
Die Olympischen Spiele machen stets weiter, als sei nichts geschehen. Ihr Initiator, Pierre de Coubertin, war ein Wanderer zwischen den Zeiten und Ideologien.
König Oinomaos versprach demjenigen seine Tochter zur Frau, dem es gelänge, ihn im Pferderennen zu besiegen. Für zahlreiche Bewerber endete es mit dem Tod, bis Pelops kam und triumphierte. Der König höchstselbst fand den Tod, als sein Gespann zerschellte. Das nimmt nicht Wunder, hatte doch Pelops die Nägel an des Königs Gefährt heimlich durch Wachsbolzen ersetzen lassen. Pelops tötete dann noch seinen Helfer.
Szenenwechsel zur Wiedereröffnung der – modernen – olympischen Spiele 1896 in Athen. Ein griechischer Marathonläufer kam tiefenentspannt ins Ziel. Er hatte eine Teilstrecke auf einem Pferdefuhrwerk zurückgelegt.
Die Ursprungserzählung zu den von Pelops mitbegründeten Olympischen Spielen ist eingebettet in Genealogien aus Mord und Totschlag. Das geflügelte Wort vom „Sport ist Mord“ erscheint hier in neuem Licht. Gehören Schiebung und Betrug zur „DNA“ der Spiele, seit es sie gibt? Verbirgt der Wettbewerbsgedanke eine dunkle Seite des Menschen, die „von Ehrgeiz zerfressen“ ist?
Der Bogen lässt sich bis in unsere Zeiten des offensichtlich unausrottbaren Dopings spannen. Die Permanenz des Phänomens mildert die sittliche Verwerflichkeit stark ab. Verlangt es das Publikum, das auf seine Art Zuschauersport betreibt, nicht nach Wiederholung der Skandale und Skandälchen, um von eigenen Verfehlungen ein wenig entlastet zu sein?
Beruhen nicht Spiele, seit es sie gibt, auf Täuschungen, die im Theater mit Genuss einhergehen? Die Antike wusste es: Mundus vult decipi. Die Welt will betrogen sein. Also soll sie betrogen werden. Der starke und in seiner Stärke verwundbare Körper ist die große Illusion. In seiner künstlerischen Überhöhung täuscht er uns über unsere Zerbrechlichkeit und Endlichkeit hinweg.
Die ersten Olympischen Spiele des Zeitalters der Moderne wurden nach 1503jähriger Unterbrechung am Fin de siècle von Pierre de Coubertin wieder ins Leben gerufen. Um seine nicht sehr deutliche Idee des „Olympismus“ unters Volk zu bringen, verließ sich Coubertin lieber auf sinnliche Ansprachen wie Bilder und Musik als auf Worte. Die Wirkung war ihm grundsätzlich wichtiger als die politische Aussage. Dieses Rezept zieht sich durch die Public relations und Choreographien der Spiele bis heute.
Damals waren die Erkenntnisse der Massenpsychologie noch relativ neu. Gustave Le Bon hatte auf die Macht von Visualisierungen, von Versinnbildlichungen hingewiesen und schrieb: Die im Geiste der Masse hergestellten Bilder werden von dieser als Wirklichkeit angesehen, gleichartig für alle Individuen. Im selben Maß, wie das Unbewusste auf seine bildliche Art hervortritt, mindert sich die Kraft des Ichs und läuft in einem Ideal als Ersatz ein. Dort trifft es sich mit den vielen anderen – als steuerbare Masse.
Dass die Wirkmacht der Bilder für Coubertin mehr zählt als der politische Inhalt einer „Message“, liest sich harmlos, ist aber von fundamentaler Programmatik. Coubertin dünkt sich unpolitisch und kann sich allem anbequemen, was an politischer Zumutung auf ihn und die Spiele zukommt. 1919 sagte er: „Der Sport steht an der Spitze der Bauherren des Sieges. Ihm sind die großartigen Improvisationen zu verdanken, die es England und den Vereinigten Staaten ermöglichten, unerwartete Armeen auf die Bühne des Kriegsgeschehens zu werfen.“
Der olympischen Idee als solcher ist Rassismus inhärent. Schönheit entsteht auf der Grundlage von Reinrassgkeit, schreibt Coubertin an anderer Stelle. Mal wollte er, seinen elitären Habitus herauskehrend, die Massen zu den Wettkämpfen nicht im Stadion haben, dann wieder attestiert er der Arbeiterklasse „wunderbare Kräfte“. Ihr gehöre die Zukunft, auch die sportliche. Coubertin ist bewusst, dass der Sport zu allen Zeiten „zur Befestigung des Friedens genauso wie zur Vorbereitung des Krieges verwendet werden kann.“
Goebbels hatte ein Faible für Unterhaltungsfilme, und Hitler mochte Micky Maus. Das klingt paradox, aber in der Paradoxie liegt der Schlüssel. Sport ist als Mittel der Unterhaltungsindustrie vielseitig verwendbar. Er erscheint wertneutral. Coubertin behauptete, dass die Frage, ob der Sport von den Nazis ideologisiert worden ist, auf der moralischen Ebene kaum entschieden werden kann. Wenn es sein musste, war er Realist. Das hinderte ihn nicht, Hitler und die Deutschen zu bewundern.
