
Überall in Europa verweisen die Sozialdemokraten stolz auf ihre Geschichte, die gekennzeichnet sei von ihren Verdiensten beim Aufbau des Wohlfahrtsstaates und der Etablierung der Entspannungspolitik gegenüber dem kommunistischen Osten in der Ära des Kalten Krieges. Aber ist diese Sichtweise auch wirklich historisch korrekt? Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass es sich dabei eher um einen Mythos handelt.
Auch wenn das „sozialdemokratische Jahrhundert“ (Ralf Dahrendorf) nun schon lange vorbei ist: Parteien, die sich ideologisch als „sozialdemokratisch“ verorten, sind in vielen europäischen Staaten Machtfaktoren ersten Ranges – auch wenn sie in den letzten Jahrzehnten ihre in vielen Fällen dominierende Stellung verloren haben. In Skandinavien stehen sie trotz erheblicher Stimmenverluste immer noch im Zentrum des jeweiligen Parteiensystems und sind stärkste Regierungs- oder stärkste Oppositionspartei. In Deutschland stellten sie bis vor kurzem den Regierungschef, allerdings auf einer recht schmalen Wählerbasis, und in Großbritannien haben sie erst letztes Jahr wieder einen (so zumindest schrieben es die Mainstream-Medien) „fulminanten“ Wahlsieg errungen – der sich allerdings stark relativiert, schaut man sich die Stimmen- und Prozentzahlen an. Mit gerade mal 33,7 Prozent der abgegebenen Stimmen bekam die traditionsreiche Labour Party unter ihrem Parteichef Keir Starmer, einem begnadeten Langweiler, eine überwältigende Mehrheit im Parlament. Jeremy Corbyn, sein dezidiert linker Vorgänger, verlor 2017 die Wahl, obwohl er damals erheblich mehr Stimmen für sich einsammeln konnte – Starmers Mega-Erfolg ist also ausschließlich ein Ergebnis des britischen Mehrheitswahlsystems.
In Frankreich, Holland und Griechenland hingegen erzielten die jeweiligen Schwesterparteien von SPD und Labour in den letzten Jahren einen Minusrekord nach dem anderen; absoluter Tiefpunkt waren wohl die jämmerlichen 1,8 (!) Prozent der Kandidatin des „Parti Socialiste“, Anne Hidalgo, bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich 2022. Auch wenn sich die einstige Partei Francois Mitterands bei der Europawahl im Juni letzten Jahres wieder etwas erholen konnte: Eine richtige Renaissance sieht anders aus, und die holländischen Sozialdemokraten beispielsweise, die noch vor 30 Jahren stärkste Partei des Landes waren, sind heute einzig und allein deswegen noch nicht im Mülleimer der Geschichte verschwunden, weil sie ein enges (und ideologisch sicherlich folgerichtiges) Wahlbündnis mit den Grünen eingingen – mittlerweile wird sogar über eine Fusion beider Parteien spekuliert.
Die rechtspopulistische Herausforderung
Wohin sind diese vielen ehemaligen Sozi-Wähler abgewandert? Viele natürlich in die Wahlenthaltung, das besagen alle ernstzunehmenden wissenschaftlichen Studien. Viele aber auch in die weit offenen Arme der diversen rechtspopulistischen Parteien, die in fast allen europäischen Parteiensystemen in den letzten zehn, zwanzig Jahren einen dramatischen Aufschwung erlebten. In Frankreich, in Ostdeutschland, in Österreich sind das Rassemblement National, die AfD und die FPÖ mittlerweile veritable Arbeiterparteien: politische Bewegungen, die eifrig und höchst erfolgreich die viel zitierten „kleinen Leute“ hinter sich versammeln – soziale Schichten also, die jahrzehntelang sozialdemokratisch (und in Frankreich und Italien sogar kommunistisch) gewählt haben.
