
Donna Fauna denkt über die Ereignisse vor der Katastrophe nach. Attentat oder ein Unglück? Welche Anhaltspunkte gab es, diese oder jene Theorie zu erhärten?
KQs Verschwörungstrip in den letzten Monaten vor dessen Tod war Fauna gewaltig auf den Senkel gegangen. Sie hatte eine scharf ablehnende Position eingenommen, denn sie hatte gespürt, dass der politisch wenig geschulte Kanarienquex auf dem besten Weg war, sich durch die Übernahme noch der groteskesten Behauptungen, die das Internet hergab, zum Larry zu machen. Vor allen Dingen hatte sie Gefahr gewittert. Bittertraurig gedachte sie jetzt ihrer Warnungen und hatte das Quexlachen vor Augen, wie er ihre Angst als unbegründet abgetan hatte.
Nichtsdestotrotz war sie von sich selbst überrascht. Denn sie vermochte sich Lolas Überzeugung von einem Geheimdienstmord nicht ohne Weiteres anzuschließen.
In den zwei Jahrzehnten zuvor war es zuverlässig Donna Fauna gewesen, die sich als Erste und ohne Umstände zur Anhängerin der radikalst-denkbaren Erklärung strittiger Ereignisse gemacht hatte. Wer immer eine Aktion von Geheimdiensten für möglich gehalten hatte, um ein historisches Ereignis zu erklären, hatte auf Faunas Unterstützung rechnen können.
Speziell was die Kategorie »Historisch bedeutende Todesfälle unter ungeklärten Umständen« anbetraf, vertrat Fauna – von König Ludwig über Kennedy bis Lady Diana – durchgängig eine bis zur Ausgelassenheit klare Haltung. Ungeklärt? Von wegen! Das waren allesamt Geheimdienstmorde gewesen!
Einzeltätertheorien lehnte Fauna kategorisch ab. Die verrückten Mörder von Bobby Kennedy und John Lennon beispielsweise hielt Fauna für mandschurische Kandidaten, für Produkte des Programms »MKUltra«, welches die CIA in den Fünfzigerjahren gestartet hatte, um Methoden der Bewusstseinskontrolle zu entwickeln.
Es gab sogar Mordtheorien, die Donna Fauna ganz für sich alleine unterhielt und von denen sie dennoch restlos überzeugt war. So schrieb sie den vermeintlichen Herzinfarkt des FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher 2014 BND oder Verfassungsschutz zu.
Lediglich beim jähen Unfalltod Jörg Haiders 2008 sorgte die Freude über dessen Ableben und bei Jürgen Möllemanns Sprung in den Tod 2003 das Desinteresse an dessen missratener Person dafür, dass Fauna sich ausnahmehalber einer Wertung enthielt.
Generell war Fauna immer dafür, einen Mord anzunehmen, wo ein angeblicher Selbstmord oder Unfall relevante Player zur Unzeit vom Spielfeld pflückte.
Dafür, nun auch die Katastrophe am Platkowsee in diese Reihe einzufügen, sprach einiges.
Fauna befiel bei dem Gedanken an Tädeus von Tadelshofen auch posthum ein ungutes Gefühl. Dass dessen öffentlicher Widerstand gegen die Interventionskriege seit 1999 ihn zu einer unliebsamen Figur gemacht hatte, konnte sie sich dennoch lebhaft vorstellen. Die Vernetzung aufgrund seiner bundespolitischen Vergangenheit hatte Tadelshofen weiterhin eine gewisse Artikulationsmöglichkeit gesichert, und die hatte er weidlich genutzt, um gegen die Außenpolitik der Bundesrepublik Front zu machen. Der Mann hatte sich alle Mühe gegeben, den imperialen Betrieb zu stören, so viel stand fest.
Von einem Attentat auszugehen, hätte Fauna vermutlich auch geholfen, den Tod ihres geliebten KQ etwas besser zu verkraften. In ihrer verqueren, durchpolitisierten Denkweise war ein Kanarienquex, der Opfer eines Geheimdienstattentats geworden war, nämlich wesentlich besser zu verarbeiten als einer, der bei einem idiotischen Unfall mit einem noch idiotischeren Heißluftballon sinnlos zu Tode gekommen war.
