Eine Katastrophe hat sich ereignet. Aber was ist passiert? Die Meinungen darüber gehen weit auseinander…
Polizeiinspektion Uckermark
Pressemitteilung, 8. Januar 2015, 12:37 Uhr:
Ballonunglück am Platkowsee
Am späten Vormittag kam es bei Templin zu einem schweren Unglück mit einem Heißluftballon. Aus bisher noch ungeklärten Gründen fing der Ballon Feuer und stürzte in unmittelbarer Nähe des Platkowsees ab. Vier Ballonfahrer wurden tot geborgen. Auf Überlebende gibt es bisher keine Hinweise. Die Identifikation der Verunglückten dauert noch an.
Deutsche Presseagentur (dpa)
Tickermeldung, 8. Januar 2015, 13:02 Uhr:
Berger-Grün tödlich verunglückt?
Wie die Polizeiinspektion Uckermark mitteilt, starben beim Absturz eines Heißluftballons in der Nähe von Templin in Brandenburg sämtliche Insassen. Unter den Toten werden der Filmregisseur Pavel Berger-Grün sowie der ehemalige FDP-Politiker und Diplomat Tädeus von Tadelshofen vermutet. Die endgültige Identifikation der Leichen steht noch aus. Die Ursache des Unglücks ist bisher ungeklärt.
Radio Berlin-Brandenburg
Die Regionalnachrichten, 8. Januar 2015, 13:30 Uhr:
Ballonunglück bei Templin
Nach unbestätigten Agenturmeldungen ging der Heißluftballon des ehemaligen FDP-Politikers Tädeus von Tadelshofen heute Vormittag aus ungeklärten Gründen in Flammen auf. Sämtliche Passagiere fanden den Tod. Die Zahl der Verunglückten stieg inzwischen auf fünf an. Darunter befand sich der weltweit gefeierte Filmregisseur Pavel Berger-Grün. Berger-Grün gilt als radikaler Erneuerer der Filmkunst im 20. Jahrhundert.
Press Release from Oliver Stone
8. Januar 2015, 17:16 Uhr
»Pavel not only was my favourite and most admired colleague, he was a true and faithful friend of mine for decades. Aesthetically speaking, there was clearly an era before and one after Pavel entered the world of film. He turned the art of filming upside down. Equally important though, we tragically lost an outspoken advocate for civil liberty, peace and justice. Pavel was an unbending warrior for a better, more just world. I sincerely hope for a new generation of filmmakers taking inspiration from the great body of work and the political legacy left behind by my beloved friend, colleague and brother-in-arms, Pavel Berger-Grün.«
Das waren die Meldungen direkt nach dem Unglück. Die anderen Nachrichtensender hatten weitgehend wortgleich berichtet. Das Zitat von Oliver Stone wurde flächendeckend übernommen. Später am Tag hatten sich noch das Auswärtige Amt und der FDP-Parteivorstand geäußert, mit eher gequälten Kondolenzschreiben für Tädeus von Tadelshofen, der sich, trotz gewisser Meinungsverschiedenheiten, die zum Diskurs in einer Demokratie selbstverständlich dazugehörten, enorme Verdienste um die Europäische Einigung und bei der Wiedervereinigung Deutschlands erworben habe.
Irinäus von Tadelshofen blätterte weiter durch den Stapel von Ausdrucken.
Ein Teil der Texte, vor allem aus der neuen Friedensbewegung und den grundgesetztreuen Splittergruppen der alten, bürgerlichen Parteien, würdigte die Rolle Tädeus von Tadelshofens als Anwalt des Völkerrechts und Verteidiger des Nichtangriffsgebots in der Verfassung.
Ken Jebsen im Telefoninterview mit Willy Wimmer; Staatssekretär im Verteidigungsministerium a.D.
14. Januar 2015
Herr Wimmer! Sie kannten Herrn von Tadelshofen aus Ihrer gemeinsamen Zeit in der Regierung Kohl. Was für ein Mensch war dieser Tädeus Freiherr von Tadelshofen?
Willy Wimmer: Tädeus von Tadelshofen war ja, wie ich auch, bereits in den frühen Achtzigerjahren in Bonn tätig. Insofern kannte man sich, ohne dass ich von einer innigen Freundschaft sprechen wollte. Man hat sich respektiert und hatte punktuell miteinander zu tun. Menschlich war er ein sehr angenehmer, und was die Arbeitsabläufe betrifft, ein ausgesprochen verlässlicher Kollege, der zwar einer anderen Partei zugehörig war als ich, aber das spielte kaum eine Rolle. Wir standen damals alle fest auf dem Boden des Grundgesetzes, ohne Wenn und Aber. Es wäre schön, wenn man das von all jenen behaupten könnte, die derzeit in Berlin dieses verantwortungslose Durcheinander veranstalten, das sie selbst vermutlich für eine deutsche Außenpolitik halten. Demgegenüber war Tädeus von Tadelshofen ein Diplomat alter Schule und verfassungstreu, durch und durch.
Tädeus von Tadelshofen wechselte später als deutscher Botschafter nach Paris. Welche Rolle spielte er in dieser Funktion, speziell im Umbruch 1989/90?
