum „Star“ aufzusteigen. Vielen anderen Politikern (egal welcherlei Geschlechts) genügten ähnlich geringe Zeiträume, sogar ganz ohne Erfahrung… was sagt das jetzt aus? Ist alles sehr relativ…
Ja „etwas“ vielleicht – aber wie viel? Und wie entscheidend? Wie vor ein paar Tagen geschrieben: es gibt noch einen Reigen anderer Faktoren, die für das VVD-Abschneiden berücksichtigt werden sollten, insbesondere die miserable Regierungsbilanz Ruttes, der im Frühjahr in den Umfragen nicht von ungefähr schlechter dastand als die VVD am Wahlabend.
Das ist Werbung für Sperrminoritäten, ein mit Verlaub ziemlich undemokratisches Element. Soll es in Holland etwa wie in Deutschland laufen, wo mal gerne 15 % der Stimmen für die Tonne sind wie anno 2013? Es ist nicht die Schuld der Wähler, wenn ein Wahlergebnis „schwierige Koalitionsverhandlungen“ erbringt.
Die Fragmentierung des Parteiensystems kommt ja allgemein nicht von ungefähr – Individualisierung und Spaltung der Gesellschaft etc. Statt sich mit solchen oder anderen Ursachen zu beschäftigen, will man sie einfach durch das Einführen von Sperrklauseln wegblenden. Aber: Stehen Länder mit 5- oder 10 % Hürden so viel besser da? Sind die USA mit ihrem Zweiparteiensystem so stabil? Arbeitet der Kongress etwa störungsfrei? Und: Wie lange dauerte die Regierungsbildung in Deutschland 2017 nochmals? Wäre es besser gewesen eine 10 %-Hürde zu haben? Oder lieber 20 % wie früher in Liechtenstein? Sodass die heilige Union auf ewig regieren kann? Können wir gleich wieder die Forderung nach einem Grabenwahlrecht auspacken, passt irgendwie zum Zeitgeist…
Außerdem scheint man mir bei dieser Debatte Kausalität und Korrelation zu verwechseln – es gibt keinen Automatismus, dass das Fehlen einer Sperrhürde automatisch zu schwieriger Regierungsbildung / erschwerter Parlamentsarbeit führt. Beispiele: Schweiz, Portugal.
Das ist ein sehr deutscher Satz. Und er riecht irgendwie nach den bleiernen 50ern unter Adenauer oder gleich nach Kaiserzeit. Die Menschen haben einträchtig zu sein, vernünftig! Übt euch im Erdulden, bloß nichts Revolutionäres! Vor dem Demonstrieren bitte anmelden und Fahrkarte lösen!
Wie hätten die Betroffenen denn besser auf die Gesetze reagieren sollen? Abwarten und Teetrinken? Gesittete Latschmärsche? Dürfen eigentlich nur Klimakleber „emotionale Proteste“ durchführen?
Die Deutschen sollten sich mal vergegenwärtigen, dass es im europäischen Ausland noch eine gewisse Protestkultur gibt. Sie stirbt immer mehr ab und ist sicher kein Vergleich zu früher, aber sie ist noch da. In Frankreich werden vor die Bürgermeistereien gerne mal Wagenladungen Jauche gekippt. In Piefkestan würde das vermutlich laute Rufe nach dem Einsatz der Bundeswehr im Innern auslösen…
Auch hier: das ist so wohl nicht haltbar. Womöglich wurde das in den „linksliberalen“ Milieus empfunden oder den bürgerlichen Medien. Daraus kann man aber keine Allgemeingültigkeit ableiten. Ich extrapoliere auch nicht die Meinungen meiner paar holländischen Bekannten auf das Restland.
