‘Kultur’ ist ein großes Wort. Gern wird übersehen, dass es eine andere Seite hat: tödliche Verbrechen in großer Fülle. Ist das die Dehumanisierung der Kultur? Oder kann das Böse produktiv sein?
Mörder – und Mörderinnen[1] – können vollkommen gefühllos handeln oder im Gedanken der Rache von ihren Gefühlen unausweichlich überwältigt sein. Sie können das Morden ruhig und geschäftsmäßig vollziehen wie andere ihre Arbeit, oder sie können rasen gegen alle. Sie können auf Seiten der Gerechtigkeit Tyrannenmord begehen oder auf der Seite der Ungerechten sich am Völkermord beteiligen. Die Arten des Delikts und der Tötung differieren je nach Geschlecht.
Die Motive sind vielfältig. Mord ist so alt wie die menschliche Gesellschaft. Es gibt Stimmen, die behaupten, dass ohne den Mord die Gesellschaft gar nicht möglich wäre. Denn ohne den bösen Trieb funktioniere auch das Gute in der Gesellschaft nicht mehr.
Aber es gibt, ob individuell oder gemeinschaftlich, einen kulturgeschichtlich verankerten Schutzwall gegen Mörder, genau genommen gegen die Angst vor Mördern. Sie werden zu Monstren aufgeblasen, und ausgerechnet diese Fratzen sind es, die eine Schutzfunktion in einer Art von Abwehrzauber übernehmen. Sie bedienen die “Angstlust”, um das Schrecknis zu bannen. Ähnlich wie Opferrituale und ebenso alt wie diese. Die sichtbaren Figurationen der Abwehrmythen und -riten wandeln sich mit den gesellschaftlichen Umständen, aber ihre Inhalte bleiben gleich.
Blutgierige, vergewaltigungssüchtige Vampire, selbständig herumziehende, mordende Körperteile, Antipoden und Kopffüßler oder allgemein: mit menschlicher Intelligenz begabte Tiere sind Marionetten unserer Vorstellung, damit die uns innewohnenden aggressiven Tendenzen nicht die zivilisatorischen Normierungen überfluten.
“Woher kommen die Monstren? Aus den Träumen der Vernunft? Aus den Kellern der Narrentürme? Oder aus den Pflegeheimen für die Unheilbaren und Schwerkranken? Sind es Ungeheuer, die sich sehen lassen, obwohl sie nicht existieren oder solche, die wir nur ausnahmsweise sehen, obwohl sie existieren.” (Thomas Macho)
In Hieronymus Boschs ‘Garten der Lüste’ werden die “Erdrandsiedler des Unbewussten” zu Zentralgestalten in einem dämonisch besessenen Universum.[2]
Die Aufklärung stellte sich ihrem Anspruch nach gegen Aberglauben und Monstrositäten. Es half nichts. Das Böse ging, aber die Bösen nicht. Das Böse wurde “innerseelisch”, zur Kopfgeburt. Die Erscheinung des Monströsen war nun keine Emanation des Göttlichen mehr, sondern sie wurde anthropologisch ausgedeutet. Sie verbrüderte sich mit dem Ideal der Vernunft. Das Ungeheure kam zur Gesellschaft zurück. Realität und Fiktion verschmolzen. Der Horror wurde phantastisch, aber er verlangte nach Taten. Wir würden heute von ‘True crime’ sprechen.
Die selbstherrliche Phantasterei von Tätern, das Böse auszumerzen, ist nun der Realität eingebrannt. Das Morden ist virtualisiert. Das Töten wird zur unmittelbaren Gewalt. Gründe können nachgereicht werden. Aus Ratio ist Rationalisierung geworden. Vorbereitet ist das serielle Töten durch regierende Machthaber. Die Guillotine war die Tötungsmaschine.
Das routinemäßige Töten hatte allerdings einen Vorläufer. Die Hochzeit der Hexenverbrennungen lag in der Neuzeit, die sich auf Rationalismus und Naturwissenschaften berief. Doch die Angst vor dem Neuen war groß. Schuldige am möglichen Untergang waren schnell gefunden.
Das Ungeheure wurde im 19. Jahrhundert einerseits zum volkstümlichen Schauspiel, andererseits zum wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand abgeschliffen. Auf der Bühne oder im Panoptikum wurden behaarte Damen, Liliputaner und siamesische Zwillinge vorgeführt. Erörtert wurde die Frage: Wie viel Seelen haben solche Zwillinge?
