
Die Freunde sind tot. Der Tathergang unklar. Die Spekulationen schiessen ins Kraut. Was genau ist geschehen bei dieser Fahrt mit dem Heißluftballon?
Die Wahrheit war sehr viel einfacher. Lola hatte jenen Totalzusammenbruch hingelegt, den sie tief drinnen schon seit Jahren, in denen sie die chronische Überarbeitung ignoriert und mit Rückenschmerzen laboriert hatte, befürchtet und manchmal herbeigesehnt hatte.
Es begann mit einem Nervenzusammenbruch, unmittelbar nachdem sie von der Katastrophe bei Templin erfahren hatte. Dem folgten multiple Bandscheibenvorfälle. Derzeit trieb sie sich erneut in einem Reha-Zentrum herum.
Dass das Online-Magazin weiterhin so gut lief und nichts von Lolas unerquicklicher Lage nach außen drang, lag einzig an Germaine Gamma, die in die Bresche gesprungen war, den Betrieb aufrechterhielt und gelegentlich auch als Ghostwriterin für Lola Mercedes agierte.
Irinäus, der um den wahren Grund von Lolas Schweigen wusste, stöhnte laut auf, als er die gesammelten Spekulationen darüber gelesen hatte. Angewidert schob er den Stapel ausgedruckter Artikel so weit von sich, dass einige Blätter vom Tisch fielen.
Die Lektüre dieser Textsammlung war niederschmetternd. Was für ein Durcheinander von Wahr- und Falschheiten, von recherchierten Fakten und frei erfundenem Unfug war da um den Tod seines Bruders und dessen Gefährten ausgewuchert, wie ein böses Gespinst? Der Journalist in Irinäus von Tadelshofen rebellierte gegen die verantwortungslose Schlamperei und schlichte Dummheit vieler Texte. Die Lektüre wurde noch unerträglicher durch dieses grauenvolle Deutsch und den unsäglich schlechten Satzbau, in dem das meiste davon aufgeschrieben war.
Nicht alles, was da vorgebracht wurde, ließ sich so leicht von der Hand weisen wie diese Horrorstory von der »letzten Nacht auf Schloss Montgolfière«. Einige Autoren aus jenem Spektrum, das als »verschwörungstheoretisch« bezeichnet wurde, hatten sich auf die technischen Aspekte des Ballonabsturzes spezialisiert. Ausgangspunkt fast aller diesbezüglicher Thesen war die Zeugenaussage der Isolde Sandner.
Die Hauswirtschafterin war, wie immer bei den Luftfahrten des Schlosschefs, im freiherrlichen Porsche Cayenne samt Hänger dem Ballon hinterhergefahren, um nach der Landung sofort an Ort und Stelle zu sein und Mensch und Material aufzunehmen.
Sie war damit die wichtigste Augenzeugin. Allerdings wollten ihre Beobachtungen nicht recht gut zu den Ergebnissen der Kriminaltechnischen Untersuchung passen.
Die KTU sprach von einer Selbstentzündung des Ballons. Durch einen technischen Defekt habe die Ballonhülle Feuer gefangen, herabfallende Glut habe anschließend die Gondel entzündet. Der Luftzug beim Absturz habe diese Brandherde anschließend so sehr angefacht, dass der gesamte Korb, der förmlich wie ein Kamin gewirkt habe, binnen Sekunden lichterloh in Flammen gestanden habe. Hierdurch seien auch die schweren Verbrennungsspuren an vier der fünf Leichen zu erklären.
Isoldes Aussage zufolge waren dagegen Ballon und Gondel gleichzeitig in Flammen aufgegangen, als der Ballon sich in großer Höhe befunden habe. Sie habe keinen Knall oder sonstige Geräusche gehört, wohl aber eine Art Blitz gesehen, woraufhin das gesamte Gefährt samt Ballon in hellen Flammen geradezu in der Luft gestanden habe, bevor es mit einem Mal nach unten gesackt und im freien Fall als gigantische Rauchsäule gen Boden gestürzt sei.
