Leo Tolstoi, die Armen und die soziale Revolution

Die Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland (Bild von 1914 aus dem Slawischen Epos von Alfons Mucha). Bild: Mucha/gemeinfrei

 Ein Überblick entlang der frei abrufbaren Themenbände in der Tolstoi-Friedensbibliothek

Schon im Januar 2019 gab es auf der Gründungstagung des „Ökumenischen Instituts für Friedenstheologie“ Überlegungen, gemeinfreie Werke des Russen Leo Tolstoi (1828-1910) neu zu erschließen. Ins Werk gesetzt wurde dieses Vorhaben dann im Jahr 2022, als nicht wenige aberwitzige Voten für einen Boykott russischer Kulturerzeugnisse im öffentlichen Raum ertönten. Seit Eröffnung des Online-Portals der „Tolstoi-Friedensbibliothek“ (Februar 2023), das u.a. von sieben Kooperationspartnern bekannt gemacht wird, sind bislang schon vierzig Bände (in drei Reihen A-C) erschienen. Das ist vielleicht die beharrlichste Ausnahme-Erscheinung während der „Eiszeit“ des deutsch-russischen Kulturaustausches.

Im Zentrum unserer Unternehmung steht die Friedensfrage, worüber im Overton-Magazin schon berichtet worden ist. An dieser Stelle sei interessierten Leserinnen und Lesern aber ein Überblick über die Werke des „sozialen Tolstoi“ dargeboten. Alle digitalen Erstfassungen sind frei zugänglich in der virtuellen Bibliothek des Projektes. Nachfolgend werden zu allen ausgewählten Titeln auch die gedruckten Buchausgaben aufgeführt.

Der Morgen eines Gutsbesitzers (1852-1856)

Leo N. Tolstoi gehörte zur Klasse der reichen Minderheit in Russland, die die arbeitende Bevölkerung versklavte und ausbeutete. Einige Jahre vor dem Ende der „Leibeigenschaft“ (1861) kann der junge Adelige seine Beteiligung am Gewaltsystem der Besitzenden kaum noch verleugnen. Er möchte den Armen begegnen, ihnen – wie andere Vertreter seines privilegierten Standes – als aufgeklärter „Patron“ helfen und … von ihnen geliebt werden. Doch es fehlt noch die Reife zur Menschlichkeit.

Die spätere Wandlung Tolstois ab Ende der 1870er Jahre ist kein vollständiger Bruch mit der eigenen Lebensgeschichte. Sie gilt in Wirklichkeit jener Offenbarung, die nach Ausweis der frühen Erzählungen schon den Jüngling aufgerüttelt hat: „Gedankenlos, wunschlos, wie es immer nach angestrengter Tätigkeit zu sein pflegt, legte er sich unter einen Baum auf den Rücken und schaute in die durchsichtigen Morgenwolken empor, die am tiefen, endlosen Himmelszelt dahinzogen. Plötzlich traten, ohne alle Ursache, Tränen in seine Augen, und Gott weiß, wie es kam, ein leuchtender Gedanke blitzte in ihm auf, der seine ganze Seele erfüllte, den er mit Wollust erfasste – der Gedanke, dass die Liebe und das Wohltun Wahrheit und Glück ist, die einzige Wahrheit, das einzige Glück auf Erden.“ (Der Morgen des Gutsherrn, entstanden 1852-1856)

Leo N. Tolstoi: Frühe Erzählungen. Der Morgen des Gutsherrn – Luzern – Albert – Drei Tode – Familienglück – Polikuschka – Leinwandmesser. (= Tolstoi-Friedensbibliothek C003). Norderstedt: BoD 2024. Verlags-Leseprobe (ISBN-13: 9783759761286; 368 Seiten; 14,90 €).

 

Die Schule von Jasnaja Poljana: Pädagogische Schriften (1859-1862)

Ein Jahrzehnt nach den frühesten „Sozialplänen“ tritt Leo N. Tolstoi als Anwalt der Freigelassenen (Friedensrichteramt) und Gründer von Reformschulen für die Kinder der besitzlosen Bevölkerung in Erscheinung. Die „Schule von Jasnaja Poljana“ auf dem Landgut des Grafen kann in keiner Darstellung zur Geschichte der Reformpädagogik übergangen werden. Unsere Neuedition der von Otto Buek übersetzten „Pädagogischen Schriften“ (Erstausgabe 1907) enthält u.a. alle Grundtexte zu dem berühmten Schulmodell 1859-1862.