Das lenkt bereits zur Wissenschaft. Forensische Kriminologie und Kriminalbiologie suchten nach der Natur des Verbrechers. Aus der Physiognomie wurde “das Verbrecherische” herausgelesen. Hirnschalen wurden geöffnet. Vor dem Phrenologen Franz Josef Gall war bereits Johann Caspar Lavater in dieser Lehre unterwegs.
Die Beweisführung der Hirnforscher klingt ein wenig tautologisch: Der Verbrecher ist seiner Natur nach verbrecherisch. Wenn Verbrechen unabdingbare Natur ist, steht schon bei Geburt des Verbrechers fest, wo er ins soziale Gefüge einzuordnen ist – natürlich ganz unten, in der Armutskaste. Kriminelle Neigung ist eine erbliche Veranlagung.
Aus der Kriminalbiologie wurde die Erbbiologie und aus dieser die Rassenlehre der Nazis. Sie inszenierten Ausstellungen, in denen der Topos des Monströsen auf die Physiognomie und Schädelform der abgebildeten Straftäter und Psychischkranken übertragen wurde.
Die Leidenschaft, mit der sich deutsche Mediziner der Schädel der Herero bemächtigten, kann einem in der Tat Angst machen. Sie hätten bei Hegel nachlesen können: “Mit dem Schädelknochen wird weder gestohlen noch gemordet.”
Aristoteles: Wer Tugend hat, der ist auch schön – und vice versa. Das ließen sich die Rassenphysiognomiker von Lavater bis zu den Nazis (Hans F.K. Günther) nicht zweimal sagen. Heraus kam ein “ästhetischer Rassismus”. Lavater ergänzt: Deformiertes ist auch moralisch verwerflich.
Schon in der Antike galten Missbildungen als Vorzeichen von Unheil. In letzter Konsequenz, in der Konsequenzlogik der Nazis, war die betroffene Gruppe durch Ausmerzung aus der Gesellschaft auszuschließen. Den Nazis war bei ihrem eigenen Euthanasieprogramm nicht ganz wohl, traf es doch die deutsche Bevölkerung, aber sie handelten “folgerichtig”. Der Gedanke, Menschen zu opfern, um ein Unglück zu verhindern, mag von Ferne hineingespielt haben.
Unheimlich böse
Die Aufklärung hatte die Freiheit des Willens auf ihre Fahnen geschrieben. Der Mensch ist fähig, das Gute sowohl zu wollen als auch zu tun, aber auch, je nach seiner Entscheidung, das Böse. War die Freiheit des Willens bei der Ausführung des Deliktes eingeschränkt, konnte dies strafmildernd berücksichtigt werden. So rückte auch das Verbrechersubjekt wieder näher an die Gesellschaft und deren Diskurs heran. Es konnte “gebessert”, das heißt resozialisiert werden.
Ganz anders Medea, die tragische Frauenfigur der Antike, die mehrere Morde aus Rache beging, darunter ihre Kinder. Hätte sie auch anders handeln können? Wie frei war ihr Wille? Die höchste Form einer freien Entscheidung nahm hingegen Jean Améry für sich in Anspruch, der den philosophisch gegründeten Text “Hand an sich legen” schrieb und die Parole auch wahr machte. Es gelang ihm nicht gleich.
Die Monster mischen bei der Frage, wie frei der Wille ist, mit. Haben sie eine Seele? Sind sie vernunftbegabt? Gott selbst ist in den Disput involviert: Ist er verantwortlich für das Böse in der Welt, dann ist er selbst böse. Ist er nicht dafür verantwortlich, dann ist er auch nicht Gott. Diese Fragestellung firmiert unter dem Namen ‘Theodizee’.
Mephistopheles in Goethes Faust’: “Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.” Doch schnell stellt sich heraus, dass mehr Kraft in der Umkehrung liegt, dass das zerstörerische Böse das eigentliche Element Mephistos ist. Dem Dualismus von Gut und Böse, Licht und Dunkel hat Sigmund Freud den von Eros und Thanatos unterlegt.
Jener Gegensatz ist in der Religionsgeschichte als Manichäismus bekannt. Die Unmittelbarkeit, mit welcher beide Elemente aufeinanderprallen, kann dazu führen, dass eines ins andere umkippt. Die Säkularisierung, Liberalisierung und Nationalisierung von Staat und Gesellschaft verschärft den Zusammenprall, wenn es nur noch heißt: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Wir erleben gerade makabre Auswüchse dieser Logik auf der Weltbühne.