Wimmer: In der Zeit der deutschen Wiedervereinigung hat sich das ganze diplomatische Geschick des Freiherrn von Tadelshofen gezeigt, als er hinter den Kulissen eine wesentliche, ich möchte schon sagen, eine glänzende Rolle dabei spielte, die Franzosen ins Boot zu holen, wo ja erhebliche Bedenken vorhanden waren, was ein wiedervereinigtes und damit wiedererstarkendes Deutschland als Nachbar bedeuten könnte. Als Rheinländer hatte ich für diese Befindlichkeiten auf französischer Seite ein gewisses Gespür und wusste, dass das eine harte Nuss ist, die Zustimmung der Franzosen zu einem vereinigten Deutschland zu erwirken. Aber es ist gelungen, und das Taktgefühl und die Virtuosität, mit der von Tadelshofen dabei gewirkt hat, hat uns allen sehr imponiert. Das war das alte Europa in Bestform, übrigens auf beiden Seiten!
Mit der sogenannten »Teppich-Affäre« endete 1999 die diplomatische Karriere des Freiherrn von Tadelshofen. Wie schätzen Sie diesen Vorgang in der Rückschau ein?
Wimmer: Die kompromisslose Verfassungstreue des Mannes hat sich da in geradezu kühner Weise gezeigt. Das muss man sich klarmachen: Tädeus von Tadelshofen hat als Einziger im gesamten diplomatischen Corps die Traute gehabt, aufzustehen und laut und deutlich zu sagen: »Kinder, das geht so nicht! Das gibt das Grundgesetz nicht her, das ist ein Irrweg und den gehe ich nicht mit.« Das Verhalten seiner Parteikollegen und politischen Freunde, die seinerzeit jede Solidarität vermissen haben lassen, die sich allesamt weggeduckt haben, also das empfand ich als schäbig, das muss ich Ihnen ehrlich sagen.
In den Folgejahren hatte von Tadelshofen dadurch aber freie Hand. Er konnte sich frei von der Leber weg zu den fortgesetzten außenpolitischen Verirrungen der Berliner Republik einlassen. Und von dieser Freiheit hat der Freiherr reichlichen Gebrauch gemacht, wenn Sie mir diesen Kalauer zugestehen.
[…]
Irinäus las das Transkript dieses Interviews mit Rührung und einer gewissen Verwunderung. Ja, er hatte gewusst, mit welcher Verve sein Bruder gegen die Militarisierung der neuen deutschen Außenpolitik zu Felde gezogen war, aber hatte er, Irinäus, Ausmaß und Tragweite dieser Aktivitäten unterschätzt?
Der neue Schlossherr von Montgolfière – der kinderlose Tädeus hatte seinen Bruder als Haupterben eingesetzt – hatte sich unmittelbar nach der Katastrophe bei der Welt unbefristet beurlauben lassen. Mehr als ein Jahr lang hatte er zudem jede Lektüre über den Tod seines Bruders und der anderen Schlossgäste unterlassen.
Fauna dagegen hatte alles gesammelt. Wie süchtig hatte sie die Textflut aufgesogen, die der Katastrophe am Platkowsee folgte, und wusste selbst nicht, ob ihr diese Lektüre bei der Verarbeitung des Geschehenen half oder sie nur immer weiter traumatisierte. Sie konnte nicht aufhören damit.
Fauna hatte auch die Sammlung zusammengestellt, die jetzt vor Irinäus von Tadelshofen auf dem Esstisch seiner Berliner Altbauwohnung lag. In dieser Presseschau fanden sich Zeitungsartikel, Beiträge aus Online-Magazinen und Blogeinträge, in chronologischer Ordnung.
Irinäus fuhr fort, in dem dicken Papierstapel zu blättern, und kam bald aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus.
Vieles drehte sich um Pavel Berger-Grün. Eine weltweite Fangemeinde weinte ihrem Star hinterher. Das war noch gut zu lesen.
Die mit Abstand meisten Beiträge aber stammten von Online-Magazinen und Blogs. Deren Überschriften lasen sich dann beispielsweise:
»Platkowsee: Unglück oder Attentat?«
»Luftfahrtexperte: Ballon wurde abgeschossen!«
»Wurde er deshalb ermordet? Berger-Grün plante Film über 11. September!«
»DER MANN, DER ZUVIEL WUSSTE: Tädeus von Tadelshofen«
»Der andere Tadelshofen: Dienste, Logen, Rituale«
»Heiße Luft am Platkowsee: Die unmögliche Physik der offiziellen Version«
Alle möglichen Behauptungen wurden da aufgestellt.
Wenn es nach den sensationellen Enthüllungen eines Bloggers über »Die letzte Nacht auf Schloss Montgolfière« ging, hatte an jenem Abend vor dem Unglück auch kein Besäufnis mit »geknattertem« Wein stattgefunden, sondern ein satanisches Ritual inklusive Kindermords.
Insgesamt rankten sich um seinen Bruder Tädeus die widersprüchlichsten Mythen.