Diese Erklärung der Kriminaltechnischen Untersuchung wurde in den Weiten des Internets als »Kamintheorie« bezeichnet und lächerlich gemacht. Man verwies auf Fachartikel sowie auf Äußerungen führender Vertreter des Deutschen Freiballonsport-Verbands DFSV, wonach eine Selbstentzündung moderner Heißluftballone nahezu ausgeschlossen werden könne.
Der DFSV hatte in Tädeus von Tadelshofen ein jahrzehntelanges, prominentes Mitglied verloren. Die offizielle Stellungnahme machte deutlich, dass man sich seitens des Verbands das Debakel nicht erklären konnte, zumal es sich bei dem Freiherrn um einen enorm erfahrenen und äußerst gewissenhaften Piloten gehandelt habe. Während heutzutage selbst bei einem mit Wasserstoff gefüllten Gasballon die Wahrscheinlichkeit einer Selbstentzündung bereits gering, aber immerhin theoretisch vorhanden sei, sei Derartiges bei einem Heißluftballon glatt auszuschließen. Kurz, man stehe vor einem Rätsel.
Diese Rätselhaftigkeit wurde ungemein gesteigert durch die sehr widersprüchlichen Aussagen von insgesamt elf anderen Zeugen, darunter Spaziergänger, Anwohner und Autofahrer.
Man konnte deren Darstellung des Absturzes grob in zwei Gruppen unterteilen. Die einen beschrieben den Hergang des Unglücks ähnlich wie Isolde Sandner, wobei zwei Zeugen zusätzlich einen Knall gehört haben wollten. Die anderen bezeugten, KTU-gemäß, eine Brandentwicklung, ausgehend von dem Ballon, gesehen zu haben, die dann auf die Gondel übergegriffen habe.
Findige Blogger wollten allerdings herausgefunden haben, dass die fünf in der Gegend ansässigen Zeugen durch die Bank Isoldes Darstellung stützten. Die sechs Zeugen, die den Hergang KTU-gemäß beschrieben, seien dagegen allesamt Ausflügler oder Autofahrer von außerhalb gewesen. Wie die Blogger zu dieser Erkenntnis gekommen waren, blieb unklar.
Einige Tage später fuhr Irinäus von Tadelshofen hinaus zum Schloss.
Er hatte Montgolfière seit der Katastrophe im vorigen Januar gemieden und alles dort Notwendige durch einen Bevollmächtigten erledigen lassen.
Jetzt stand Isolde schon im Portal, als Irinäus aus dem Auto stieg. Der beschied nach einer etwas zu distanzierten Begrüßung, er wolle zunächst ein wenig alleine sein.
Der neue Schlossherr ging zielstrebig in den zweiten Stock des Westflügels hinauf, durchquerte das Teezimmer und den Salon. In der Bibliothek hielt er kurz inne, als er an dem Regal mit der Luftfahrerliteratur vorbeikam. Er nahm eine Monografie über Rochus von Tadelshofen zur Hand, die sein Bruder vor Jahren in Auftrag gegeben und an der Irinäus mitgearbeitet hatte.
Rochus und Tädeus von Tadelshofen! Irinäus fiel die unheimliche Parallelität dieser beiden Leben auf. Lebenslange Luftfahrtenthusiasten, einer wie der andere, waren sie jeweils zu Abtrünnigen der alten Macht geworden. Und beide stürzten am Ende unter rätselhaften Umständen in den Tod.
Als Irinäus kurz darauf vor der Tür zu Tädeus Arbeitszimmer stand, fiel sein Blick auf ein Bild in dessen »Wall of Fame«, welches seinen Bruder mit Jürgen Möllemann zeigte. Politisch hatte Irinäus diesen Möllemann verachtet. Er hatte überhaupt mit der FDP-Mitgliedschaft seines Bruders nie etwas anfangen können. Jetzt dachte er an das Ende dieses Politikers, wissend, dass auch hier der Hergang seines Sturzes in den Tod infrage gestellt worden war. Selbst in der Redaktion der Welt hatte es einen Kollegen gegeben, der von einer Verstrickung Möllemanns in Waffendeals und andere Geheimgeschäfte wissen und darin ein mögliches Motiv für einen Mord sehen wollte.