Warum sie es heute nicht mehr tun? Ganz einfach: Weil die allermeisten Parteien in Europa, die sich „sozialdemokratisch“ nennen, heute keine sozialdemokratische Politik im klassischen Sinne mehr machen. Klassische sozialdemokratische Politik hieß früher: Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Bau (oder zumindest Förderung) von Sozialwohnungen für Einkommensschwache, Stärkung der Arbeiterrechte, Ausbau des Gesundheits- und des Bildungssystems. Spätestens seit den 1990er Jahren steht das meiste davon schon lange nicht mehr auf der Agenda von „sozialdemokratischen“ Parteien und Regierungen – erinnert sei hier an das berühmt-berüchtigte „Schröder-Blair“-Papier von 1999, das die Wende hin zu einem „links“ verbrämten Neo-Liberalismus markierte. Der eigentliche soziale Roll-Back erfolgte in Deutschland vier Jahren später mit der nicht minder berüchtigten „Agenda 2010“ der damaligen rot-grünen Bundesregierung – in Großbritannien hatte Margaret Thatcher knapp ein Vierteljahrhundert zuvor in dieser Hinsicht schon Pionierarbeit geleistet.
Die Begründer des Wohlfahrtsstaates?
Aber wir haben doch den Wohlfahrtsstaat geschaffen (und passen ihn lediglich an die veränderten Verhältnisse an), lautet – nicht nur in Deutschland – das Credo der Sozialdemokraten. Das Problem hierbei: Das stimmt nur sehr bedingt. Zwar ist es durchaus richtig, dass in Skandinavien (etwa in Schweden und Norwegen) und in Holland es sozialdemokratische oder sozialdemokratisch dominierte Regierungen waren, die vor allem in den 1950er und 1960er Jahren die Grundlagen für einen modernen Sozialstaat, der die negativen Entwicklungstendenzen des Kapitalismus abfedert, geschaffen haben – aber eben nicht in (West-)Deutschland, in Österreich oder Belgien. Dort waren es nämlich christdemokratische Parteien in der Regierungsverantwortung, die dieses Verdienst für sich in Anspruch nehmen können. Und schon gar nicht stimmt dies in Frankreich und in Finnland, wo es kommunistische Sozialminister waren, die einst in Mitte-Links-Regierungen wegweisende Sozialgesetze auf den Weg brachten. Was Deutschland betrifft: Der Sozialstaat hier war im Wesentlichen das Werk eines beinharten Konservativen (nämlich Otto von Bismarck) und eines Christdemokraten (Konrad Adenauer) – die SPD hat demgegenüber in ihrer langen Regierungszeit in den 1970er Jahren außer dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (das nach ein paar Jahren aus Haushaltskürzungsgründen ohnehin wieder kastriert wurde) und dem Mitbestimmungsgesetz wenig dazu beigetragen. Und, wie bereits erwähnt: 2003/2004 zeichnete sie dann verantwortlich für den rabiatesten sozialen Kahlschlag in der bundesrepublikanischen Geschichte…
Dass es Regierungen der unterschiedlichsten politischen Couleur waren, die in West- und Nordeuropa den modernen Sozialstaat geschaffen haben, ist kein Zufall. Ebenso wie Reichskanzler von Bismarck in den 90er Jahren des vorletzten Jahrhunderts getrieben war von der Angst, eine von Reichstagswahl zu Reichstagswahl immer stärker werdende (sich damals noch revolutionär gebärdende) Sozialdemokratie könnte eines Tages auf parlamentarischem Wege an die Macht gelangen, fürchteten die ökonomisch und politisch Mächtigen in den Ländern westlich des „Eisernen Vorhangs“ nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen dramatischen Linksruck in ihren Gesellschaften, befeuert noch durch die – trotz aller Nachkriegsschwierigkeiten – sozialen Reformen in den Ländern, die dann in den darauffolgenden Jahrzehnten den sozialistischen Block bildeten. Beachtliche materielle Zugeständnisse an die arbeitende Bevölkerung auch im Westen standen deshalb auf der Tagesordnung: Etablierung und Erweiterung von Sozialversicherungssystemen für den Fall von Arbeitslosigkeit oder den des altersbedingten Ausscheidens aus dem Berufsleben, massive Investitionen in den Gesundheits- und in den Bildungssektor, eine staatliche Ausgabenpolitik zur Konjunktursteuerung mit dem Ziel der Erreichung von Vollbeschäftigung.