Tolstoi, seit Jugendtagen ein Verehrer von Jean-Jacques Rousseau, lehnte Erziehung als Zwang und Indoktrination ab: „Die einzige Grundlage der Erziehung ist die Erfahrung und ihr einziges Kriterium ist die Freiheit.“ Misstrauen entmutigt uns Menschen und führt zur Starre. Kinder lernen rein gar nichts, wenn sie in regelrechten Verhören examiniert und mit Strafandrohungen eingeschüchtert werden.

Begegnung – statt Reglementierung – und Methodenvielfalt – statt Dogmatismus – sollten in Jasnaja Poljana walten. „Nur die Freiheit seitens der Schüler, zu wählen, was und wie man lernen soll“, kann „eine Grundlage für den Unterricht abgeben“. „Der Lehrer strebt stets unwillkürlich danach, die Methode des Unterrichts zu wählen, die ihm am bequemsten“ erscheint. Indessen ist „nur diejenige Unterrichtsart die richtige, mit der die Schüler zufrieden sind.“

Der Staatsmacht waren das Wunder eines freien Lehrens und Lernens in Jasnaja Poljana sowie die beteiligten Studenten suspekt. Sie ließ 1862 die Räume des Grafen polizeilich durchsuchen und verschaffte sich sogar Zugang zu den persönlichsten Aufzeichnungen. Der Unterricht musste eingestellt werden. Doch Tolstoi versuchte nur ein Jahrzehnt später einen Neuanfang, erarbeitete ein bahnbrechendes „ABC-Buch“ und galt gegen Ende seines Lebens als Pionier einer Pädagogik, die der Herrschaft von Menschen über Menschen nicht dienlich ist.

Leo N. Tolstoi: Pädagogische Schriften. Übersetzungen von Otto Buek. Gesamtausgabe. (= Tolstoi-Friedensbibliothek B016). Norderstedt: BoD 2023. Verlags-Leseprobe (ISBN-13: 9783758311741; 412 Seiten; 16,99 €).

Was sollen wir denn tun? (1882-1886)

Wenige Jahre nach Überwindung einer Lebenskrise und seiner Hinwendung zu „Christi Lehre“ erhält Leo N. Tolstoi als Mitarbeiter der Moskauer Volkszählung Anfang 1882 erschütternde Einblicke in die elende Lage der Besitzlosen. Der begüterte Graf verliert die Illusion, eine karitative Hilfe von oben könne das Geschick der Armen wenden. In seiner Schrift „Was sollen wir denn tun?“ (geschrieben 1882-1886) beleuchtet er im Rahmen eines umfangreichen „Sozialprotokolls“ schonungslos den Widerspruch des eigenen Lebens:

„Ich gehöre der Klasse von Menschen an, welche durch allerlei Kunststücke dem arbeitenden Volk das Notwendigste raubt, und die sich durch solche Kunststücke den nie ausgehenden verzauberten Rubel verschafft haben, der diese Unglücklichen dann wieder verführt. Ich will den Menschen helfen, und daher ist es zu allererst klar, dass ich zunächst einmal die Menschen nicht plündern, sie dann aber auch nicht verführen darf. Statt dessen habe ich mir durch die kompliziertesten, listigsten, bösartigsten, durch Jahrhunderte bewährten Kunstgriffe die Lage des Besitzers des nie ausgehenden Rubels geschaffen, das ist die Lage, bei der ich, ohne dass ich selbst je etwas zu arbeiten brauche, Hunderte, ja Tausende von Menschen zur Arbeit in meinem Dienste zwingen kann, was ich auch tue; und ich bilde mir ein, dass ich die Menschen bemitleide, dass ich ihnen helfen will. Ich sitze einem Menschen auf dem Nacken, habe ihn erdrückt und verlange von ihm, er solle mich tragen. Dabei suche ich alle Menschen und mich selbst davon zu überzeugen, dass ich den Menschen sehr bemitleide, während ich nicht daran denke, abzusteigen; ich behaupte, seine Lage durch alle nur möglichen Mittel erleichtern zu wollen, nur nicht durch das eine, dass ich von seinem Nacken heruntersteige.“

Leo N. Tolstoi: Was sollen wir denn tun? Übersetzt von Carl Ritter, mit einer Einführung von Raphael Löwenfeld. (= Tolstoi-Friedensbibliothek A007). Norderstedt: BoD 2023. Verlags-Leseprobe (ISBN-13: 9783757821432; 340 Seiten; 14,99 €).