Hatte auch sein Bruder eine Geheimgeschichte, die selbst ihm nicht enthüllt worden war? Trotz aller brüderlicher Nähe?
Lola warf ihre Tasche auf den Rücksitz und kletterte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Beifahrersitz.
»Nichts wie weg hier. Energie!«, rief sie Germaine Gamma dann zu. Die stieg aufs Gas und mit quietschenden Reifen ging es durch das Tor der »Orthopädischen Rehabilitationsklinik Prof. Dr. Volkmann«.
»Weißt Du, wer der Volkmann ist, mein geliebtes Recherchemonster?«, fragte Lola Mercedes Germaine, als sie die Autobahn gen Berlin erreicht hatten. Als die verneinte, erklärte Lola, dieser saubere Herr Professor sei nebenher oder in der Hauptsache ein Immobilienhai – und unter anderem der Besitzer des seinerzeit umkämpften Hauses in der Rigaerstraße. Dementsprechend gehe es auch in dieser Reha zu! Reine Geldmacherei sei das, und unter Heilungsgesichtspunkten ein Witz! Sie, Lola, sei inzwischen jedenfalls überzeugt, dass das Feuer im Dachgeschoss des Rigaer Hausprojekts vorsätzlich gelegt worden sei, und zwar im Auftrag dieses sauberen Herrn Mediziners!
»Den bringen wir auch noch zur Strecke, verlass Dich drauf. Aber zunächst klären wir den Mord an unseren Freunden auf!«, sagte Lola und rückte sich auf dem Beifahrersitz zurecht, da ihr schon wieder der Schmerz in die Gebeine fuhr.
Der Schmerz des Irinäus trat ebenfalls plötzlich auf. Mitunter leisteten die Verdrängungsmechanismen Formidables. Dann entfiel ihm die grauenvolle Tatsache, die sein Leben seit über einem Jahr beherrschte, für eine gewisse Zeit.
Tädeus war der deutlich ältere der beiden Brüder gewesen und nach den Hausgesetzen derer von Tadelshofen war dem Erstgeborenem die Führung der Familie zugefallen, als der Vater verschieden war. Nach Tädeus, Ableben von einem Tag auf den anderen die Rolle des Hauschefs zu übernehmen, verlangte Irinäus einiges ab. Die verzweigten Besitzungen und Unternehmungen zu verwalten, war eine komplexe Aufgabe.
Die sorgte sogar dafür, dass Irinäus von Tadelshofen inzwischen daran dachte, seine Stelle als Kulturredakteur der Welt vollends zu kündigen. Wie zuvor in wohlgeformten Sätzen über ästhetische Detailfragen und Kulturereignisse zu räsonieren, konnte er sich ohnedies nicht mehr gut vorstellen.
Früher hatte ihn eine gelungene Theaterinszenierung tagelang beschäftigen können. Als es um die Neubesetzung der Intendanz eines führenden Opernhauses ging, hatte er eine wochenlange Kampagne gefahren. Die Nichtigkeit all dessen wurde ihm jetzt grell bewusst.
Für die Arbeit in einer Redaktion fühlte sich Irinäus von Tadelshofen zudem emotional nicht mehr gewappnet. Denn der Schmerz fiel ihn täglich mehrfach an! Urplötzlich aus der Deckung springend, tödlich kalt, platzte das Wissen um den Tod seines Bruders und das Ereignis über dem See ins Bewusstsein. Er durchlitt schlimme Nächte mit schrecklichen Bildern.