Der Widerstreit zwischen den beiden Prinzipien ist nicht minder brisant, wenn jeweils einer der Antagonismen sich Elemente des anderen zunutze macht, um sich durchzusetzen. Diese Elemente sind Abspaltungen des Bewusstseins, die sich an der Oberfläche der Wahrnehmung etwa zu selbständigen Körperteilen auswachsen. Sie floaten frei. Darin liegt die Symbolik, dass sie von jedem Körper Besitz nehmen können, ob Freund oder Feind.
Die Abspaltung eines Alter Ego ist der Ursprung des Monströsen und, wie Freud meint, der Neurose. Die Triebabfuhr stockt. Ein Kampf zwischen den nicht mehr steuerbaren Trieben und ihrer Verdrängung findet auf einem Terrain statt, auf dem das Ich immer weiter geschwächt, gleichsam zerrieben wird. Schön nachzulesen ist das im “Sandmann” von E.T.H. Hoffmann. Der Held hat mit einem Unheimlichen zu kämpfen, das ihm merkwürdig vertraut vorkommt. Es ist das Fremde im Eigenen. Nathanael wird von seinen Chimären in den Selbstmord getrieben.
Die Abspaltung eines Selbst ist jedoch auch Ausgangspunkt einer Doppelung der Person in R. L. Stevensons “Dr. Jekyll und Mr. Hyde”. Die gutbürgerliche Hauptfigur hat einen nicht zu identifizierenden Doppelgänger, der einen Mord begeht. Der Doppelgänger ist Projektionsfläche der Auswüchse der inneren Triebstruktur. Stevensons Romanfigur hat in Jack the Ripper gleichsam einen realen Vorläufer. Dieser versetzte eine ganze Stadt in Aufruhr, blieb jedoch unerkannt.
Monster und Bestien sind Zwischenwesen mit Hybridkörper. Sie sind halb Mensch, halb Tier, halb Mann, halb Frau. Sie sind Zyklopen, Skiapoden und Blemmyr. Umberto Eco beschreibt einige im Roman “Baudolino”. Sie mögen aus ausgeschnittenen Fragmenten bekannter Kreaturen zusammengesetzt sein. Und sie sind “liminal”, hausen am Übergang zwischen den Welten. Übergangsriten haben den Sinn, die Schwelle zwischen jugendlichem und erwachsenem Alter zu überwinden.
Unholde in Menschengestalt geben ihre Scheinexistenz mitunter durch ihren Schatten zu erkennen.
Töten unter Wiederholungszwang
Noch eine letzte Verortung des Monströsen fehlt: Es ist in uns. Goethe: “Ich habe niemals von einem Verbrechen gehört, das ich nicht hätte begehen können.”[3] Goethes Geständnis bekam im 20. Jahrhundert eine neue Dimension. Jeder, der in der Nachkriegszeit noch irgendeinen und sei es familiären Bezug zu den Ereignissen nach 1933 hat, sollte sich der Frage stellen: Wie hätte ich gehandelt, wenn ich auf die Position von Eichmann gesetzt worden wäre?
Wenn das Ich und das Alter Ego im Sinne von Stevenson wieder zusammenkommen, droht dem Ich der Untergang, der Selbstmord. Der Versuch des Ich, zum Zweck der Selbsterhaltung die Destruktion nach außen zu wenden, verwischt die Grenzen zwischen innen und außen. Der Unterschied zwischen beabsichtigter und erfüllter Aggression schwindet. Auf Grundlage einer paranoischen Wahnbildung werden die Verfolgung durch das Böse und die Verfolgung des Bösen unentwirrbar der Realität eingeschrieben.
Die böse Absicht wird zur bösen Tat, schreibt Freud und beschreibt damit durchaus einen kollektiven Prozess, der den SS-Schergen wie von selbst die Lizenz zum Töten nicht nur der Juden erteilte. Juristische Verfahren würden nur an der sofortigen Ausführung der Tat hindern.