Ein spezieller Fall ist Großbritannien: Zwar war es die Labour-Regierung von 1945-51, die hier die Grundlegen für den dortigen Sozialstaat legte; dessen Grundzüge – sogar im Detail – waren jedoch nicht von einem sozialdemokratischen Vordenker konzipiert worden, sondern einem (linken) Liberalen. William Beveridge hieß der Mann, war Berater des Kriegskabinetts von Premier Winston Churchill und entwarf ein Wohlfahrtssystem, das sich interessanterweise grundlegend von dem im Rest Europas vorherrschenden Modell unterscheidet, das in seiner Grundkonzeption auf Fürst von Bismarck zurückgeht. Das „Bismarck-Modell“ ist ein Sozialversicherungssystem, das auf Lohnarbeit basiert: Jeder Arbeitnehmer zahlt während seiner Berufstätigkeit in eine Versicherung ein, die ihm dann im Falle von Arbeitslosigkeit Unterstützung zahlt – oder im Fall des Ausscheidens aus dem Arbeitsleben eine Rente. Die Höhe dieser Unterstützungszahlungen richtet sich nach der Höhe der Einzahlungen. Im „Beveridge-Modell“ erhält jeder Arbeitslose und jeder Rentner dieselbe Unterstützungszahlung (also eine Art „Flat Rate“), finanziert wird dies über den Staatshaushalt, also über Steuern.
Die Auswirkungen dieser beiden Systems sind recht unterschiedlich, insbesondere in Bezug auf die gesellschaftliche Einkommensverteilung. Im Bismarck-System ändert sich diese nämlich überhaupt nicht: Wer sein ganzes Berufsleben lang wenig verdient hat, bleibt auch im Alter oder im Fall von Arbeitslosigkeit arm, weil er ja wenig einbezahlt hat. Wer viel verdient hat, hat viel eingezahlt und kann folglich mit einer vergleichsweise hohen Arbeitslosenunterstützung und einer hohen Rente rechnen. Angelsächsische Sozialwissenschaftler nennen diesen Effekt das „Piggy Bank“ (Sparschwein)-Prinzip im Gegensatz zum „Robin Hood“-Prinzip: Wie wissenschaftliche Studien zeigen, hat das Beveridge-Modell, kombiniert mit einer progressiv steigenden Einkommensteuer, in der Tat den Effekt, die Einkommensverteilung zugunsten der ärmeren Schichten der Bevölkerung zu verändern…
Dies aber natürlich nur dann, wenn die „Flat Rates“ eine bestimmte Höhe nicht unterschreiten. Letzteres ist jedoch in Großbritannien heute der Fall, dank Margaret Thatcher, die sowohl das Arbeitslosengeld als auch die staatlichen Renten auf ein absolutes Minimum gekürzt hat – vermutlich wohl auch in der Absicht, dadurch das gesamte Wohlfahrtssystem zu diskreditieren. Wie das Beveridge-System wirkt, wenn es nicht verwässert wird, kann man heute in Australien sehen: Dort zahlt der Staat die – natürlich von anderen Renteneinkünften abhängige – höchste staatliche Mindestrente weltweit, mit dem Effekt, dass dem australischen Rentensystem von Experten heute bescheinigt wird, zu den fünf Besten der Welt zu gehören – Deutschland beispielsweise liegt auf Platz 19. Gut möglich, dass dies ein Faktor ist, der (neben anderen natürlich) erklärt, warum es in diesem Land im Unterschied zu Europa immer noch keine rechtspopulistische Massenpartei gibt und es der dortigen Sozialdemokratie zu gelingen scheint, den Löwenanteil ihrer traditionellen Wählerunterstützung auch heute noch hinter sich zu scharen – wie der geradezu historische Wahlsieg der Labor-Regierung unter Premierminister Anthony Albanese erst vor kurzem demonstrierte.