Die einen hoben ihn nicht nur als prinzipienfesten Vertreter des Grundgesetzes auf den Schild, sondern machten ihn gleich zum Gründer eines weltweit operierenden Netzwerks hochrangiger Dissidenten, zum Chef eines Rings antiimperialistischer Gegenspionage gar, der für die westliche Machtelite zu einer ernstzunehmenden Bedrohung geworden sei. Darum habe man von Tadelshofen und Berger-Grün, der ebenfalls Teil dieses Netzwerks gewesen sei, am Platkowsee ausgeschaltet.
Nun war Tädeus von Tadelshofen als ehemaliger Diplomat und Außenpolitiker zweifellos bestens vernetzt gewesen. Irinäus hatte keinen Zweifel, dass sein Bruder bis zuletzt eine weitverzweigte Kommunikation unterhalten hatte, um die Machinationen der Kriegsfraktion zu kontern. Der Kampf gegen die Mobilmachung der NATO im Osten, gegen den Drohnenkrieg, die Air Base der US-Streitkräfte in Ramstein und die Erneuerung der Atomwaffenarsenale hatten ihn in den letzten Jahren stark beschäftigt. Ob er dabei alte Kontakte in Geheimdienstkreise weitergeführt oder neue angebahnt hatte, vermochte Irinäus nicht zu beurteilen. Unterm Strich kam ihm dieses ganze Geraune über Tädeus’ angebliche Geheimaktivitäten reichlich absurd vor.
Dann jedoch erinnerte er sich des plötzlichen Verschwindens seines Bruders bei der Nachricht des Attentats auf Charlie Hebdo. Das war freilich eigenartig gewesen. Wen mochte er so dringend zu sprechen gehabt haben?
Eine andere Extremposition bildeten Textergüsse, die in Tadelshofen, Berger-Grün und manchmal auch in Jonathan Rischke, der ebenfalls unter den Opfern gewesen war, Vertreter des Weltbösen sehen wollten, die im Zuge globaler Mafiakriege von einer feindlichen Fraktion der Machtelite erlegt worden seien. Verschiedentlich wurde in diesem Zusammenhang auf Berger-Grüns jüdische Abstammung verwiesen, um Bezüge zu »den Zionisten« und zum Mossad glaubhaft zu machen. Jonathan Rischke wurden bei dieser Gelegenheit, zusätzlich zu dem mittlerweile unvermeidlich gewordenen »Eduard«, auch noch jüdische Wurzeln angedichtet.
Tädeus von Tadelshofen dagegen sei ein Strohmann der Herrschenden gewesen. Die wahre Macht habe ihn lediglich öffentlich ausgeklinkt, um durch ihn die entstehende Systemopposition von innen heraus kontrollieren zu können.
Heiß diskutiert wurde auch die Rolle, die der ominöse »Kanarienquex« gespielt haben mochte. Dessen Leiche war erst einige Stunden nach den anderen, fast 200 Meter entfernt von der tatsächlichen Absturzstelle des Heißluftballons aufgefunden worden und hatte deutlich weniger Verbrennungsspuren aufgewiesen als die anderen Leichen.
Das gab zu Spekulationen Anlass. Viele hielten den Kanarienquex für den Attentäter, dessen eigener Rettungsversuch nach Einleitung des Desasters gescheitert sei. Von einem Kampf an Bord des Ballons war die Rede.
Richtig schlau wurden die Hobbykriminologen aus KQ nicht. Er schien, was ihn sicherlich gefreut hätte, jener Online-Community, die sich mit dem Ballonabsturz am Platkowsee beschäftigte, ein Buch mit sieben Siegeln. Endlos wurde herumgerätselt, welche Symbolik sich etwa hinter jenem eigenartigen Künstlernamen verberge. KQs sexuelle Freizügigkeit sowie sein Drogenkonsum wurden registriert, dokumentiert und charakterologisch ausgewertet. Schnell waren einige auch auf die Balkonstory und die diesbezügliche Zusammenarbeit KQs mit Jonathan Rischke gestoßen – und damit auch auf die Verbindung zu Lola Mercedes.
Das wiederum sorgte für eine eigene Subkategorie aufgeregter Artikel. Denn die Mercedes galt in diesen Kreisen wahlweise als Heldin, die aus dem journalistischen Mainstream ausgestiegen und auf die richtige Seite gewechselt war – oder sie wurde als »Gatekeeperin« betrachtet, die mit ihren Pseudoenthüllungen nur dazu diene, die wirklichen Zusammenhänge zu verschleiern und den aufrechten Wahrheitssuchern die Spitze zu nehmen.
Hinzu kam, dass Lola Mercedes in ihrem weiterhin florierenden Online-Magazin eisern zu den Vorfällen bei Templin schwieg und auch keinerlei Erklärung zum Grund ihres Schweigens abgab.
Gerade das versetzte die Online-Kriminalisten in höchste Erregung. Die Mercedes werde erpresst, hieß es bei den einen. Die Mercedes habe sich kaufen lassen, hieß es bei einigen anderen. Sie schweige lediglich, um sich auf einen Enthüllungsschlag vorzubereiten, der die Fundamente der Republik erbeben lassen werde, vermutete eine dritte Fraktion.
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