Die Serie hilft den Tätern, das Bewusstsein ihres Tuns abzutöten. Anfangs mag bei den Teilnehmern an Tötungskommandos noch das Gewissen angeschlagen haben. Schnell allerdings wurde das moralische Gebot “Du sollst nicht töten” in “Du sollst töten” umgewandelt. Das Schuldgefühl wird durch Sühne aktiviert, und die Sühne verlangt nach dem nächsten Totschlag, der durch die Tötung des jeweils vorigen gerechtfertigt wird.
Es ist ein Gewöhnungsprozess. Adorno spricht vom langweiligen Zeitvertreib des Totschlags. Mit dem jeweils nächsten Juden soll der “ewige Jude” beseitigt werden – eine Sisyphosarbeit des Grauens.
Das bestialische Wirken der Polizei-Bataillone und Einsatzgruppen in Osteuropa steht auf einem anderen Blatt.
Die Wiederholung der Mordtat hat auch eine geschichtliche Parallele. Der Gründungsakt antiker Gemeinschaften ist ein Gewaltakt, schreibt René Girard. Die Gemeinschaften stellen ihre Einmütigkeit durch ein “versöhnendes Opfer” her. Das kann ein Sündenbock sein, es kann aber auch weniger versöhnlich ein Mensch sein. Nach der Annahme Freuds war es ein Mensch, der Mann Moses, der von der “Brüderhorde” ermordet wurde.
Wieder passt ein Satz Goethes: “Im Anfang war die Tat.” Diesmal war es ein kollektiver Vatermord. Als Ödipus-Komplex zieht er sich durch die weitere Geschichte. Der Schuldkomplex ist aktiviert und bleibt unversöhnt. Jede Generation muss die Geschichte des Ur-Verbrechens immer wieder neu schreiben, notierte Walter Benjamin. So ist das Böse nicht aus der Welt zu schaffen, im Gegenteil.
Bartsch, Kürten, Haarmann
Die Gründe für individuell ausgeführte Serienmorde sind vielschichtig. Wenn auch die sexuelle Symptomatik seit dem 19. Jahrhundert an erster Stelle steht, verbietet doch der ganze psychologische Formenkreis vorschnelle Beurteilungen. Zum Vergleich seien zwei Fälle vor und nach dem Zweiten Weltkrieg herangezogen:
Jürgen Bartsch: Er ermordete 1962 in Velbert bei Essen vier Jungen und zerstückelte die Leichen. Nach außen war er freundlich, in näherer Beziehung dominant und gefühllos.
Er war adoptiert. Als Kind war er eingesperrt in einen Kellerraum. Er wurde von seiner Mutter gezüchtigt, die ihren ins Perverse gesteigerten Reinigungsdrang an ihm gewaltsam ausließ. Mit zehn Jahren kam er ins Heim, wo er von einem Priester sexuell missbraucht wurde. Das Thema ist heute noch oder wieder aktuell. Nach seiner Verurteilung beantragte er selbst seine Kastration. Er starb bei der Operation.
Ein Vorläufer war Peter Kürten. Auf sein Konto gingen von 1913 bis 1930 Mord in 9 Fällen, Mordversuch in 32 Fällen, Überfall in drei Fällen, versuchte Notzucht in einem Fall sowie 27 Brandstiftungen. Kürten stammt aus einfachen, zerrütteten Verhältnissen. Hier kommt eine soziale Komponente ins Spiel.
Sein Vater, wegen eines Sexualdelikts belangt, war Alkoholiker und schlug ihn. Kürten war mit Hammer und Schere unterwegs und trank vom Blut seiner Opfer. Er bekam neunmal die Todesstrafe. Er empfand die Haft als Fortsetzung der väterlichen Misshandlungen und versuchte spät, sein Tun zu erklären. Er wachte gleichsam auf aus seinem rauschhaften Wahn. Er akzeptierte seine Hinrichtung. Der mumifizierte Kopf des “Vampirs von Düsseldorf” fand sich in einem amerikanischen Museum wieder.
In ganz anderer Hinsicht bemerkenswert ist ein Fakt aus der Fahndung: 12.000 Hinweise liefen bei der Polizei ein; 200 Personen stellten sich freiwillig. Sie alle wollten der Düsseldorfer Mörder sein.[4]
Zu den Übereinstimmungen solchen Typs von Serientätern gehört einmal unauffälliges, zuvorkommendes Verhalten: “The Monster next Door.” Andererseits sind sie nicht empathiefähig. Hinzu kommt ein verletztes Gerechtigkeitsgefühl mit Rachegedanken. Sie träumen sich als ein Anderer, der allen überlegen ist. Der gelegentliche Kannibalismus erinnert an die alten Mythen und Riten wandernder Körperteile und menschlicher Opfer.