Bei den Armen

Tolstois sozialkritische Schriften fanden bald auf dem ganzen Globus den Weg zu einer wachsenden Leserschaft. Das Los der Elenden und ein Leiden am Widerspruch des eigenen Lebens setzten ihn förmlich bis zum letzten Atemzug in Bewegung. Ein Themenband der Tolstoi-Friedensbibliothek mit dem Titel „Bei den Armen“ erschließt noch einmal Schlüsseltexte über die Lebenswirklichkeit der Beherrschten aus den oben genannten Werken, sowie darüber hinausgehend: Zeugnisse zur Organisation von Nahrungsmittelhilfe und Selbsthilfe 1891-1893 (Die Hungersnot in Russland, Bei den Hungernden, Forderungen der Liebe); den Aufsatz „Muss es denn so sein?“ (1900) über ein verdrehtes Christentum im Dienste der Herrschenden als Hauptstütze ungerechter Verhältnisse; Texte aus den Überlieferungen aller Kulturen und Religionen wider die freche Anmaßung der Reichen (Lesezyklus für alle Tage, 1904-1906); drei Sozialprotokolle des Jahres 1909 („Der Fremde und der Bauer“, „Lieder im Dorf“, „Drei Tage auf dem Lande“). – Die Sammlung schließt mit einem Essay von Rosa Luxemburg über den russischen Aristokraten.

Über einen Kreis von fragmentarischen Skizzen aus den letzten Lebensjahren schreibt Eberhard Dieckmann: „Mit der Präzision eines Soziologen gibt Tolstoi hier die Erfahrungen wieder, die er täglich neu gewann und die ihm bestätigten, dass sich seit der Befreiung des Bauern aus der Leibeigenschaft im Jahre 1861 dessen Notlage nicht wesentlich geändert hatte und dass die reaktionären Stolypinischen Reformen nach der Revolution von 1905 die riesige Mehrzahl der Bauern in immer aussichtsloseres Elend stürzten.“ (Tolstoi – Gesammelte Werke, Band 13. Berlin: Rütten & Loening 1973, S. 604).

Leo N. Tolstoi: Bei den Armen. Texte über die Lebenswirklichkeit der Beherrschten. (= Tolstoi-Friedensbibliothek B006). Norderstedt: BoD 2024. Verlags-Leseprobe (ISBN 9783758316487; 416 Seiten; 16,99 €).

Der Roman „Auferstehung“ (1899)

1898/1899 hat Leo N. Tolstoi seinen ein Jahrzehnt zuvor begonnenen – 1897 aber ganz beiseitegelegten – Roman „Auferstehung“ doch noch vollendet. Mit dem Erlös wollte er die christlichen Duchoborzen, die jeglichen Militärdienst verweigerten, bei ihrer Auswanderung unterstützen.

Fürst Nechljudow – Hauptfigur des Romans und zugleich ein literarisches „Alter Ego“ des Dichters – erkennt seine persönliche Schuld am traurigen Schicksal des ehemaligen Dienstmädchens Katjuscha Maslowa aus der Klasse der Ärmsten, empört sich über die staatlichen Gewaltapparate (Justiz im Dienst der Besitzenden) und die Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden der Beherrschten, möchte das Unrecht der bestehenden Eigentumsverhältnisse beenden, überwindet in der Begegnung mit politischen Gefangenen seine pauschalen Vorurteile gegenüber Revolutionären und zeigt Sympathien für einen gewaltfreien Sozialismus:

„Zur vierten Gruppe [der politischen Gefangenen] gehörten Leute, die nur darum zu den Verbrechern gezählt wurden, weil sie sittlich höher standen als das Durchschnittsniveau der Gesellschaft. So die Sektierer, die Polen und Tscherkessen, die sich ihrer Unabhängigkeit wehrten, so die politischen Verbrecher, Sozialisten und Streikende, die wegen Widersetzlichkeit gegen die Behörden verurteilt worden waren. Der Prozentsatz dieser Menschen, der besten der Gesellschaft, war nach Nechljudows Beobachtungen ein sehr hoher.“