Fürst von Bismarcks langer Schatten
Wie alle wissenschaftlichen Studien der letzten Zeit zeigen, etwa die des französischen Ökonomen Thomas Piketty, steigt die soziale Ungleichheit in fast allen westlichen Gesellschaftssystemen seit Jahrzehnten steil an – auch in Deutschland, obwohl die SPD in den letzten 25 Jahren sage und schreibe 21 Jahre lang den Sozialminister in der Bundesregierung stellte. Das auch für viele politisch wenig informierte Bürgerinnen und Bürger unübersehbare Versagen der Sozialdemokraten in dieser Hinsicht mag sicherlich damit zu tun haben, dass insbesondere die SPD in Deutschland ganz offensichtlich die Aufgaben des Sozialstaates mit denen der Heilsarmee zu verwechseln scheint: Hier ein paar Almosen, da ein paar Euros oder – wie im Fall des gesetzlichen Mindestlohns – sogar nur ein paar Cents mehr. Aber auch Fürst von Bismarck wirft hier seinen langen Schatten, über 120 Jahre nach seinem Tod.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass seine Konzeption des Wohlfahrtsstaates, die ausdrücklich dazu entworfen wurde, das kapitalistische System zu stabilisieren und der damals noch zumindest verbal revolutionär gepolten deutschen Sozialdemokratie das Wasser abzugraben, heute diejenige ist, die von der SPD und vielen ihrer Schwesterparteien in Kontinentaleuropa verbissen verteidigt wird. Manche Parteien, die sich links von der Sozialdemokratie verorten, sind da schon deutlich weiter: Die deutsche Linkspartei etwa – die sich ansonsten allerdings eher auf „Identity Politics“ und den Kampf gegen echte und vermeintliche Faschisten konzentriert – fordert eine staatliche Grundrente von 1400 Euro im Monat, die französische Linkspartei „La France Insoumise“ immerhin eine in einer Höhe, die exakt der Armutsgrenze in Frankreich entspricht (derzeit 1216 Euro): Mehr Beveridge also, weniger Bismarck.
NATO, CIA und sozialdemokratische Entspannungspolitik
Nichtsdestotrotz war die Sozialdemokratie lange Zeit in vielen europäischen Ländern bei Wahlen zumindest in Bezug auf die Sozial- und Wirtschaftspolitik das sprichwörtliche „kleinere Übel“, verglichen mit dem programmatischen Angebot der Mitte-/Rechts-Parteien. Davon kann heute in den meisten Fällen keine Rede mehr sein. Die Sozialdemokraten haben sich – allen voran die der deutschen SPD – mittlerweile einer Politik verschrieben, die exakt jene „kleinen Leute“ existenziell bedroht, deren Interessen sie behaupten zu vertreten: Neoliberale Wirtschaftskonzepte, offener Sozialabbau, undurchdachte, ineffiziente und für die Betroffenen nicht stemmbare „Klimaschutzmaßnahmen“ – wie etwa das deutsche Heizungsgesetz – treiben ihre Stammwähler zuhauf in die Arme der Rechtspopulisten. Aber noch viel düsterer sieht die Bilanz der Sozialdemokraten heute in dem Bereich aus, in dem sie zumindest zeitweise tatsächlich viel mehr als nur das kleinere Übel waren: dem Bereich der Friedens- und Sicherheitspolitik.
