Leichter als Luft, Folge 56 — Attentat oder Selbstmord?

Berlin, Quadriga
Quelle: Pixabay

Ist der Vorfahr des Freiherrn, der Luftfahrtpionier Rochus von Tadelshofen, Opfer eines Attentats geworden? Oder war es Selbstmord? Die illustre Reisegruppe kommt zu unterschiedlichen Theorien …

 

Fauna und der Freiherr hatten eine gute Stunde miteinander geplaudert. Davon gut eine halbe Stunde über Bill Kaulitz und Tokio Hotel, über Yoko Ono und den Dalai-Lama. Die anderen waren derweil mit Isolde weiter durch das Schloss getourt. Auf einer ausgedehnten Freiterrasse, auf dem Dach des runden Mittelbaus, trafen nun alle wieder zusammen.

Die Aussicht von hier oben war fantastisch. Zwischen den hohen Zinnen hindurchblickend, über die Wipfel und Kronen des verschneiten Waldes hinweg, hatte man in alle Richtungen freie Sicht. Da und dort konnte man ein Dorf oder ein Gehöft erkennen und im Gegenlicht der Abendsonne die Stadt Templin.

Auf einer schrägen Fläche zwischen zwei Burgzinnen entdeckte Fauna eine metallene Gedenktafel. In sie war ein halbgefüllter Heißluftballon eingraviert. Darunter stand: »Rochus Graf von Tadelshofen. 1777–1813«.

»An dieser Stelle trat mein Vorfahr seine letzte Reise an. Er wurde 36 Jahre alt«, sagte Tädeus von Tadelshofen.

»Mord oder Selbstmord?«, wollte KQ wissen.

Fauna rollte genervt die Augen.

Von Tadelshofen legte dar, dass es einen Bericht der preußischen Gendarmerie gebe, in dem ein Sprung des Rochus in selbstmörderischer Absicht beschrieben sei. Diese Darstellung sei durch diverse Augenzeugen gedeckt, die freilich allesamt preußische Gendarmen oder Verwaltungsbeamte gewesen waren. Eine Flugschrift Deutscher Jakobiner berufe sich demgegenüber auf zwei Diener des Grafen. Diese seien zuvor geflohen und hätten vom nahen Wald aus einen regelrechten Lynchmord durch die Gendarmen beobachtet. Nach ihrem Bericht, der allerdings nicht als Primärquelle vorliege, habe man den armen Rochus Kopf voran vom Turm geschmissen.

»Und was sagt Dir Dein Gefühl?«, bohrte KQ nach.

»Mein Gefühl sagt mir das Gleiche wie mein Verstand, dass beides sehr gut möglich ist und dass man nicht mehr aufklären können wird, wie es wirklich gewesen ist. Es sei denn, es tauchen eines Tages neue Hinweise auf, was unwahrscheinlich ist nach zweihundert Jahren. Manche Fragen bleiben eben offen. Das muss man mit Fassung zu tragen wissen.«

»Sehr richtig, Tad!«, ließ sich Fauna vernehmen.

Den neuen Spitznamen übergehend, den sich Fauna für ihn ausgedacht hatte, fuhr Tädeus von Tadelshofen fort: »Mich hat an dem guten Rochus in erster Linie der freiheitsliebende Abenteurer und der Luftfahrtpionier interessiert. In dieser Hinsicht sind wir – vor allen Dingen mein Bruder Irinäus – in deutschen und französischen Archiven fündig geworden. Das bedeutendste Fundstück war natürlich Schloss Montgolfière. Speziell auch diese Freiterrasse, auf der wir hier stehen.«

Deren bauliche Eigentümlichkeit habe nämlich ihre guten Gründe, ergänzte er.

Tatsächlich fiel auf, dass es in der Mitte der ebenen, mit Steinplatten ausgelegten Terrassenfläche eine kreisförmige Aussparung mit einem Durchmesser von vielleicht fünf Meter gab. Sie war durch eine massive Holzplatte bedeckt.