Im prominentesten solcher Fälle spielte sich der Kannibalismus in der Wohnung ab. Fritz Haarmann, der “Werwolf von Hannover”, ermordete zwischen 1918 und 1924 27 Jugendliche oder junge Erwachsene. Sein Antrieb war, junge Körper zu packen, zu zerreißen und zu verzehren.
Der Psychoanalytiker Kurt R. Eissler bietet Erklärungsmuster an, das Unfassbare fassbar zu machen. Den Kern dieses Destruktionstriebs fokussiert er auf die präödipale Phase, wo das Ich noch ungeschieden von der Außenwelt ist und diese nicht als solche erkennen kann. Ihm ist alles Objekt, aber die Objekte verselbständigen sich und entziehen sich ihm bisweilen gewaltsam. Das Lustempfinden ist abgebrochen und schlägt um.
Aus Liebe wird Hass, aus Einverleiben wird Ausspeien. Das ist die frühkindliche Variante von Kannibalismus. Ganz sicher müssen noch andere Faktoren hinzutreten, bevor sich diese präödipale Ambivalenz im Erwachsenenalter zur Psychopathologie auswächst, aber der Volksmund ist unübertroffen in der Umschreibung des Phänomens: Jemanden “zum Fressen gern” haben.
Haarmann tötete in einem Rausch und sexuell erregt. Die Todesursachen waren Erwürgen und das Durchbeißen des Kehlkopfes. In einem Fall trifft das auch auf Kürten zu. Oder doch nicht, denn sowohl für Bartsch als auch für Kürten wurde das als Legendenbildung angezweifelt. So eng liegen noch im 20. Jahrhundert Dichtung und Wahrheit beieinander, so eng wie in den unvordenklichen Zeiten der Monster.
Das Einverleiben kann auch als Konsumtionsprozess auf gesellschaftlicher Ebene nachgezeichnet werden. Das Einverleibte wird zum Fremden, zum Störenden im Eigenen. Dieses Muster übertrugen die Nazis auf den Volkskörper, der die fremden Elemente ausspeien und abspalten muss.
“Das Volk ist nicht tümlich”, meinte Bertolt Brecht. Aber ein wenig tümlich wird es schon angesichts der blutigen Schrecknisse, die aus seinen Reihen hervorgehen, vollbracht von “armen Irren” und gerichtet gegen eben dieses Volk. Das entbehrt nicht der Tragikomik und kann besungen werden: “Warte, warte nur ein Weilchen…” Am besten in der Liedgattung der Moritat: “Sabinchen war ein Frauenzimmer…”
Der Mörder ist “einer von uns”. Und es kann jeden treffen.
Kadavergehorsam überlebt wechselnde Gesellschaftsformationen
Eine Banalität ganz anderer Art zelebrierte vor Gericht (1961) Adolf Eichmann, der Manager einer seriellen Tötungsmaschinerie. Er trat beamtenhaft akkurat auf und konnte mit der größten und überlegten Ruhe von den logistischen Problemen berichten, die europäischen Juden zu vernichten. Nur an zwei Punkten zeigte er Emotionen:
Erstens: Es ärgerte ihn, dass er trotz der effizienten Arbeit, die er verrichtete, nach seiner Auffassung nicht genügend beruflich befördert worden sei.
Zweitens: Als er im Jerusalemer Prozess einmal vergaß, zwecks Beantwortung einer Frage hackenschlagend aufzustehen, wie es seine gewohnheitsmäßige Art war und der Richter ihn deswegen anherrschte, wurde er rot und stammelte nur noch aus Verlegenheit. Das war kein Täuschungsmanöver eines bürokratischen Massenmörders. Das war die Banalität des Bösen. Hannah Arendt nannte ihn einen Hanswurst.
Eichmann gab sein Verbrechen zu, wies aber darauf hin, dass kaum jemand an seiner Stelle anders gehandelt hätte. Im Prozess gab er zu Protokoll, dass er auch seinen eigenen Vater in den Tod geschickt hätte, wenn es ihm befohlen worden wäre. Das klingt denn doch wieder monströs, aber das “Milgram-Experiment”, das 1960-63 die Gehorsamsbereitschaft amerikanischer Probanden testete, lieferte überraschend viele Belege für den Konformismus, sich einer Autorität zu unterwerfen, und zwar quer durch alle Schichten und unabhängig von der Staatsform.