Fürst Nechljudow ersehnt – wie der Dichter selbst – ein wahrhaftiges Christsein jenseits der Straf- und Kriegsreligion des klerikalen Machtkomplexes. Weil Tolstoi die Mysterien eines orthodoxen Abendmahlsgottesdienstes nicht im Sinne der kirchlichen Dogmatik vermittelte, wurde der Roman von interessierten Kreisen als Gotteslästerung aufgefasst. Doch die Kritiker nahmen keinen Anstoß daran, dass die der weltlichen Obrigkeit gehorsam ergebenen Kirchenleitungen im wirklichen Leben staatlich durchgeführte Menschentötungen gutheißen und den Regierenden ihren Segen für die üblichen Massenmorde der Militärapparate erteilen.

Eine Bühnenbearbeitung von Tolstois „Auferstehung“ von Armin Petras wurde vor wenigen Jahren am Deutschen Theater Berlin aufgeführt (Premiere am 26. März 2022).

Zu seiner jetzt neu edierten Übersetzung der unzensierten Fassung (1. Auflage) vermerkte Wladimir Czumikow im Jahr 1900: Einige meiner russischen „Landsleute sahen in dem Roman nichts mehr als eine Beschimpfung des russischen Gerichts und Verhöhnung der russischen Kirche und sahen in mir, dem Übersetzer, einen Vaterlandsverräter, der dem irregehenden, senil-verblendeten Autor helfen wolle, das Ansehen Russlands in den Augen des Auslandes zu schädigen … Als wenn es sich in dem Roman überhaupt um russische Zustände handelte, und nicht um menschliche Einrichtungen, denen der Dichter bloß darum ein nationales Gewand umlegt, um ihnen die Greifbarkeit des Konkreten zu verleihen! Und als wenn das Ansehen aller Geheimräte und Bischöfe oder Konsistorialräte der Welt überhaupt irgendwie in Betracht käme oder berücksichtigt werden dürfte, wenn es gilt, so traurige Wahrheiten, so tiefe Schäden der menschlichen und nicht nur allein der russischen Gesellschaft aufzudecken, wie der Roman sie – allerdings schonungslos – aufdeckt!“

Im erzählerische Spätwerk (Tolstoi-Friedensbibliothek C015) hat Tolstoi als Dichter seine vor 1900 begonnenen Betrachtungen zum Spektrum der Revolutionäre fortführt und erweitert – besonders in „Das Göttliche und das Menschliche“ (geschrieben 1903-1906) und „Wer sind die Mörder? Pawel Kudrjasch“ (1908/1909).

Leo N. Tolstoi: Auferstehung (Roman). Nach der ungekürzten Originalausgabe mit Genehmigung des Verfassers übersetzt von Wladimir Czumikow 1899/1900. (= Tolstoi-Friedensbibliothek C013). Norderstedt: BoD 2024. Verlags-Leseprobe (ISBN-13: 9783769311334; 588 Seiten; 19,99 €).

Soziale Sünde und Revolution (1900-1910)

Der jüngste thematische Sammelband „Soziale Sünde und Revolution“, eingeleitet mit einem Vorwort von Gregor Gysi, vereinigt zentrale Texte Tolstois über das Privateigentum, die Versklavung der Arbeitenden, Wege der Befreiung und den Irrweg des Blutvergießens. Frühen Ausführungen zur „Geldtheorie“ (entstanden 1882-1886) folgen Wortmeldungen zur Sozialen Frage und zum politischen Zeitgeschehen aus dem letzten Lebensjahrzehnt des Dichters: Moderne Sklaven (1900); Das einzige Mittel (1901); Der Zar und seine Helfershelfer (1901); An die Arbeiter (1902); Die große soziale Sünde (1905); Das Ende eines Zeitalters: Die bevorstehende Umwälzung (1905); Was tun? (1906); Aufruf an die Russen (1906); Die Bedeutung der russischen Revolution (1906); An den Premierminister P. A. Stolypin (1907); Brief an einen Revolutionär (1909); Über den Sozialismus (Fragment 1910); ausgewählte Aussagen Tolstois über die Beherrschten, die herrschende Klasse, Eigentumsverhältnisse und angestrebte Lösungen nach „Protokollen“ von Alexander Borissowitsch Goldenweiser (Zeitraum 1898-1909).