Wie sie aus der Lektüre von gut und gerne hundert Texten und ungezählten YouTube-Videos wusste, gab es dazu eine Menge Merkwürdigkeiten rund um den Platkowsee, Widersprüche in der offiziellen Darstellung und ernstzunehmende Hinweise auf Fremdeinwirkung.
Trotz all dem konnte Fauna sich nicht dazu durchringen, der Mordtheorie in diesem Fall den Zuschlag zu geben. Denn sie schleppte ein Wissen mit sich herum, das sie bisher mit niemandem geteilt hatte.
Die letzte Nacht auf Schloss Montgolfière war nicht das satanische Blutritual gewesen, das einige Blogger herbeihalluzinierten. Der weitere Verlauf dieses unglückseligen Zusammentreffens war aber auch nicht so harmlos gewesen, wie etwa Irinäus sich das vorzustellen beliebte. Geknatterter Wein und erlesene Alkohölchen? Sicherlich.
Fauna wusste allerdings, dass der Kanarienquex neben seinen üblichen weißen Pülverchen mindestens auch LSD mitgebracht hatte. Er hatte ihr davon angeboten.
Entschlossen, auf dem Schloss des ihr suspekten Freiherrn auf der Hut zu bleiben, hatte Fauna abgelehnt. Dass KQ selber im weiteren Verlauf der Nacht oder aber am kommenden Morgen getrippt hatte, erschien ihr als nahezu sicher. So gut kannte sie ihren Quex.
Hinzu kam der plötzliche Stimmungsumschwung des Freiherrn, nachdem dieser von der Nachricht des Pariser Attentats zunächst so schwer mitgenommen gewesen war. Diesem älteren Tadelshofen traute Fauna zu, eine gut bestückte chemische Hausapotheke auf seinem Schloss zu führen. Der hatte etwas Verruchtes an sich gehabt, das hatte Fauna gewittert: Der war ein Giftler!
Und Pavel Berger-Grün? Der war ein Kind der Sechzigerjahre.
Und Jonathan Rischke? Der war … Jonathan Rischke!
Hätte KQ, so überlegte Fauna, am darauffolgenden Morgen die Idee aufgebracht, dass so eine Ballonfahrt doch wesentlich gewönne, wenn man zusätzlich die Traummaschine anwerfe: Wer würde dieser Idee widersprochen haben?
Der spanische Yoga-Yuppie eventuell, dieser Pedrillo Caldez, der ebenfalls unter den Opfern war. Fauna konnte sich bildlich vorstellen, wie der die Einnahme von LSD abgelehnt hatte mit dem Hinweis, die Fahrt durch die Lüfte am intensivsten erleben zu können, wenn er sich nur auf das bewusste Atmen der Yogis verlasse. Ob dieser Pedrillo einem solchen Vorschlag aber vehement genug entgegengetreten sein würde, um auch die anderen von der Einnahme der Substanz abzuhalten, wagte Donna Fauna zu bezweifeln.
Ihr war bewusst, dass die Indizien für einen LSD-Trip der späteren Toten von außen besehen ziemlich dürftig waren. Sie bestanden nur darin, dass KQ die Substanz definitiv dabeigehabt hatte, und zwar in ausreichender Menge für mehrere Personen. Und eben darin, dass KQ typischerweise einen Versuch unternommen haben würde, die anderen zu einem Trip einzuladen – und eine Mehrheit oder alle der Anwesenden dem vermutlich zugestimmt haben würden.
Reine Spekulation, also! Zudem hätte die kriminaltechnische Untersuchung das doch herausfinden müssen. Dass KQs LSD eingenommen worden war, stand für Fauna trotzdem fest. Zudem war denkbar, dass noch zusätzliche Substanzen Verwendung gefunden hatten.
Zweifelhaft war ihr lediglich der exakte Zeitpunkt der Einnahme.
Fauna selbst war nämlich gegen 01:30 Uhr mit Irinäus in dessen Schlossappartement abgezogen. Es konnte demnach sein, dass die Gruppe – mit oder ohne Pedrillo Caldez – bereits in der Nacht auf die andere Seite der Wirklichkeit gewechselt war.
Friedhelm Persch alias Neolin 2 spielte seine alte Rolle. Als ehemaliger Hausschamane von Shivas Paradize übernahm er es als seine selbstverständliche Pflicht, Donna Fauna seelsorgerisch zur Seite zu stehen.