Es geht nicht darum, ob 1936 einzelne Teilnehmer sich kompromittiert haben oder ob Funktionäre korrumpiert worden sind. Vielmehr suchte die NS-Sportpolitik die antisemitische Grundhaltung des Nationalsozialismus mit Hilfe des IOC in die Spiele einzuschleusen. Das IOC wurde instrumentalisiert (siehe Daniel Wildmann: Begehrte Körper).
Religio athletae – die neue Kirche des Gefühls und der Muskeln
Sport funktioniert auch in der Demokratie nach den Gesetzen der Public relations. Die Mechanismen der Populärkultur und erweitert der Bewusstseinsindustrie ziehen sich durch alle Gesellschaftsformationen, ob autoritär oder demokratisch. Der Vater von PR und Propaganda, Edward Bernays, stellte seine Künste sowohl in den Dienst verbrecherischer Regimes als auch demokratischer Auftraggeber. Anything goes. War Goebbels der Spin-Doktor Hitlers? Ihm war jedes Mittel recht.
Langfristig ersetzte die Kommerzialisierung der Spiele ihre Politisierung – ein Verdrängungsprozess. Aber für 1936 folgende bleibt festzuhalten: Die Spiele wurden zur „Kriegsware Unterhaltung“.
Gegen die Dekadenz des Fin de siècle setzte Coubertin die Philosophie einer Universalgeschichte als Keim eines weltweiten Friedens, der alle ohne Unterschied der Geburt einschließt. Er forderte ein universelles Menschenrecht auf Sport. Das sei der demokratische Geist Olympias. Er nennt sich einen Humanisten, verfällt jedoch an anderen Stellen in Sozialdarwinismus, wenn er etwa Frauen sowie „Kindern und Jugendlichen, die von Geburt an krank oder behindert sind“, die Zugehörigkeit zur olympischen Sportgemeinde versagt (zitiert nach Mischa Delbrouck: Verkehrte Körper, S.121). Mit der Einrichtung von Paralympics hätte die Gemeinde inzwischen dazugelernt.
„Reinigung“ und „Heilung“ sind die Kampfbegriffe, die Coubertin gegen die degenerierte Gesellschaft ins Feld führt. In dieses organizistische Modell von Gesellschaft passt der Körper, der zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen vermittelt. In seiner ästhetischen Form verspricht das Körper-Ideal die Gesundung der Gesellschaft. Der „Mosaikmensch“ wird wieder ganz.
Coubertin umschreibt seinen „Olympismus“ als einen am Körper der olympischen Leistungselite visualisierten Begriff des Lebens, der Jugend und der Kraft. Das sei die Wiederbelebung eines religiösen Gefühls und eines neuen Kults, der „Religio Athletae“. Dieser Jargon gemahnt an Lebensreform und Jugendbewegung, die ebenso eine Erneuerung der Gesellschaft aus dem Geist des Sports anstrebten.
Der ganzheitliche Ansatz jener Bewegungen, Staat und Gesellschaft zu einer nationalen Volksgemeinschaft zu verschmelzen, war der Kipppunkt eines Umschlags in die nationalsozialistische Ideologie. So weit ging Coubertin nicht, aber seine Widersprüchlichkeiten entstammen der gleichen Lebensphilosophie. Der Rassismus eines Arthur Gobineau oder auch eines Houston Stewart Chamberlaine unterfütterte jene Philosophie. Coubertin war zumindest anfällig.
So wie Richard Wagner mit einer Zusammenfassung aller Kunstgattungen zu einem Gesamtkunstwerk die Welt retten wollte, sprach Coubertin diese Rolle dem Sport und seinen Disziplinen zu. Die Symbiose von Kunst und Sport würde in den Festlichkeiten rund um die Olympischen Spiele zum Ausdruck kommen.