Der Anhang enthält eine ausführliche Zeittafel, einen Essay von Rosa Luxemburg, eine kommentierte Bibliographie zu den dargebotenen Texten sowie ein Verzeichnis der „Sekundärliteratur zu Leo N. Tolstois Schriften über die soziale Revolution, Sozialismus und Anarchismus“.

Tolstoi, der Unzeitgemäße, setzt nicht auf industriellen Fortschritt, Parlamentarismus, blutige Revolution und eine Umwälzung nur der äußeren Verhältnisse. Sein Ideal bleibt die selbstorganisierte bäuerliche Landgemeinde: das „Dorf“ als Raum eines herrschaftsfreien und gerechten Zusammenlebens, in dem es weder Entfremdung noch himmelschreiendes Elend gibt. Das Glück basiert somit auf einer einfachen, solidarischen Lebensweise – fern der Großstadt und ohne Luxusgüter aus der modernen Massenproduktion. Ein neues Selbstverstehen der Menschen im Einklang mit der Wegweisung einer unverfälschten Religion (Goldene Regel der Gegenseitigkeit, Bewusstsein der „Einen Menschheit“), darin besteht in seinen Augen die notwendige geistige Umwälzung.

Marxistische „Basis-Überbau“-Analysen bleiben Leo Tolstoi der Theorie nach ziemlich fremd. Dem doktrinären Sozialismus wirft er eine anmaßende Wissenschaft der kommenden Ordnung und Staatsgläubigkeit vor. Die Gewalt von Revolutionären bleibe dem nachfolgenden System der Macht stets immanent. Gutes könne nur ein Widerstehen ohne Blutvergießen hervorbringen. (Später wird Ernst Bloch fordern, das Ziel müsse im Weg durchscheinen.)

Der russische Graf propagiert jedoch keineswegs eine rein innerliche „Gesinnungsreform“: Die Beherrschten sollen vielmehr kategorisch alle Polizei- und Militärdienste verweigern, statt mitzuwirken an ihrer eigenen Unterdrückung („Patriotismus“ muss als Herrschaftsinstrument entlarvt werden). Die Zahlung von Steuerabgaben, deren Verwendung im Staats- und Kriegsapparat der Besitzenden man nicht kontrollieren kann, ist unmoralisch. Grund und Boden sind – wie Luft und Wasser – niemandes Besitz, da doch alle von der Erde leben. Auch Fabriken bzw. industrielle Produktionsmittel können in einer lebenswerten Zukunft kein Privateigentum mehr sein. (Ein echtes Verständnis von Arbeiterbewegung und Streik fehlt jedoch.)

Im Vergleich mit der herrschenden Klasse im Zarenreich bescheinigt Tolstoi den revolutionären Kräften – trotz seiner Kritik an deren Konzepten und Kampfmethoden – eine höhere Sittlichkeit bzw. Berechtigung ihres Handelns. So schreibt er 1908: „Ihr, Regierungsmänner, nennt die Taten der Revolutionäre ‚Abscheulichkeiten‘ und ‚große Verbrechen‘, sie aber haben nichts getan und tun nichts dergleichen, was Ihr schon nicht getan habt und in unvergleichlich größerem Maße tut. […] Wenn also ein Unterschied zwischen Euch und ihnen besteht, so ist es nur der, dass Ihr wünschet, dass alles so bleiben soll, wie es war und ist, während sie eine Änderung wünschen. Und wenn man in Betracht zieht, daß alles nicht immer beim alten bleiben kann, wären sie eher im Recht als Ihr“ (Text „Ich kann nicht schweigen“, in: Tolstoi-Friedensbibliothek Band B001).

Gegen die politische Repression und insbesondere gegen die Flut der Hinrichtungen erhebt Tolstoi bis zum letzten Atemzug seine Stimme. Nimmt man überdies eben seine Ablehnung des Privateigentums von Boden und industrieller Produktionsinfrastruktur ins Blickfeld, erscheint die Abgrenzung vom „Sozialismus“ aus heutiger Sicht keineswegs wie eine undurchlässige Mauer.