Er ging dabei höchst trickreich vor, etwa indem er Fauna heimlich Rosenblüten auf den Weg streute, als sie ziellos durch den Prenzlauer Berg wanderte. Er lauerte Fauna regelrecht auf und stellte ihr Fallen, um sie jäh in Momente des Glücks stürzen zu lassen. Dabei ließ er sich immer Neues einfallen.
Einmal malte er mit Kreide glücksbringende Symbole in Faunas Hauseingang. Dann stellte er des Nachts ein Soundsystem unter ihrem Balkon auf und spielte in voller Lautstärke »I’ll be home« ab, in der Version von Georgette Dee, die Fauna sehr liebte. Bis Fauna nachschauen konnte, wer das gewesen war, war Neolin schon entschwunden.
Der alte Fuchs versuchte durch diese Aktionen nicht nur, Fauna aus ihrem Trauma zu helfen, sondern auch, seinen eigenen Schmerz zu verarbeiten. KQ und Jonathan hatten zu seinen ältesten Freunden gezählt und wie alle, die sich aus der Zeit in Shivas Paradize kannten, hatten sie sich immer gefühlt wie Mitglieder eines Stamms.
So tat Neolin auch sein Möglichstes für das Seelenheil der Verstorbenen. Abend für Abend führte er zur untergehenden Sonne ein kompliziertes Ritual aus. Mit allerhand Räucherwerk, Glocken und Mantras beschwor er Shambo, die gnadenvolle Form Shivas, sich dem Karma der Dahingegangenen anzunehmen.
Er betrieb das mit unerhörter Disziplin, pünktlich und ausnahmslos jeden Abend, seit nunmehr eineinhalb Jahren. Er war annähernd besessen von dieser Zeremonie. Er fieberte den ganzen Tag über darauf hin.
Neolin 2 jagte auf diese eigenwillige Weise ebenfalls der Erkenntnis nach, was eigentlich am Platkowsee geschehen war. Und ein Verdacht, zu dem er durch das Ritual gekommen war, ließ und ließ ihn nicht los, verfestigte sich und wurde bald zu seiner Überzeugung: Die Toten lebten noch!
Fauna hatte, als er sie mit dieser These konfrontiert hatte, stinkwütend reagiert. Als Neolin 2 noch damit ankam, es habe sich bei Pavel Berger-Grün um niemand anderen gehandelt als um jenen ominösen »Schweizer«, wenngleich eventuell in einer anderen Körperlichkeit manifestiert, hatte sie ihn hochkant aus der Wohnung geschmissen.
Fauna fand das abgeschmackt, peinlich, pietätlos, hirnlos, hemmungslos verschroben, anmaßend und, wenn sie alles zusammenfasste, einfach nur idiotisch. Vollidiotisch sogar! Sie hielt Neolin 2 zugute, an seinem eigenen Schmerz irre geworden und zu dieser geschmacklosen Albernheit getrieben worden zu sein. Aber so viel Realitätsverleugnung war mehr, als sie ertragen konnte.
Dass Neolin 2 der heimliche Wohltäter in ihrem Leben war, der sie mit zahllosen Freuden beschenkte, war Fauna nicht bewusst.
Immer bewusster wurde ihr dagegen, zu welcher These vom Tathergang sie selbst tendierte. Es war weder die im digitalen Raum populäre Theorie von einem Attentat noch die eines »normalen« technischen Defekts mit Selbstentzündung, in der offiziellen Variante. Schon gar nicht war es Neolins saudummes Fantasma, wonach alle noch am Leben waren.
Fauna tendierte eher dahin, dass die Katastrophe etwas mit diesem geheimnissvollen Tesla-Toaster zu tun hatte – oder allgemeiner mit der Begeisterung des Schlossherrn und Ballonpiloten für »alternative« technische Experimente.
Nur wenige Bloggern forschten und spekulierten in diese Richtung und wurden dafür von der Mehrheit der anderen Aktiven in dieser speziellen Online-Community als gekaufte Systemlinge attackiert, die darauf angesetzt wären, den tatsächlichen Hergang zu verschleiern.