Übergangsriten
Im antiken Olympia führte ein 32 m langer Tunnel zum Stadion. Der „verborgene Eingang“ weckt die Assoziation einer Überfahrt, eines Übergangsritus, der die Helden nach langem Training ans Licht bringt. Boxer waren die wahren Heroen der Unterwelt. Die Anlage war zusammen mit einem Heiligen Hain dem Zeus geweiht.
Der Mythos ist auch umkehrbar: Über den Acheron bringt der Fährmann die Toten in den Hades. Das Bild passt auf die Architektur von Olympiastadien. Das große unheimliche Mundloch speit die Athleten aus.
Das kultische Moment der Olympischen Spiele der Vergangenheit ist von einer mehr oder minder offen liegenden Ambivalenz geprägt. In die heitere, spielerische Seite der Eröffnungs- und Schlussfeiern mischt sich die schmerzerfüllte Totenklage.
Ganz anders bei den Nazis. Siegeszuversicht verklärt den Opfertod. Hier spielt wieder Kriegsvorbereitung hinein, während die Dramen der griechischen Antike durch die Unvorhersehbarkeit der Ereignisse und die Verwundbarkeit der Helden gekennzeichnet sind. Und die Philosophie weiß, dass alles auch anders sein kann.
Die Nazis hingegen kannten keine Schuld und keine Selbstzweifel. Der Tod war ihre höchste Kunstform, und auf diesem Weg des Blutrausches nahmen sie alle mit. An der Langemarckhalle am Glockenturm des Berliner Olympiastadions ist ein Gedicht (1915) von Walter Flex in Stein gemeißelt:
Ihr heiligen grauen Reihen
geht unter Wolken des Ruhms
und tragt die blutigen Weihen
des heimlichen Königtums!
Das Gedicht ist an die Jugend gerichtet. Was von Hölderlin dort verewigt ist, ist nicht viel besser.
Sowohl Goebbels als auch Hitler waren von der Vorstellung besessen, Menschen durch Suggestion und Rhetorik zur Masse zu schmieden und fügsam zu machen. Der ideologische Überbau dieser Technik war eine Ästhetisierung des Politischen. Politik wird Kunst, Kunst wird Politik: Damit bemäntelten beide ihr Handeln. Bedrohlich wird es dadurch, dass die utopischen Gehalte der Kunst, wenn sie unmittelbar verweltlicht und realisiert werden sollen, in spontane Gewalt umschlagen.
Die Frage ist, ob die beiden in ihrer Rolle als Demagogen selbst an die Macht der von ihnen verbreiteten Phantasien glaubten oder ob sie sie mit eiskaltem Bewusstsein konstruiert und inszeniert haben. Die Wahrheit wird in einer Doppeldeutigkeit liegen. Sie trugen ihre rhetorischen Figuren „mit Inbrunst und Zynismus“ vor.
Blutige Weihen
Im Hintergrund der geschichtlichen Ereignisse vor und nach 1936 lief eine nicht zu Ende gebrachte Säkularisierung ab. So stößt zum Bund von Kunst und Politik als Drittes die verweltlichte Religion oder politische Theologie. Bezogen auf die Olympischen Spiele hieße das, dass aus dem unpolitischen Helden der ‚politische Soldat‘ einer Muskelreligion geworden ist. So sahen die versteinerten Heldenfiguren eines Arno Breker oder eines Josef Thorak denn auch aus. Ernst Jünger spricht von der „Metallisierung“ des Körpers.
Die Statuen der Nazi-Bildhauer haben vordergründig eine menschliche Figur. Sie zeigen Ähnlichkeit mit realen Menschen, um deren Körper anzueignen und zu verdinglichen. Die empirischen Menschen werden ihres Körpers enthoben, das ist die Absicht und das Ziel. Die Enteignung ist zugleich eine Idealisierung, die Herrschaft enthält und erhält. Sexualität wird eingespannt in den martialischen Nationalismus.
Das Körper-Ideal ist rein. Die „Körperpflege“ ist in einem Reinigung und Heilung des Sozialwesens. Der unreine jüdische Körper war ein unterschwelliges Thema der Spiele von 1936. Er war die Antithese. Die Reinigung und insbesondere der Sport sollen der Degeneration der Gesellschaft entgegenwirken, meinte Coubertin. Er setzt den „ganzen Menschen“ gegen die Partikularisierung der Gesellschaft.