Wie unter dem anderen Artikel geschrieben: die BBB hatte im Frühjahr ähnliche Sitzzahlen prognostiziert bekommen, wie sie die PVV am Wahlabend erhielt. Es gärte schon länger im Land und das Protest(wahl)potential war da. Wilders‘ hat es in der letzten Phase des Wahlkampfs bloß geschafft für sich abzuschöpfen…
Hier sollte Folgendes bedacht werden: Nämlich, dass die Medien in den letzten Jahrzehnten noch systemischer und somit noch rechter geworden sind. Das liegt an den Privatmedien, die von rechten Kapitalgebern ausstaffiert werden. Am Wegfall der Systemkonkurrenz nach Ende des OWKs 1989 ff. An der Herkunft und Sozialisierung der heutigen Journalisten – die wenigsten stammen noch aus der Unterschicht. An einigen anderen systemischen Aspekten.
Hinzu kommt, dass Wilders‘ Kreide gefressen und system-genehmer geworden ist. Wäre er jetzt ein system-antagonistischer Kommunist oder Libertärer, würde man ihn trotz seines Ergebnisses noch ordentlich Flak geben. FvD oder BBB wären in Holland vermutlich auch nach einem Wilders-Ergebnis nicht mit Samthandschuhen angefasst worden.
Der Medienumschwung ist für mich ein Zeichen, dass Wilders‘vom System goutiert wird. Es zeichnet vor, dass Wilder’s nicht sonderlich viel ändern wird, zumal er ja noch Koalitionspartner und jede Menge Kompromisse brauchte, bis er im Catshuis ankäme.
Meines Erachtens ein überschätzter Effekt. Es gab in Deutschland auch eine Menge Leute, die 2017 auf den Schulz-Zug aufsprangen und „in Scharen“ in die SPD eintraten. Wo sind die jetzt? Bei wie viel Mitgliedern steht die SPD heute?
Ziemlich schnell stiegen viele doch wieder aus, nicht wenige nachdem sie feststellten wie es um parteiinterne Demokratie wirklich bestellt ist…
Leute treten immer mal gerne in eine Partei ein, gerne auch mal gehäuft nach – um mal im Duktus zu bleiben – „emotionalen Ereignissen“. So what?
Interessanter wäre doch: wer tritt da überhaupt ein? Ich würde sagen: vornehmlich Leute aus dem kaviarlinken Milieu, die um ihre Privilegien fürchten. Für die holländischen Abgehängten haben Demokratie und politischer Aktivismus vermutlich nicht an Attraktivität gewonnen.
Das lief doch in ähnlicher Form beispielsweise in NRW unter Hannelore Kraft von 2010 bis 2012. Minderheitenregierung mit wechselnden Mehrheiten! War nicht interessant, war Augenwischerei. Damit so etwas real funktionieren könnte, müssten die Parteien ja substantiell unterschiedlich sein. Wie viele anti-systemische und tatsächliche Alternativen sitzen denn in der Tweede Kamer? Besteht die Möglichkeit, dass beispielsweise mal ein kommunistischer Antrag durchkommt? Dass ein wirklich anti-systemisches Gesetz erlassen würde? Machen wir uns nichts vor: Die Möglichkeit ist quasi nicht existent. Auch in Holland ist das Gros der Parteien systemisch – pro Massenüberwachung, pro-EU / Transatlantizismus, frugal (Austerität, Sozialabbau) et cetera…
Der Wunsch nach Veränderung, nach Expimenten ist groß und alt. Aber das System ist starr und die Grenzen des Machbaren sind eng justiert.
Hey danke für deinen Beitrag!
Ich kenne mich mit den Verhältnissen in den Niederlanden nicht annähernd so gut aus wie du. Genaugenommen gar nicht.
Aber ich habe das Gefühl, dass das Interview mit S. Schleim eine deiner Thesen auf Anhieb bestätigt. Die, ich verkürzen das stark , von der gesellschaftlichen Fragmentierung.
Der Uniprofessor schreibt , dass Landwirte gegen Umweltauflagen protestieren. Nun konnte man lesen, dass es um die Existenz einer gewaltigen Zahl von Betrieben geht und dass diese Reduzierung keiner Phantasie entspringt, sondern dass es sich um einen durchaus angestrebten Effekt handelt. Da kommen zwei soziale Schichten nicht mehr zusammen, wenn ein existenzieller Protest als Widerstand gegen eine Verbesserung der Umwelt verstanden wird.