Dem konnte so sein. Eine nächtliche Beobachtung, die Fauna auf Schloss Montgolfière gemacht hatte, ließ sie anders darüber denken.
Irinäus von Tadelshofen verbrachte bereits die zweite Woche auf Schloss Montgolfière und arbeitete sich mit dem Eifer eines Investigativ-Journalisten durch die Unterlagen seines verstorbenen Bruders. Er wühlte sich zunächst durch Aktenordner und handschriftliche Aufzeichnungen.
Als er sich den Festplatten des Bruders widmen wollte, bestand die erste Entdeckung darin, dass diese Hinterlassenschaft des Tädeus in weiten Teilen verschlüsselt war, und wie sich herausstellte, auf höchstem technischen Niveau.
Irinäus war mit den gängigen Verschlüsselungsprogrammen halbwegs vertraut. Er verfügte über den digitalen Schlüsselbund seines Bruders, den selbiger nebst Testament und anderen Unterlagen bei einem Notar für ihn hinterlegt hatte. Dass er dennoch einen Bekannten aus dem Chaos Computer Club kommen lassen musste, der dann geschlagene drei Tage brauchte, um die Korrespondenz seines Bruders zu dechiffrieren, hinterließ Irinäus von Tadelshofen ratlos.
Welche Gründe konnte sein Bruder gehabt haben, seine schriftliche Hinterlassenschaft mit solchen Verteidigungsanlagen zu umgeben? Irinäus wähnte sich auf einer Spur, die Sensationelles zutage fördern würde.
Was er anschließend zu lesen bekam, erfüllte die Erwartungen, die durch die Geheimhaltungspolitik des Bruders geweckt worden waren, mitnichten. Ja, da gab es eine durchaus als strategisch zu bezeichnende Korrespondenz mit führenden Vertretern der alten und neuen Friedensbewegung. Es gab wenig erfolgreiche Versuche von Tädeus, B- und C-Promis aus seiner Bonner Zeit für den Widerstand gegen die Kriegspolitik zu gewinnen. Es gab ein halbfertiges Manuskript für ein neues Buch und einige Entwürfe für Artikel. Aber es fand sich nichts Überraschendes und es fanden sich schon gar keine Anhaltspunkte, die bezüglich eines möglichen Attentats Aufschluss gegeben hätten.
Warum verschlüsselte jemand mit diesem Aufwand alle seine Festplatten, wenn er nichts schrieb und betrieb, das der interessierten Öffentlichkeit nicht bereits mehr oder weniger bekannt war?
Irinäus ließ erneut den CCC-Experten anrücken, um herauszufinden, ob die Festplatten manipuliert und Löschungen vorgenommen worden waren. Der konnte in den Changelogs keine Hinweise auf nachträgliche Eingriffe finden.
Irinäus blieb eine weitere Woche auf Schloss Montgolfière und pflügte dabei durch ungeheure Textmengen. Der Erkenntnisgewinn blieb bescheiden.
In der merkwürdigen Nacht vor der Katastrophe am Platkowsee war Fauna noch einmal aus jenem Bett mit den wundervollen Schnitzereien gekrochen, in welchem sie sich zuvor mit Tadelshofen dem Jüngeren vergnügt hatte. Sie hatte sich angezogen, eine Decke übergeworfen und war so hinausgeschlichen, in den eiskalten Schlossflur. Draußen war noch immer ein wildes Schneetreiben am Toben gewesen. Von der Taschenlampe ihres Handys geführt und von der Neugier geleitet, war sie ein wenig durch das stille Schloss geschlendert.
Wenig später hatte sie vermeint, gedämpfte Stimmen zu hören, aber nicht entscheiden können, ob die von innerhalb des Gebäudes kamen oder von draußen. Sie war zur gewaltigen Treppe des Mittelbaus gelangt, die von der Eingangshalle nach oben führte. Die Stimmen schienen von ganz oben zu kommen – und dort hatte Fauna die Tür nach draußen, auf die kreisrunde Dachterrasse des großen Turms, einen spaltweit geöffnet gefunden.