Um diese Bereitschaft zu erreichen, geht es nicht darum, Zwang und Gewalt von oben auszuüben. Vielmehr entsteht die Autorität überhaupt erst durch die Machtfaktoren, mit denen der Einzelne oder die Masse jene Autorität ausstattet. Der Einzelne gibt die Verantwortung an die Masse und einen Führer ab und fragt nicht mehr. Er funktioniert.
Die allgegenwärtige “Denk- und Willenlosigkeit” verkörpert mehr als alles andere das Böse. (Andrea Westhoff, frei nach Hannah Arendt)
Und heute? Die Gewalt, die Serienmörder in Gestalt von Amokläufern ausüben, wird immer abstrakter. Sie ist technisch um ihrer selbst willen und kaum noch sexuell konnotiert. Sie richtet sich gegen keine bestimmte Instanz. Sie ist ein Zerrspiegel der Gesellschaft, die auf der einen Seite das Gewaltmonopol des Staates in ihre eigenen Bestandteile übernimmt und auf der anderen Seite die Auflösung der Familie erfährt. Gesellschaftlich gesehen ist das ein schmerzhafter Prozess.
Zum Schluss: Es ist, als sei die Brüderhorde vom Anfang der Geschichte wieder aufgetaucht, nicht, um eine neue Gemeinschaft oder ein Staatswesen zu gründen, sondern um die Gruppe aufzulösen und im Untergang eine Welt mitzunehmen.
[1] In der Folge wird im Text das generische Maskulinum verwendet. Gemeint sind alle Geschlechter.
[2] Michaela Holdenried: Hässlichkeit und Devianz.
[3] Das Zitat ist sekundären Quellen entnommen.
[4] Elisabeth Lenk u.a. (Hg.): Peter Kürten, S. 13.
“Die allgegenwärtige „Denk- und Willenlosigkeit“ verkörpert mehr als alles andere das Böse. (Andrea Westhoff, frei nach Hannah Arendt)”
Damit wäre zwar alles und in Kürze gesagt worden, aber nun gibt es neben Bellum, etwas Feuilleton auch noch die Rubrik Wissen. Für einen zusätzlichen Bereich Musik hätte sich der Songtext angeboten: “Warte, warte nur ein Weilchen, dann kommt Haarmann auch zu dir…. etc.”
Egal: Auch ab morgen warten wieder (fast) alle auf die Zuteilung ihrer A…Karten durch die bereits feststehenden Gewinner des unendlichen Spiels. (“Gott hat der Intelligenz des Menschen Grenzen gesetzt, der Dummheit nicht.” Elbert Hubbard)
In dem Sinne: an das Gros weiterhin guten Rutsch und dem Rest alles Gute!🌞
Danke für diesen “Streifzug durch die Kulturgeschichte” – ein sehr interessanter, informativer und lehrreicher Text.
“[…]Zum Schluss: Es ist, als sei die Brüderhorde vom Anfang der Geschichte wieder aufgetaucht, nicht, um eine neue Gemeinschaft oder ein Staatswesen zu gründen, sondern um die Gruppe aufzulösen und im Untergang eine Welt mitzunehmen[…]”
Gerade in Israel wird das derzeit ausgeübt – mit dem (geleugneten) Rachefeldzug gegen die Palästinenser, mit Bezug auf uralte jüdisch-religiöse Schriften, deren Wahrheitsgehalt – ebenso wie das des Alten Testaments – gegen Null geht.
Ein israelischer, säkularer Historiker, und Professor für Archäologie, aus Tel Aviv weist dies schon seit Jahrzehnten – anhand von archäologischen Stätten bzw. Ausgrabungen – nach. Tja, es hat alles nichts genützt, die Religionsfanatiker – übrigens aller Seiten – soll heißen, der jüdischen, christlichen und moslemischen – berufen sich auf uralte jüdisch-antike Völkermorde der antiken Bewohner Israels die real nie stattgefunden haben – nur in der Phantasie der Schreiber dieser religiösen Schriften – leider haben diejenigen in allen Religionen, die diese Mythen und Sagen des Alten Testaments bzw. der jüdisch-religiösen Schriften für bare Münze genommen haben – in allen Weltregionen, wo die einfielen, sich eben auf diese Horror-Märchen zum Abschlachten ganzer Völkerschaften berufen…..