Wenig bekannt ist eine von Alexander Goldenweiser überlieferte Aussage des russischen Grafen über den Respekt vor Karl Marx: „Die Chinesen nennen unter den Tugenden namentlich eine – die Achtung. Einfach Achtung, ohne Bezug auf irgendetwas Bestimmtes. Achtung gegenüber der Persönlichkeit und Meinung eines jeden Menschen. An dieser chinesischen Tugend lassen es oft ganz hervorragende Menschen ermangeln. So wird zum Beispiel in Henry George’s Buch ‚Fortschritt und Armut‘ der Name Karl Marx kein einziges Mal erwähnt, und in seinem unlängst erschienenen nachgelassenen Werk widmet er Marx kaum acht lumpige Zeilen, wo er von der Nebelhaftigkeit, Verworrenheit und Inhaltlosigkeit seiner Werke redet.“

Tolstois Ansatz bei überkommenen Lebensformen der bäuerlichen Gemeinschaft sollte übrigens nicht voreilig als Ausdruck rückwärtsgewandter „slawophiler Sozialromantik“ abgetan werden. In seinem einleitenden Text zu unserer Edition verweist Gregor Gysi auf Karl Marx, der seinerzeit gegenüber Wera Sassulitsch in Betracht gezogen hat, dass die Dorfgemeinde durchaus ein „Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Russlands“ sein könnte.

Leo N. Tolstoi: Soziale Sünde und Revolution. Texte über die moderne Sklaverei, Wege der Befreiung und den Irrweg des Blutvergießens – Mit einem Vorwort von Gregor Gysi. (= Tolstoi-Friedensbibliothek B007). Norderstedt: BoD 2024. Verlags-Leseprobe (ISBN 978-3-7693-0433-6; 460 Seiten; 17,99 €; Paperback).

 

Einen Gesamtüberblick zu allen bisher erschienenen Bänden (mit freiem Zugang zu den Internetausgaben) und weiterführende Informationen bietet das Portal der Tolstoi-Friedensbibliothek.

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23 Kommentare

  1. Tolstoi ist mit die faszinierendste Person, von der ich je gelesen habe.
    Dabei habe ich von ihm nahezu noch nichts gelesen außer hier bei Overton.
    Er wusste schon damals, dass man Göttlichkeit nicht an Ruhm und Ehre misst, sondern vielmehr an Solidarität und persönlicher Bescheidenheit.
    Er wusste schon damals, dass kein größeres und nachhaltigeres Glücksempfinden möglich ist als das, was sich nach erfolgter maßloser Anstrengung zum Wohl des Mitmenschen einstellen kann.
    Gelebte Solidarität ist der Stoffwechsel der Liebe.
    Letztendlich ist er auch der Vorläufer des größten Erziehers in der Sowjetunion.
    Eigentlich geht es nur darum, sein Werk zu entdecken, wenn man es nicht bereits im Herzen trägt.

    1. Vielleicht solltest du es mal selber lesen, und dann drüber NACHDENKEN ! Der Mann hat gute Bücher geschriebenen, aber sonst nur geschwafelt, er hat NICHTS geändert, Es gibt NICHTS das er zu unseren heutigen Problemen beitragen kann! Nur ebensolche Gut-Menschen wie er, können Tolstoi, ausser zur Lese-Unterhaltung, Bedeutung beimessen!

      1. Er hat eben nicht nur Bücher geschrieben.
        Und Sie herzloses Leichtgewicht mit der Knabenerfahrung: Was können Sie noch, außer destruktiv zu stänkern.
        Man sollte einen Text schon verstanden haben, wenn man sich nicht jenseits aller Logik zu äußern gedenkt.

          1. Da haben sie Recht, ich bin a-sozial, im wahrsten Sinne des Wortes.
            Denken sie mal drüber nach was das eigentlich bedeutet… ich habe mit dem was man Massenmenschen, Urnenpöbel, oder gar rechte und linke Spiesser nennt, nichts zu tun. “Eure” Gesellschaft kotzt mich an… Konsum, Habgier und Dummheit und Erlösungs Fantasien durch die eine Witzblatt Ideologie oder eine andere…

            was Tolstoi angeht, von dem ihr offensichtlich keine Ahnung habt, aber wie alle Idioten selbstverständlich wie immer: eine Meinung, so hat dieser Graf NIEMALS seine eigenen Sklaven befreit, auch er hat gewartet bis die russische Regierung das 1861 (glaube ich) durch Gesetz getan hat!