Als sie hinausgelugt hatte, hatte sie drei Männer gesehen – Tädeus von Tadelshofen, KQ und Jonathan Rischke –, die im stürmischen Schneetreiben um jenes kreisrunde Loch herumstanden, das angeblich einst von Rochus von Tadelshofen als Startblock für Ballonstarts an dieser Stelle eingefügt worden war. Die schwere Holzplatte hatten die drei wohl heruntergenommen und Fauna hatte nur Satzfetzen gehört, die von Wettermanipulation, Orgon-Energie und immer wieder von diesem Viktor Schauberger gehandelt hatten. Aus der kreisrunden Tiefe, die die drei Männer diskutierend umstanden, war ein gurgelndes Geräusch von Wasser nach oben gedrungen und Fauna hatte sofort an die spiralförmigen Einlassungen, die KQ am Boden des Kreislochs entdeckt gehabt hatte, gedacht.
Diese Schwachköpfe glaubten scheint’s wirklich, mit dieser Vorrichtung das Wetter beeinflussen zu können. Fauna war nur kopfschüttelnd dagestanden, hatte dann abgewinkt und war zurück ins warme Bett zu Irinäus gekrochen.
Am nächsten Morgen waren die beiden von strahlendem Sonnenschein geweckt worden.
Physik-Monitor, 29. Mai 2015
Implosionsmotoren und Feuerbälle
Der Absturz eines Heißluftballons am Platkowsee mit so prominenten Insassen wie Pavel Berger-Grün und Tädeus von Tadelshofen erhitzt noch immer die Gemüter der Onlinewelt. Auf die Gefahr hin, den zumeist recht abenteuerlichen Theorien rund um das tragische Ereignis lediglich eine weitere, womöglich ebenso abseitige Hypothese beizufügen, dokumentieren wir im Folgenden eine persönliche Erklärung von Prof. Dr. Franz Josef Stockhausen-Werlè, Professor Emeritus für angewandte Physik an der Berliner Humboldt-Universität.
Ich erkläre hiermit, dass ich den Freiherrn von Tadelshofen persönlich gekannt habe. Unsere gemeinsame Mitgliedschaft in einem Brandenburger Country Club ließ uns in unregelmäßigen Abständen zusammentreffen.
Dem großen Interesse des Freiherrn an meinem Fachbereich war es geschuldet, dass wir gelegentlich ausgiebige Diskussionen miteinander geführt haben. Diese Gespräche nahmen bald den Charakter liebenswert-schrulliger »Streitgespräche« mit hohem Unterhaltungswert an, denn der Freiherr entpuppte sich als Anhänger gewisser Theorien, die ich aus physikalischer Sicht wieder und wieder zurückweisen musste.
Konkret ging es dabei um die Möglichkeit der Wettermanipulation, aber auch um die Existenz sogenannter »freier Energie«. Von Tadelshofen war ein begeisterter Anhänger diesbezüglicher Forschungen von Wilhelm Reich, Nikola Tesla und Viktor Schauberger. Speziell der von Viktor Schauberger entwickelte »Implosionsmotor« (auch »Repulsine«, »Repulsator« oder »Forellenantrieb«) hatte es dem Freiherrn angetan.
Aus seinen Erzählungen weiß ich, dass Tädeus von Tadelshofen auf seinem Landsitz Schloss Montgolfière mit der Weiterentwicklung solcher Antriebsmöglichkeiten experimentiert und von ihrer möglichen Anwendbarkeit für die Luftschifffahrt geträumt hat. Er lud mich wiederholt zu einem Besuch ein, um seine »kleine, teuflische Werkstatt«, wie er sich ausdrückte, in Augenschein zu nehmen. Einmal brachte er sogar Konstruktionspläne eines von ihm selbst entwickelten »Implosionsmotors neuen Typs« mit, aus denen ich jedoch, wie ich zugeben muss, nicht recht schlau zu werden vermochte.
Auf die naturwissenschaftliche Darstellung, warum eine »freie« Energiegewinnung dem Energieerhaltungssatz widerspricht, möchte ich an dieser Stelle verzichten. Ich verweise auf einschlägige Fachartikel (Lenzer, 1998; Richter und Schaub, 2003; Olbert, 2013).
Zeitgenössische Berichte aus unterschiedlichen Quellen wie dem Firmenarchiv der Siemens AG oder der Reichskanzlei Adolf Hitlers belegen zudem, dass Experimente Schaubergers mit Kühlsystemen für die von ihm entwickelten Flugzeugmotoren wiederholt zu unkontrollierten Energieentladungen und zur Selbstzerstörung der Versuchsanordnung geführt haben.