Alle Aufklärung hat (leider) versagt, und es wird Zeit für eine sogenannte Aufklärung 2.0……gerade in- und außerhalb der monotheistischen Religionen…..die eben diesen Kern in sich tragen, der laut Israel Finkelstein so, ganz sicher, nie real stattgefunden hat – es gab eben keinen “Posaunen vor Jericho”, um nur einen Buchtitel zu nennen, wo dieser israelisch-säkulare, und unpolitische, Autor sich archäologisch-wissenschaftlich darauf bezieht, dass das AT – und die vorhergehenden jüdisch-religiösen Schriften – frei erfunden sind…..alle “Ausrottungen von Völkern….” sind frei erfunden….manchmal auch aus dem ausserisraelischen Exil heraus, wo die Juden früher – in Babylon z.B. – als Immigranten lebten und arbeiteten…..wie schon oben erwähnt, leider hat diese Mythenbildung eben – nicht nur in Israel, nein auch bei Christen und Muslimen (=der angeblich friedfertigen, orientalisch-monotheistischen Religion, die sich jedoch aus den anderen monotheistischen Konkurrenz-Religionen speist) zu realen Genoziden, und Völkermorden, an unseren Vorfahren – den sogenannten “Heiden” geführt…..
Säkularer Gruß
Bernie
PS: Oben geschriebenes gilt auf für das sogenannte “Neue Testament”, was Märchen- und Mythenbildung angeht, aber hier passt der Bezug auf das “Alte Testament” sowie die vorhergehenden jüdisch-religiösen Schriften – im Kontext zum Artikel, besser – wie schon gesagt alles (Horror-)Märchen mit keinerlei Bezug auf die historische – oder archäologische – Schriften bzw. Funde……
Es ist nicht immer Mord, wenn Menschen andere umbringen. Von Mord spricht man nur, wenn die Motive offensichtlich böse und egoistisch sind. Morde spielen zahlenmäßig eigentlich keine Rolle. Ungleich mehr Menschen werden für das Gute umgebracht oder geopfert, zum Beispiel für Frieden oder territoriale Integrität. Das ist dann nicht Mord, sondern Humanismus und Gerechtigkeit. Ein Problem entsteht lediglich dadurch, dass gerade auch böse Menschen Gutes tun wollen im Namen einer Scheinmoral, was kolossal schief gehen muss, und zwangsläufig zu institutionalisiertem Massenmord führt. Für Verbrecher mag gelten: “Zu den Übereinstimmungen solchen Typs von Serientätern gehört einmal unauffälliges, zuvorkommendes Verhalten.” Für politische Friedens- und Völkerrechtstäter gilt das nicht. Sie lügen und hetzen auf Teufel komm raus ohne jedes Schamgefühl.
Meiner Meinung nach ist es immer hilfreich, den Menschen in das Es, das Ich und das Über-Ich zu trennen, wie Siegmund Freud dies erstmals tat. Das Es ist unser Erbe von früher, da sind Reste von Sauriern und Pavianen und was sonst noch. Auch sind hier die Triebe zuhause. Das Es ist Verbrechen gegenüber nicht abgeneigt, wie Goethe zurecht feststellt. Er hat diese Verbrechen aber am Ende doch nicht begangen und zwar weil das Über-Ich einschritt. Das Ich, also die Arena, wo sich beide einigen müssen, war dann doch der Meinung, es sei besser, das zu unterlassen.
Heute bietet sich eine besondere Gelegenheit, um das zu erklären. Heute stellt sich die Frage, böllern oder nicht. Das Es will böllern, zumindest bei Männern. Dann aber kommt das Über-Ich: CO2, Tiere, Feinstaub. Ein Verzicht aufs Böllern ist ein schmerzlicher und sucht nach Ausgleich. Den bekommt der Verzichtende, indem er sich über die Böllernden moralisch erhebt. Ja, so ist das. Irgendwie gewinnen da ja beide: eier darf böllern, der andere gewinnt an Moralität. Das wird so wohl ewig weiter gehen.
Nun wäre es wünschenswert, wenn sich alle einigermaßen benehmen würden. Hier kommen die Religionen ins Spiel, deren erwartete Wirkung darin besteht. Die zehn Gebote sind diesbezüglich akzeptabel, finde ich. Aber sie waren nicht in der Lage, die Kriege zu beenden. Und auch war das Christentum nicht gegen Verzichtsorgien gefeit, wie die 200 Fastentage im Mittelalter.