Ähnlich dürfte es bei der Beurteilung der Folgen der Zuwanderung sein. Das Sehen und Erleben etablierter linksliberalen Bürger in gesicherten ökonomischen Verhältnissen, hat eben wenig mit dem des Rentners in Berlin – Neukölln oder vergleichbaren Gegenden in Holland zu tun. Ob Ereignisse in den Niederlanden auf gebauscht wurden, wie S. Schleim vorträgt, weiß ich nicht. Ich kenne die, auf die Bezug genommen wird, nicht. Ich kenne aber Erfahrungen von Menschen aus Berlin, tägliche Gewalterfahrungen, Lärm, Schmutz, Einschüchterung, gegen die man keine Möglichkeit hat, sich zu wehren. Polizei findet nicht mehr statt. Wer das Geld hat, zieht weg. Eine mir bekannte Frau, ehemalige Leistungssportlerin, keine Mimose und sehr engagiert, arbeitete als Lehrerin und wechselte den Job, weil sie resigniert feststellte, dass sowas wie Unterricht nicht mehr möglich ist. Und nein, es liegt nicht an fehlenden Sprachkursen. Die angebotenen Kurse werden schnell eingestellt, weil die Schüler nicht mehr kommen. Hast du vietnamesische oder chinesische Mädchen in der Klasse, brauchst du nicht zu fragen, wer Klassenbester ist. Als vor einiger Zeit voller Stolz berichtet wurde, dass einer Berliner Schülerin bei einem internationalen Mathe-Vergleich erfolgreich war, wunderte sich niemand, dass die junge Frau Nguyen hieß. Die haben keine besseren Voraussetzungen als junge Araber und bei den mehrheitlich woken Berliner Lehrern von “Rassismus” zu faseln, ist dumm und verleumderisch.
Ich denke schon, dass deine Beschreibung des etablierten Bürgertums und deren Erfahrungen sehr genau zutrifft und die Wähler von AFD oder Wilders sehr andere haben. So blöd es auch sein mag, Hilfe bei neoliberalen Irren, die den Planeten in seinen jetzigen Zustand versetzten, zu suchen.
Stickstoffkrise 🤡
Ganz große Katastrophe die Dänemark in der Vergangenheit mit Bravour gemeistert hat. Nennt sich Stickstoffdeposition und ist durch einfachste Maßnahmen zu bewältigen.
Eine wirkliche Stickstoffkrise hatte daß deutsche Kaiserreich im ersten Weltkrieg, aber daß wurde mit dem https://de.m.wikipedia.org/wiki/Haber-Bosch-Verfahren gelöst.
Daß mit der Goldgewinnung aus dem Meerwasser beschreibe ich ein anderes Mal. Ist so was ähnliches wie Reichtum durch CO² Handel!
Das geführte Gespräch ist inhaltlich gut, die Frage und Antworten sind entsprechend interessant.
Was mich allerdings stört ist, das die ganzen Ursachen zwar angerissen werden, aber letztlich vorenthalten bleiben.
Corona Ukraine Israel all das ist nicht vom Himmel gefallen, das waren und sind geplante strategische Fakten, die einen Haufen an Geld umverteilten. Hier mal so ne schöne Demokratie plauderei zu veranstalten, hilft den Menschen, die noch ein vertrauen zur Demokratie a la Europa haben.
Die EU bricht nationale Souveränität, das heisst, der gewählte nationale Politiker hat eine eigene Version und kann je nach Bedürfnis von der EU ertragen oder verworfen werden.
Entweder die EU setzt sich durch als die einheitliche politische Führung, dann ist der nationale Politzirkus hinfällig, oder wenn sie das nicht kann, ist diese obsolet.
Dann auf nationale Fragen innerhalb von Europa, ist eine Einmann Partei natürlich wie ein Vorstandsvorsitzender einer Firma. Also straff strukturiert, mit ein paar Kontroll Mechanismen.
Nun die Frage: Von wem wird Herr Wilders finanziell unterstützt? Oder welche Organisationen, Subjekte finanzieren Einmann Partei, da auch für diese Einmann Partei Strategen, Intellektuelle, rechtlich beflissene Leute, wirtschaftliche Experten +++ von Nöten sind?