[…]
Schon die Ankündigung, Lola Mercedes werde ihr Schweigen demnächst brechen und eine ausführliche Serie zum Thema starten, versetzte die Blase der hartnäckig interessierten Netzgemeinde in einen Zustand regelrechter Hysterie.
Lola Mercedes und Germaine Gamma hatten sich ankündigungsgemäß an der Mordtheorie festgebissen. Die beiden ersten Folgen: »Mord am Platkowsee (1): Zwei Zeugen und der BND« sowie »Mord am Platkowsee (2): Die Auftraggeber des Professors«, erreichten jeweils Klickzahlen oberhalb einer Viertelmillion. Die Kommentare gingen in die Tausende.
Im ersten Schritt hatten Lola und Germaine die Glaubwürdigkeit der offiziellen Erklärung der Katastrophe attackiert.
Zwei jener Zeugen, deren Beobachtungen die »Kamintheorie« samt »Selbstentzündung« stützten, unterhielten demnach Verbindungen zum Bundesnachrichtendienst. Germaine Gamma hatte dafür einige Hinweise gesammelt. Ein dritter Zeuge sei ein Polizist gewesen, der in seiner Freizeit eine Fahrradtour unternommen haben und dabei zufällig Zeug des Unglücks geworden sein wollte. Die Anwesenheit dieses Trios am Tatort als Radfahrer respektive Spaziergänger mochten wohl nur sehr schlichte Gemüter für einen Zufall halten, befand Lola Mercedes.
Auch diesen Prof. Dr. Franz Josef Stockhausen-Werlè, dessen »persönliche Erklärung« eine ganze Kaskade ablehnender und zustimmender Texte nach sich gezogen hatte und der mit seinen Behauptungen wichtigtuerisch durch Talkshows und Radiosender getingelt war, hatte Germaine Gamma unter die Lupe genommen.
Der Herr Professor schien sich seine Bezüge mit der Abfassung von Gefälligkeitsgutachten und Auftragsartikeln für Großkonzerne aufzubessern. Dabei legte er die Grenzen seines Fachgebiets großzügig aus. Einmal erklärte er die völlige Unbedenklichkeit von Handystrahlen. In der Zeit zeichnete er für einen Artikel verantwortlich, der wissen wollte, dass Überlandstromleitungen unter Naturschutzgesichtspunkten sogar sehr vorteilhaft seien, da eine große Vielfalt von Tieren im Buschwerk unterhalb der Trassen ein Refugium finde. Auch als Gegner der Windkraft und Skeptiker von Elektroautos hatte er sich wiederholt zu Wort gemeldet.
Kurz: Dieser Stockhausen-Werlè mochte Professor der Physik sein, wie er wollte. Nach Lolas Dafürhalten war er ein Mietmaul schlimmster Sorte. Die »persönliche Erklärung« des Professors war folglich ein durchschaubares Ablenkungsmanöver interessierter Kreise.
Donna Fauna war da erneut nicht so sicher.
Was den Hergang der Katastrophe betraf, hatte sich in Faunas Köpfchen in der Zwischenzeit folgendes Szenario zusammengefügt:
– Die vier späteren Opfer des Unglücks, und eventuell auch Pedrillo Caldez, waren durch KQs LSD und womöglich durch Kokain des Schlossherrn in eine fantastische und übermütige Stimmung versetzt worden.
Der vermeintliche Triumph des Schlossherrn bei der nächtlichen Beeinflussung des Wetters steigerte dessen Autorität in technischen Fragen unermesslich und fegte alle Bedenken beiseite.
Die Demonstration eines neuen, von Tädeus von Tadelshofen selbst entworfenen Antriebssystems führte schließlich zum Desaster.
Leider sorgte Donna Faunas völliges Unwissen über naturwissenschaftliche Grundzusammenhänge dafür, dass sie nicht imstande war, die Wahrscheinlichkeit ihrer Hypothese von der technischen Seite her zu beurteilen. Sie hatte versucht, einige Fachartikel rund um Tesla, Schauberger, Repulsatoren und Freie Energie zu lesen. Die alte Blockade gegen Naturwissenschaften jeglicher Art setzte diesen Lektüreversuchen ein schnelles Ende.