Dabei hatte Irinäus selbst nichts gesehen und nichts gehört an jenem unglückseligen Tage. Er war im BMW Roadster seines Bruders mit Fauna nach Templin gefahren. Sie hatten dort Künstlerfreunde von Irinäus besucht, etwas gegessen und waren in der Stadt herumgelaufen.
Erst der Anruf von Isolde Sandner brachte Nachricht von der Katastrophe am Platkowsee.
Somit besaß Irinäus keinerlei bildliche Abdrücke des Ereignisses. Das war Segen und Fluch zugleich. Er hatte keine schrecklichen Bilder gesehen. Stattdessen spielte ihm sein Gehirn eigene, umso schrecklichere Vorstellungen des Geschehens zu. Die wurden immer detaillierter, fraßen sich ins Fleisch wie Gewürm und zersetzten zentrale Stützbalken im Lebensglück des Irinäus von Tadelshofen.
Jetzt stand er vor der Tür zum Arbeitszimmer seines toten Bruders.
Und er stand vor einem Rätsel.
Der eigene Bruder erschien ihm posthum zunehmend wie ein Fremder.
Zurück in Berlin konnte Lola Mercedes gar nicht verstehen, was es da herumzurätseln gab. Für sie war von vorneherein klar gewesen, dass es sich bei dem vermeintlichen Unglück um ein Attentat gehandelt hatte. Bereits von der Reha aus hatte sie konsequent in diese Richtung recherchiert und Germaine Gamma recherchieren lassen.
Lola war auch schon mit Irinäus aneinandergeraten, als sie mit ihren fernschriftlichen Avancen, die sie ihm aus der Reha zukommen hatte lassen, wiederholt abgeblitzt war. Sie hatte vorgeschlagen, ein Rechercheteam zu formieren, eine »SOKO Desaster«. Er als Welt-Redakteur und sie mit ihren Reichweiten im Netz: Das wäre eine Macht!
Irinäus von Tadelshofen hatte freundlich, aber bestimmt abgelehnt.
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Wo „wir“ hier beim Themen Belletristik sind, da fällt mir gerade dieser Witz ein:
Und warum fiel der mir ein? Na deshalb:
Ja, schlimm diese Verschwörungserzähler, einfach schlimm. Da muss man doch mal was tun! Wo ist denn eigentlich Herr Dobrindt, wenn man ihn mal braucht?
Quelle: hier
Ich hoffe für die Zukunft, dass irgendwann einmal genügend Leute gegen diese Verschwörungserzähler aufstehen werden. Damit das funktionieren kann, muss den Leuten natürlich aber erst einmal klar werden, dass staatliche Verschwörungsmythen und Staatsgewalt ein Thema sind. Das weiß ja bislang keiner. „Wir“ sehen ja permanent staatliche Operationen in Deutschland.
dieser Witz fängt eigentlich anders an:
Und warum fiel der mir ein? Na deshalb: solche Fragen kann man heutzutage nur noch im geistigen Ausnahmezustand der postorgiastischen Verwirrung äußern…
(Ich wollte jetzt auch mal in den Duktus des Romans einsteigen, über den ich mich übrigens köstlich amüsiert habe – wer sich minimal im Berliner Mikrokosmos auskennt, wird so einige DejaVu’s gehabt haben)
Ob ein Dienst eine Nachricht im Tageblatt einfügen lässt oder ein Redakteur eine Nachricht auf der Straße gefunden und publiziert hat , würde ich heutzutage ja nur noch beim Wetterbericht über den gestrigen Regenfall mit einiger Zuverlässigkeit vermuten können. Meldungen über Präsidenten werden generell nicht auf der Straße gefunden…
Spoofing, Schattenflotte und ewiger Klimawandel
Bei der Präsidentschaftswahl in Russland 2024 vom 15. bis 17. März 2024 soll es lange Schlange vor den Wahllokalen gegeben haben, diese sind laut der Öffentlich Rechtlichen Verlautbarungen Nawalny Proteste der russischen Opposition!
Prost 🍟