Man muss es zugestehen: Sozialdemokratische Staatsmänner wie Olof Palme, Willy Brandt (der in den 1950er Jahren noch ein eingefleischter kalter Krieger war!) und Bruno Kreisky haben in den 1970er Jahren eine Politik der Entspannung und des Ausgleichs mit den Staaten des Warschauer Pakts betreiben, die tatsächlich nicht nur die Kriegsgefahr in Europa drastisch verminderte, sondern auch eine Vielzahl von menschlichen Erleichterungen – wie etwa Verwandtenbesuche und Ähnliches – mit sich brachte. Dass diese Politik von den Falken in Washington, in der NATO und in vielen anderen westlichen Hauptstädten mit Stirnrunzeln betrachtet wurde – um es einmal milde zu formulieren – kann heute als historisch gesichert angenommen werden. Christopher Boyce, ein ehemaliger CIA-Mitarbeiter, der in den 1970er Jahren aus Empörung über die Verwicklung seiner Organisation in den Putsch in Chile Geheimmaterial der CIA an die UdSSR lieferte, nach seiner Festnahme und Verurteilung lange Jahre im Gefängnis saß und 2002 freigelassen wurde, gab 2013 dem „Guardian“ ein Interview, in dem er erzählte, dass vor allem Brandt, Palme und der von 1972-75 amtierende australische Labor-Premierminster Gough Whitlam auf der Abschussliste der CIA standen und die Organisation alles daran setzte, diese drei Regierungschefs zu stürzen. Brandt stürzte 1974 dann tatsächlich über den Guillaume-Skandal, Whitlam wurde in einer Art legalem Putsch aus dem Amt entfernt, und Palme starb 1986 bei einem Attentat, das bis heute nicht aufgeklärt ist…
Rückblickend betrachtet war diese Periode der sozialdemokratischen Entspannungspolitik ohnehin nur eine relativ kurze Episode. Brandts Nachfolger Helmut Schmidt, ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier im Zweiten Weltkrieg, war gerade mal drei Jahre im Amt, als er bei einem Vortrag in London eine so genannte „Raketenlücke“ entdeckt zu haben glaubte. Er behauptete, den sowjetischen Mittelstreckenraketen, die auf Ziele in Westeuropa ausgerichtet waren, habe „der Westen“ nichts entgegen zu setzen. Er schlug vor, US-Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren: die berühmte „NATO-Nachrüstung“. Es war der Auftakt für die wohl – noch vor der Kuba-Krise 1962 – gefährlichste Periode des Kalten Krieges: Im September 1983 war es lediglich der gesunde Menschenverstand des sowjetischen Oberstleutnants Stanislaw Petrow, der den Ausbruch eines globalen nuklearen Krieges verhinderte …
Die Ur-Sünde
Dass Sozialdemokraten sich für Waffen – wie jüngst auch der deutsche Kriegstüchtigkeitsminister Boris Pistorius – begeistern können, ist beileibe kein neues Phänomen. Der Ur-Sündenfall sozusagen trug sich vor exakt 110 Jahren, im August 1914 zu: Die sozialdemokratischen Parteien Europas, die noch wenige Wochen zuvor geschworen hatten, ihre jeweilige nationale Arbeiterschaft zu einem Generalstreik aufzurufen, sollte es zum Kriegsausbruch kommen („Arbeiter schießen nicht auf Arbeiter!“), erlagen kollektiv dem patriotischen, von den Medien und den bürgerlichen Parteien angefachten Kriegstaumel und solidarisierten sich mit ihren jeweiligen, entschlossen auf Krieg zusteuernden Regierungen – allen voran die SPD mit ihrer Zustimmung zu den kaiserlichen Kriegskrediten im deutschen Reichstag. Besonders perfide war dabei die Begründung der SPD-Führung für dieses Verhalten: Es gelte, der „russischen Tyrannei“ entgegen zu treten – und das von Politikern eines Staates, den Karl Marx einmal einen „parlamentarisch verbrämten Militärdespotismus“ nannte… In Wirklichkeit ging es natürlich um die geopolitischen Interessen der deutschen herrschenden Klasse – und der letzte Versuch eines Raubzugs gen Osten blieb es ja auch nicht.