Der Körper ist die vorausgesetzte Verdinglichung der dominanten kulturellen Leitbilder, deren Produkt er andererseits ist. In der Selbst- und Fremdwahrnehmung wird die jeweilige Gesellschaftsauffassung manifest. Mary Douglas:
„Der menschliche Körper ist das mikroskopische Abbild der Gesellschaft, ihrem Machtzentrum zugewandt und in direkter Proportion zum zu- bzw. abnehmenden Druck sich zusammennehmend bzw. gehenlassend. Seine Gliedmaßen – einmal in strikter ‚Hab acht“-Stellung, ein andermal ungezwungen sich selbst überlassen – repräsentieren die Glieder der Gesellschaft und ihre Verpflichtungen gegenüber dem Ganzen.“
Untertreibung des Körpers im Schmerz
Als die griechische Polis zerfiel, fiel auch der Sport brach. Mit den Göttern ging es abwärts. Aber der Sport reagiert nicht nur, er greift auch ein. Körperkontrolle ist schon in der antike Sozialkontrolle. Bis der Körper selbst sich auflöst und mit ihm die Kultur. Erst in der Renaissance erlebte er eine Wiedergeburt. Angestrebt war die Gemeinschaft von Körper und Seele.
Die Entwicklung von Gesellschaft und Sport muss nicht parallel verlaufen. Wettkampf ist in der Antike nicht nur der Kitt der Gesellschaft, der die Einzelglieder integriert, sondern er ist nach außen raumgreifend, kriegslüstern. Dieser Kampfbegriff kennt nicht Zeit, nicht Raum. Beide sind verdichtet zu einem energetischen Kern, der plötzlich aufbrechen kann, der „kurz davor“ steht.
Diesen Alarmismus haben die Nazis für die Mobilisierung der Massen zum Krieg zu nutzen gewusst, gleichsam als emotionale Mobilmachung. Um es mit den Worten Carl Diems zu sagen: „DerSport ist der Büchsenspanner des Krieges.“
Heute ist Sport stärker im zivilgesellschaftlichen Feld verankert. Disziplinierung wird durch „freiwillige Selbstnormalisierung“ abgelöst. Die Individuen machen das Soziale nur noch mit sich selbst ab.
Doch die Menschen der Moderne müssen feststellen, dass der Schmerz bleibt. Er ist nun innerpsychisch und kann nur dort erledigt werden, durch Autosuggestion etwa in Form des Fastens. Gerät das außer Kontrolle, droht Anorexie als frühe Form der Virtualisierung des Körpers. Damals, und das hätte zur Zeit der Wiederaufnahme der Olympiade 1896 gewesen sein können, hätte man von „Spiritualisierung“ gesprochen.
Eine Kritik an den Olympischen Spielen liest sich wie Spielverderberei. Aber Bangemachen gilt nicht. Sport hat viele nützliche und schöne Seiten. Die Crux liegt in der Übertreibung. Das sollte sich das IOC zu Herzen nehmen, damit es nicht erneut zu einer 1503jährigen Unterbrechung der Spiele kommt.
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Papperlapapp die Palästinenser haben sich mit Mord und Folter als Erste über den Olympischen Geist erhoben und der heißt „Frieden“ solange die Spiele statt finden.
Da helfen auch keine Nazis oder Unsportsmanlike Conduct’s aus der Antike!
Wenn ich mir Xi so anhöre und was er von unsere Wirtschaftsgranate so hält, weiß ich nicht ob der globale Süden nicht einfach sein eigenes Ding machen sollte?
-eigene UN-
-eigene Reservewährung
-eigene Olympischen Spiele
usw.
https://youtu.be/9XuP3uSgy3s
Tschuldigung, auch wenn es nicht wirklich hier reinpasst, aber wer Habecks Äußerungen als Beleidigung der Chinesischen Intelligenz bezeichnet, hat bei mir schon mal die Goldmedaille im Kinderweitwurf gewonnen.
Ich möchte mich in gewisser Weise beim IOC bedanken: Bei mehreren Gesprächen habe ich das IOC (FIFA bzw. UEFA) als Beispiel dafür angeführt, dass auch extrem korrupte Organisationen¹ etwas, konkret einen internationalen Wettbewerb, auf die Beine stellen können, wenn nur die Randbedingungen extrem günstig² sind.
Bisher hat noch keiner widersprochen…
¹Umgangssprachlich locker: Läden, Vereine…
²Unmengen von Staatsknete…