Was ihr allerdings aufstieß, waren die Verbindungen Viktor Schaubergers zum Nationalsozialismus, seine Bemühungen um eine faschistische Wunderwaffe in den letzten Kriegsjahren. Fauna suchte weiter und stieß auf ein ganzes Literaturgenre, das sich mit angeblich neuartigen Antriebssystemen und Flugobjekten der Nazis beschäftigte, mit den sogenannten »Reichsflugscheiben«. Als Fauna auf Texte stieß, die von der Evakuierung der Naziführung mittels solcher Flugscheiben und einer geheimen Raumstation auf der hinteren Mondseite berichteten, schrie sie auf vor Wut über so viel Einfältigkeit. Nicht zu verkennen war jedoch, wie braun das Süppchen war, welches durch diese Science-Fiction für NS-Romantiker zum Kochen gebracht wurde.
Für Fauna stellte sich damit einmal mehr die Frage nach der politischen Verortung des verstorbenen Freiherrn.
Neolin 2 machte zeitgleich immense Fortschritte bei seinem allabendlichen Ritual zugunsten der Toten vom Platkowsee. Es war ihm gelungen, einen direkten Kontakt zum Kanarienquex herzustellen. Der teilte mit, noch am Leben zu sein. Auch von Jonathan glaubte Neolin Zeichen irdischer Präsenz erhalten zu haben.
Als der Shiva-Schamane diese Neuigkeiten aufgeregt Fauna erzählte, teilte die ihm kühl mit, Verständnis für den unerträglichen Schmerz zu haben, den der Verlust der Freunde ihm bereite. Er sei aber nunmehr auf dem Weg, komplett und irreversibel verrückt zu werden. Er könne sich gerne wieder melden, sobald er von diesem Trip heruntergekommen sei. Bis dahin: kein Wort mehr!
Neolin war über diese Abfuhr verletzt. Das hielt ihn nicht davon ab, weiterhin den anonymen Wohltäter in Faunas Leben zu spielen.
Irinäus von Tadelshofen hatte seinen Aufenthalt auf Schloss Montgolfière vorerst beendet. Die Textbestände im Arbeitszimmer seines Bruders hatten rein gar keine Hinweise auf Gründe für die spätere Katastrophe geliefert. Auch die »teuflische Werkstatt« seines Bruders, von welcher dieser Professor wissen wollte, hatte er nicht auffinden können.
Irinäus beschloss, das Ereignis hinter sich zu lassen. Er hatte mehr als ein Jahr lang japsend dagelegen wie ein Fisch im Sand. Das ging so nicht mehr weiter. Sein Bruder war tot. Aber er, Irinäus von Tadelshofen, er war doch am Leben! Irinäus warf die Motoren der Verdrängung an und beschloss, sich von nun an mit voller Kraft den Aufgaben als neues Oberhaupt derer von Tadelshofen zu widmen.
Die inzwischen auf siebzehn Folgen angewachsene Serie der Lola Mercedes las er nicht.
Der Kontakt mit Donna Fauna wurde spärlicher und blieb bald aus.
Kam ein Gespräch im Bekanntenkreis doch einmal auf die Frage nach der Ursache des Desasters, erklärte Irinäus, er wisse lediglich, dass er nichts wisse, und verweigerte eine Stellungnahme. Schleunigst suchte er nach einer Variante, das Gesprächsthema zu wechseln.
Irinäus von Tadelshofen war entschlossen, wieder Frieden zu finden. Mit einer Welt, in der unliebsame Diplomaten und Spitzenpolitiker von Geheimdiensten ermordet wurden, hätte er seinen Frieden niemals machen können. Das Gleiche galt für einen Bruder, der aus Selbstüberschätzung und Verantwortungslosigkeit vier andere Menschen mit sich in den Tod gerissen hätte.
Nach und nach begann Irinäus, eher aus emotionalen denn aus inhaltlichen Gründen, sich mit der offiziellen Erklärung für die Katastrophe anzufreunden. Ein technischer Defekt! Eine Tragödie ohne Schuldige! Sofern die Verdrängungsmechanismen ihre Dienste leisteten, konnte man damit halbwegs umgehen. Den Rest würde die Zeit regeln.
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