Beim zweiten Versuch standen die – meist exilierten, oft aber auch im KZ sitzenden – SPD-Führer in aller Regel auf der richtigen Seite der Geschichte, ausnahmsweise einmal. Aber kaum war der Zweite Weltkrieg zu Ende und das Kräftemessen zwischen den zwei neuen Weltmächten USA und UdSSR in vollem Gang, schlugen sich die Sozialdemokraten in Westdeutschland, in Großbritannien, in Frankreich und etlichen anderen Ländern auf die Seite derjenigen, die das alte Vorkriegs-Gesellschaftssystem wiederherstellen wollten – sprich die der USA und der alten, am Aufkommen des Faschismus oft ganz und gar nicht unschuldigen europäischen Herrschaftseliten. Die auf Betreiben der USA gegründete NATO wurde zum Instrument einer hemmungslosen Aufrüstung, und mindestens dreimal – 1962 während der Kuba-Krise, im September 1983 in der Nacht des Oberstleutnants Petrow und im November 1983 während des NATO-Manövers „Able Archer“ – stand die Menschheit am Rande der globalen Vernichtung. Immerhin sorgte die Fast-Katastrophe vom November 1983, nach allem, was man heute weiß, für ein Umdenken sowohl beim damaligen US-Präsidenten Reagan als auch beim damaligen sowjetischen Staats- und Parteichef Gorbatschow – Ergebnis waren zahlreiche Abrüstungsabkommen, allen voran der INF-Vertrag über ein Verbot der Stationierung von nuklear bestückten Mittelstreckenraketen in Europa.
Eine neue Russophobie
Die Ruhe währte allerdings nicht sehr lange. Ein Ex-Warschauer-Pakt-Land nach dem anderen schloss sich nach der „Wende“ in Osteuropa der NATO an, und 1999 startete diese den ersten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf dem Kontinent seit 1945: den Überfall auf (Rest-)Jugoslawien, bejubelt insbesondere vom deutschen SPD-Verteidigungs“-Minister Rudolf Scharping und dem deutschen grünen Außenminister Joschka Fischer. Und obwohl der damalige russische Präsident Boris Jelzin ein eher westlich orientierter Politiker war, stand die Welt schon wieder am Rande eines neuen globalen Krieges: Wie der heutige britische Popmusiker James Blunt, der 1999 als Zeitsoldat Kommandeur einer britischen Brigade war, beteuert, hat lediglich seine Weigerung, gemäß dem Befehl eines ihm übergeordneten US-Generals den Flugplatz der kosovarischen Hauptstadt Pristina zu besetzen, damals eine direkte militärische Konfrontation mit russischen Soldaten verhindert („Ich war nicht gewillt, den Befehl für den Start eines Dritten Weltkrieges zu geben.“). Zum wiederholten Mal spielten reaktionäre Politiker und Medien in Deutschland und im gesamten restlichen Westen die russophobe Karte, lautstark sekundiert von führenden Sozialdemokraten, insbesondere in Deutschland. Entspannungspolitik? Im Mülleimer der Geschichte…
Der Rest darf als bekannt vorausgesetzt werden – auch die unselige Rolle, die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Zuge der „Zeitenwende“ beim neuen Ostfeldzug spielten und noch spielen. Wer führte Finnland und Schweden in die NATO? Die sozialdemokratischen Ministerpräsidentinnen Sanna Marin und Magdalena Andersson. Wer bugsierte die NATO auf einen beinharten Anti-Russland-Kurs? Ihr Chef, der ehemalige norwegische sozialdemokratische Premierminister Jens Stoltenberg (Ex-Premier einer rot-rot-grünen Regierung!). Wer beteuerte, die EU müsse der Ukraine bis zum Endsieg militärisch beistehen? Der EU-Außenbeauftragte“ und sozialdemokratische spanische Politiker Josep Borrell. Wer verkündete im deutschen Parlament die „Zeitenwende“? Wer postulierte, Deutschland müsse wieder „kriegstüchtig“ gemacht werden? Wer nannte den Beschluss zur Stationierung von neuen US-Mittelstreckenraketen in Deutschland ab 2026 eine „gute Entscheidung“?
„Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ war jahrzehntelang in Deutschland ein Schlachtruf von Kommunisten und linken Sozialisten gegen die SPD. Der Spruch ist nicht ganz korrekt. Denn im Grunde genommen haben die Sozialdemokraten, allen voran die deutschen, sich in erster Linie selber verraten, haben sie nun auch noch das Letzte in die Tonne getreten, was nach der neoliberalen Wende in den 1990er Jahren an progressivem Gedankengut in ihrer Programmatik geblieben war: die Entspannungspolitik von Willy Brandt, Egon Bahr, Olof Palme, Bruno Kreisky und anderen. Der Kniefall des deutschen Bundeskanzlers in Warschau damals: eine Geste, die von heute aus betrachtet einer ganz, ganz fernen Vergangenheit anzugehören scheint.
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Vielen Dank für diesen lesenswerten Exkurs in die Geschichte – auch wenn ich die Sympathie des Autors für das Beveridge-Modell nicht teile. Ein Quellenverzeichnis wäre gut gewesen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wieviel Arbeit das macht, aber es ist wirklich wichtig. Wenn man einmal damit angefangen hat und sein Quellenverzeichnis sorgfältig pflegt, kann man bei neuen Texten per Copy&Paste wieder darauf zurückgreifen.
Ja, wir waren Jahrzehnte lang auch SPD-Wähler. Sicherlich auch deshalb, weil wir vieles nicht wussten und immer Willy Brand vor Augen hatten. Dazu glaubten wir lange Zeit, dass die SPD etwas für abhängig Beschäftigte tut, tat sie aber nicht wirklich. Mindestlohn und Sozialhilfe sind wohl richtig und human, allerdings nützen diese Dinge sehr vielen Leistungsträgern rein gar nichts, im Gegenteil. Genutzt hätte eine verstärkte Tarifbindung oder zumindest eine Erfüllungsverpflichtung bei öffentlichen Aufträgen. Während meiner Berufszeit ist mir sowas nur von Bayern bekannt, was ja definitiv kein SPD-Land ist. Die Tariftreue ist in den Jahrzehnten der SPD-Verantwortung für den Bereich Arbeit gesunken, was sicherlich auch mit den teilweise für Außenstehende nicht nachvollziehbaren Abschlüssen in den großen Industrieunternehmen und im öffentlichen Bereich zusammenhängt. Sprich, je mehr der Fliesbandarbeiter bei VW oder der Sachbearbeiter bei der Landesverwaltung verdient und umso kürzer deren Arbeitszeiten sind, desto schlechter geht es dem Rest, der das zum Teil mit finanzieren muss. Diese Politik ist also reine Lobbypolitik auf Kosten der Masse, und als Aushängeschilder fungieren Mindestlohn und Bürgergeld, die, wie gesagt, demjenigen, der in nicht tarifgebundenen Unternehmen kostenlose Überstunden schiebt, rein gar nichts nützen. Wir hatten ein falsches Bild von der SPD. Schön, dass dieses nun von den SPD-Granden selbst korrigiert wird. Ich nehme an, dass von den 15%, die noch SPD wählen, 10% Altwähler sind und 3% Nichtwisser. Mit solchen Leuten wie Pistorius, M.Roth (ja, der hat nichts mehr zu sagen, ist aber Teil des SPD-Bildes), Faeser, A.Schwarz,….wird die SPD weiter in der Bedeutungslosigkeit versinken, zu Recht.
wenn man eine Binde über den Augen hat
nützt das Augen aufmachen nichts.