  2. “Das Los der Elenden und ein Leiden am Widerspruch des eigenen Lebens setzten ihn förmlich bis zum letzten Atemzug in Bewegung. ”

    Ach ja? Und? Was er erreicht?

    1. (Die Korrektur Funktion geht mal wieder nicht)

      Gut-Menschen aller Zeiten sitzen seit fast 200 Jahren in ihren Sesseln und schlagen sich, Tolstoi lesend und mea culpy denkend auf die eigen Brust. Dazu einen 2003er Chateau Latour schlürfend….

      Tolstoi, ein typischer christlicher Schwätzer

      1. Ein typischer christlicher Schwätzer, der große Probleme mit der Amtskirche hatte?
        Weil bei Michel E. ein Reflex aktiviert wird wie ein rotes Tuch bei einem Stier, sieht es bei Differentierungen sehr mau aus.
        Für Ghandi war Tolstoi die entscheidende Inspiration.

        1. Weisst du Luck, du bist schon ein rechter Witz. Schreibst zwar immerhin ehrlicherweise, dass du ausser diesem EINEN Artikel nichts von Tolstoi weisst, findets ihn aber toll! Du bist der Prototyp eines Grünen Wählers… bei denen reicht es auch nicht weiter.
          Gandhi war ein erbärmlicher Spiessbürger, der seinen Indern zB vorgeschrieben hat, sie müssten sich von Mosquitos beissen lassen und dürfen diese nicht erschlagen. Denkt da mal dran, wenn der klima-gewandelte Sommer kommt und die Tiger Moskitos euch beim Baden stechen. Immer dran denken euer Idol sagt “nicht erschlagen”. Am Abend könnt ihr mir dann ja berichten wie es um euren inneren Gandhi steht.
          Seine Mitwirkung an der Teilung des britischen Kolonialreiches war ein grosser Teil der Ursache für die 1 Million Toten die dabei masskriert worden sind.

          Denkende Leute sehen eigentlich alle sehr schnell ein, wem die Ächtung von politischer Gewalt immer schon am meisten, und wem sie nicht das Geringste nützt.

          Wie immer bei euch jede Meinungen, aber keine Ahnung.. von nichts…

          1. Hier auf Overton gab es schon wesentlich mehr Artikel zu Tolstoi aks diesen einen.
            Die Wendung von Tolstoi vollzog sich wesentlich erst nach der Bauernbefreiung.
            Grün habe ich noch nie gewählt und zum Baden in aller Regel keine Zeit.
            Wer glaubt, dass ich Gewalt grundsätzlich abgeneigt wäre, weil ich Tolstoi schätze, irrt sich gewaltig…

    2. Die “Auferstehung” ist z.B. von 1899. Es ist eine leidenschaftliche Anklage gegen das zaristische System. Er basiert auf einem realen Fall und Tolstoi hat 10 Jahre an dem Roman gearbeitet, und auch zu Recherchezwecken russische Gefängnisse besucht.

      Die Beschreibungen der Leibeigenschaft und des damaligen zaristischen Unrechtssystems und einem Fürsten der einer zu Unrecht verurteilten Tochter einer Leibeigenen selbst nach Sibirien folgt – all das hatte Folgen, da der Roman zeitgleich in vielen Sprachen erschienen ist Das Machtgefüge war bereits am wackeln und der Roman trug weiter dazu bei. Auch heute noch hat er eine große Bedeutung.

      Die Lektüre von „Auferstehung“ ist durch ihre radikale Infragestellung der herrschenden Ordnung, mit der letztlich die gesamte materialistische Zivilisation der Moderne gemeint ist, und den Appell an jeden, sein Leben zu ändern, auch noch für den heutigen Leser eine enorme Herausforderung. Es ist lohnend, sich dieser zu stellen!
      https://www.deutschlandfunk.de/tolstois-auferstehung-radikale-infragestellung-der-100.html

      Es dauerte vom Erscheinen des Romans bis zur Februarrevolution nur noch sechs Jahre. (1905).
      Und weitere 12 Jahre bis zum Revolutionsjahr 1917. Doch das sollte Tolstoi nicht mehr erleben er ist bereits 1910 gestorben.