Trotzdem, ein Teilerfolg ist nicht abzustreiten. Die industrielle Revolution, die ein geordnetes Zusammenwirken vieler Personen erfordert, fand zuerst in den christlich geprägten Ländern statt. Ich halte das nicht für Zufall.
Gregor Gysi meint, Christen und Linke sollten sich wieder annähern. Das wäre nicht das erste Mal, denn diese beiden standen bei den Vietnam-Demonstrationen gemeinsam auf dem Platz. Erfolgreich. Ein einziges Mal war es möglich, einen dieser scheiß Kriege durch Demonstrationen zu beenden.
Gysi meint, wenn diese beiden verschwinden, bleiben nur noch Arschlöcher übrig. Traut er sich so nicht zu sagen.
Es wäre aber durchaus richtig.
Ist das Judentum im Sinne Jesu oder Spinozas nicht ebenso dafür geeignet?
Und gibt es denn den großen elementaren Unterschied zwischen den Religionen überhaupt, wenn man den Weltethos eines Hans Küng als Grundlage nimmt?
Der Interpretationsraum innerhalb von Religionen ist weitaus größer als zwischen Religionen, wenn man die eigentlichen Grundlagen nimmt.
Vollpfosten gibt es überall. Wäre Gott mächtig genug und würde er aktiv eingreifen, anstatt über uns, den Zaudernden und Kleingeistern, zu wirken, müsste die Welt eine ziemlich andere sein.
Und wenn ein Gott über Edelkommunisten nicht wirkt, was für Amtskirchen auch heute noch unvorstellbar ist, über wen dann sonst.
Gysi hat sich im Gegensatz zu mir in die Materie nicht ausreichend eingearbeitet und benutzt oft Plattitüden unter Ausblendung anderer Realitäten. Ich weiß, was lange in der Karfreitagsliturgie gebetet wurde.
Hier undifferenziert vorzugehen und das Hauptmanno nicht einmal zu erkennen, dass allzu oft philisternde Pharisäer und keine Herzmenscben mit analytischer Tiefe am Werk sind, verkennt die eigentliche Agenda.
Aber was nicht ist, kann noch werden und wird nach meinem zuversichtlichen Wesen auch werden.
Unterhaltsam, Feuilleton eben. Der Erkenntniswert ist allerdings nahe Null. Der Hauptfehler besteht darin, die moralische Dichotomie – gut / böse – als Richtschnur zu nehmen. Es resultiert ein grausliges Durcheinander, in dem die Taten individualpathologischer Täter gleichwertig neben denjenigen politik- bzw. ideologiegetriebener Akteure gestellt werden. Schon zu Anfang hätte der Autor selber stutzen müssen, wenn er den Tyrannenmord unterschiedslos anders motivierten Morden an die Seite stellt.
Gleichsam wie Seuchenzüge gibt es immer wieder Zeiten, in denen der moralische Leisten buchstäblich für alles herhalten muss, zum Prokrustes-Bett wird, in dem jede menschliche Tat zurechtgeschnitten wird, damit sie in einen der beiden vorhandenen Körbe passe. Momentan ist es wieder ganz schlimm, das ‘Böse’, selterner das ‘Gute’, ist omnipräsent, wabert durch alle möglichen Erklärungsversuche und wirkt sich aus wie immer in der Geschichte, verwirrend und das, was man von objektiver Realität durchaus erkennen könnte verdunkelnd.
Bezeichnend übrigens auch, dass trotz aller auch kultureller Globalisierung in solchen Texten die abendländische Kultur nach wie vor pars pro toto steht, als gäbe es keine anderen. Insgesamt wird so aus dem intendierten Weitsprung ein kläglicher Hupfer.
Konrad Lorenz Abhandlung über das Böse: nur bei den Ratten, die Artgenossen aufgrund eines anderen Geruchs umbrachten, war es für ihn sichtbar. Ist es unter Menschen ähnlich? Ein anders markierter, ein Außenseiter- zum Abschuss freigegeben? Zumindest erstmal Mobbing.
Keiner will der Aussenstehende sein. Alle machen mit. Die dumme Herde. Einer wird zertrampelt. Der nächste will keiner sein. Alle ducken sich weg.