Ach ja, linke Ideen in Europa. Das ist so, als würde es eine Linksfraktion bei den SS-Mannschaften in den KZs geben. Europa ist rechts, war es schon immer und wird es auch immer bleiben. Die paar Jahre wo ihnen versucht wurde von der UdSSR eine linke Identität zu geben, sind grandios gescheitert. Der Grund ist auch ganz einfach, Links entsteht immer da, wo es die Notwendigkeit gibt, aber das war in Europa nicht notwendig, da die Menschen entweder wohlhabend waren oder sich zumindest in dem Glanz gesonnt haben, als Weiße jeder anderen Volksgruppe überlegen zu sein. Deswegen ist auch der Übergang nach rechts immer so einfach, denn man muss einfach nur die weiße Überlegenheitsfantasie, die bei den Europäern von Kindheit an eingeimpft wurde, aktivieren und schon heben sie den rechten Arm zum Gruß. Und bevor diese Europäer nicht ausgestorben sind, wird Europa nicht links werden, egal was irgendwelche LARP (Left Action Role Playing) Autoren schreiben.
👍👍👍
da liegt ein großer irrtum vor:
die sozialdemokraten haben sich nicht selber verraten, sondern sind sich als verräterpartei schon seit vor ihrer gründung (genauer: seit lasalles ADAV, welcher im übrigen auch mit bismarck klüngelte) stets treu geblieben. beim ersten mal zum thema kriegskredite- für den deutsch-französischen krieg 1870/71- haben sich die „marxisten“ wie bebel und liebknecht (wilhelm, nicht karl) lediglich enthalten, während der lasalle-nachfolgerflügel um schweitzer dafür gestimmt hat. zum gründungsparteitag 1869 in eisenach lehnten sie das frauenwahlrecht ab.
danach zug sich der verrat wie ein roter faden durch ihre geschichte: kriegskredite 1. weltkrieg, verhinderung der revolution durch scheidemann & co, noskes blutmai, die aktive unterstützung der ermordung von rosa und karl, die weigerung, zusammen mit der KPD zum generalstreik gegen die nazis aufzurufen (klar war die aussicht auf erfolg eher zweifelhaft, es aber gar nicht erst zu probieren war sträflich). dazwischen immer irgendwelche drecksäcke wie wehner, der die gewerkschaftskasse der FAU geklaut hat, als er zur KPD überlief, bevor er irgendwann zum giftzwerg und dampfplauderer der SPD wurde. am30.5.68 drückte der immer so hochgelobte brandt gegen den widerstand der FDP (sic!) die notstandsgesetze durch, als man sich langsam aufgrund des pariser maiaufstands um die unversehrtheit der eigenen wohlstandsgesäße sorgte. die neuere geschichte ab zerschlagung der sozialen errungenschaften und anzettelung eines brutalen und völkerrechtswidrigen angriffskriegs unter schröder muss ich- glaub ich zumindest- nicht mehr extra erwähnen, das sollte jede*r noch aufm schirm haben…
die SPD ist ein drecksverein seit ihrer gründung und hat keine sekunde jemals aufgehört, ihr ureigenes klientel nach strich und faden zu verraten. wenn sie jemals was zur entspannung beigetragen haben, geschah das lediglich aus sorge um das eigenen wohstandsgesäß. q.e.d
Die „Wehner Geschichte“ kannte ich noch garnicht das, der Wehner mit der FAU-Kasse zur KPD rübergemacht hatte. Bei der alten Tante SPD immer auch beachten das diese den rechten Flügel in der SED gebildet hatte!
@ paul
Eine fulminante Abrechnung mit der hinterfotzigen(!!!!) ÄsPeDeh. Danke sehr für den Erkenntnisgewinn. Gibts ein Schwarzbuch? A la aus dem Leben eines Kanalrattengezüchts?
@Nold
Zustimmung. Das Kernproblem auch hier: ein diskursiver Meinungsbeitrag weil er nur Meinung bleibtentwertet sich selbst, weil er selbst Grundbelege verweigert. Eben nur Meinung. Damit beliebig. Der Autor merkt´s nicht. Und die nRedaktors auch nicht. Leider typisch für diesen Blog.
Gruß, Harry
Wenn man eine Binde über den Augen hat nützt das Augen aufmachen nichts