  3. Tolstoj hat mich mein Leben lang begleitet. Schon in seinen frühen belletristischen Werken (man braucht nur die Erzählung “Luzern” lesen um ihn kennen zu lernen) ist der Tolstoj zu finden, den seine sozialkritischen und religiösen Werke zeigen, die jetzt in der Tolstoj Friedensbibliothek wieder zugänglich gemacht werden. Vor sechzig Jahren musste man sich diese mühsam antiquarisch beschaffen. Aktuell sollten die drei Sewastopoler Erzählungen gelesen werden, wer dann noch Lust auf “Waffen, Waffen, Waffen” hat, dem ist nicht zu helfen. Mein Dank geht an die Herausgeber der Tolstoj Friedensbibliothek, die in diesen Zeiten, in der die Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt in Gefahr ist, dass Werk dieses großen Russen einem breiten Publikum zugänglich machen und dadurch dokumentieren, dass die Kulturnation Russland ein Teil unseres Europa war ist und bleibt.

  4. Wie könnte und würde die Welt wohl aussehen, wenn Leute wie er nicht – und ich wähle meine Worte mit Bedacht – gewirkt hätten? Das können sich Schlecht-Redner wie Sie offensichtlich nie so recht vorstellen, abgesehen davon, dass es wieder nur reines Schwarz-Weiß-Denken ist.

  5. Um nicht nur in der Historie zu bleiben, möchte ich hier auf die zeitgenössische Leibeigenschaft in Form der ständigen Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse hinweisen und die Notwendigkeit, dagegen Konzepte zu entwickeln und Maßnahmen einzuleiten. Die Arbeitswelt könnte ganz anders aussehen, wenn sich zum Beispiel das folgende, weitgehend durchgerechnete Modell durchsetzen würde:
    https://www.mein-grundeinkommen.de/

    1. Ein “Grundeinkommen”, führt uns nicht zur Selbstbestimmung, sondern ist schon rein von der Intention der herrschenden Klasse her, eher ein Sklavenlohn.

      1. @Panicman: Das ist falsch. Ein Grundeinkommen gibt finanzielle Sicherheit und einen größeren Verhandlungsspielraum, womit sich Arbeitsverhältnisse deutlich positiver für die abhängig Beschäftigten gestalten lassen. Genau deshalb ist die herrschende Klasse auch größtenteils gegen Grundeinkommen welcher Art auch immer (denn es gibt ja verschiedene Modelle).

  6. Mich hat Tolstoi ebenfalls die gesamte Jugend und Teile des Erwachsenenlebens begleitet. Vor kurzem habe ich wieder Krieg und Frieden gelesen. Dort beschreibt er sehr detailliert die Mechanismen des Krieges, die man in Teilen durchaus auf heutige Kriege übertragen kann.
    Allerdings fand ich seinen naiv anmutenden christlichen Impetus immer auch befremdlich.

  7. Tolstoi war für mich der Grund, den Versuch ztu unternehmen, Russisch (zumindest lesend) zu lernen…
    Zugegebenermaßen bin ich daran gescheitert…
    Div. Russen meinten, auf russisch würde sich Tolstaoi viel flüssiger lesen lassen als in der deutschen Übersetzung…

    Aber ein sehr wichtiger Autor und danke an Overton/P. Bürger, Tolstoi mal wieder zu erähnen in Zeiten, in denen alles Russische verpönt, verboten und gecancelt wird, selbst, wenn es Text, Autoren, Lieder, … sind, die ca. 1 Jahrhundert vor der aktuellen Situation entstanden sind.
    (Es wurden sogar Dvořák-Konzerte abgesagt, weil “russisch”, dabei war der Mann Tscheche…)

    1. @kopf-schmerz
      Eine beiläufige Anmerkung zu Übersetzungen. Fussend auf meinen Überlegungen als Vielleser. Es scheint, allgemein gesprochen, nicht allzuviele gute Übersetzer zu geben. Die besten und vermutlich auch eher leichteren Übersetzungen sind für mich die aus dem skandinavischen und dem anglo-britischen Raum. Je exotischer und fremder, im Vergleich zum Deutschen, eine Fremdsprache ist, desto schwieriger wird es. Dazu kommt die Anforderung ob entweder buchstabengetreu oder mehr als Interpretation übersetzt werden darf und soll. Was natürlich noch die Befähigung des Übersetzers/Lektors als Schriftsteller verlangt. Selbst das Geschlecht und der Sprachduktus des Übersetzers kann eine Rolle spielen. Alles nicht so ganz einfach.

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