Von Tadelshofen wies die anderen an, die Platte gemeinsam anzuheben. Mit vereinten Kräften gelang es, sie ein Stück zur Seite zu rücken. Fauna und KQ leuchteten mit ihren Handylampen nach unten und man sah, dass sich dort ein Hohlraum befand, zu dem eine kleine, steinerne Treppe hinunterführte.

»Hat jemand eine Idee, wozu das gedacht gewesen sein könnte?«, fragte Tadelshofen.

»Ganz klar! Ein Darkroom!«, feixte Fauna.

Berger-Grün vermutete, der Graf habe hier seine spätere Grablege vorbereitet.

»Hm. Haben die da unten immer gegrillt, oder wie?«, ulkte KQ.

Tadelshofen lachte: »Das nicht, aber wir nähern uns der Erklärung.«

Pedrillo wähnte, man habe in diesem Raum spirituelle Rituale abgehalten, denn ihm war eine Struktur im Boden aufgefallen, die die Form einer Spirale zu haben schien.

Tadelshofen schüttelte lachend den Kopf. Das seien nur die Ablaufrinnen für das Regenwasser.

Es war Jonathan Rischke, der auf die Lösung kam: »Wollte Rochus von hier oben aus etwa Ballonfahrten starten? Und durch die übertrieben hohen Zinnen rundherum und diese künstliche Senke wollte er die Windverhältnisse bei einem Start vom Dach ausgleichen?«

»Bingo!«, meinte von Tadelshofen: »Dieses Rundloch ist quasi ein Startblock für Heißluftballone.«

Graf Rochus habe einmal in einem Brief an einen jüngeren, adeligen Luftfahrtenthusiasten, den Irinäus aus einem Archiv in Meudon herausgetaucht habe, verlautbart, Schloss Montgolfière werde man immer nur in einem Augenblick ganz und gar fertig gestellt erleben können: wenn sich auf dem Dach des Mittelbaus gerade ein Ballon erhebe, um das Haupt des Gebäudes zu krönen. Diese Krönungsfeierlichkeiten würden dann jedes Mal mit dem Verlust ebendieser Krone enden. Die nämlich falle, nach einer majestätisch langsamen https://www.buchkomplizen.de/buecher/buecher-von-fifty-fifty/nur-die-richtige-meinung-ist-frei.htmlFahrt, in hohem Bogen dort zur Erde, wo der Wind der Geschichte sie hingetragen habe. Diese Symbolik sagte ihm, Rochus, als altem Jakobiner und Romantiker außerordentlich zu.

»Ihr Vorfahr war ja ein Poet! Und er hatte gewaltig einen an der Waffel. Und er scheint ein echter Revolutionär gewesen zu sein. Eins sympathischer als das Andere. Meine Hochachtung!«, salutierte Donna Fauna.

»Startest Du dann Deine Ballonfahrten auch von hier?«, wollte Jonathan wissen.

Tädeus verneinte, und es sei auch fraglich, ob es zu des Rochus Zeiten je zu einem Start gekommen sei, von jenem gescheiterten Fluchtversuch im Jahre 1813 abgesehen. Die Windverhältnisse auf dieser Plattform seien trotz aller Gegenmaßnahmen unberechenbar geblieben. Auch sonst spreche allerhand dagegen. Er selbst habe es einmal ausprobieren wollen und den Versuch eines Ballonstarts schnell wieder abgebrochen.

Schloss Montgolfière sei folglich in ballonfahrerischer Hinsicht eine glatte Fehlkonstruktion – aber wenigstens eine charmante. Ohne diese historisch wertvolle Vertiefung allerdings lasse sich an wärmeren Tagen als dem heutigen immerhin wunderbar frühstücken auf dieser Freiterrasse. Deshalb habe er der Holzplatte den Vorzug gegeben.

Seine eigenen Ballonfahrten beginne er lieber vom Boden aus, ergänzte der Hausherr. Er lade sie alle selbstverständlich dazu ein, am kommenden Morgen gemeinsam in die Lüfte zu steigen.

Bis auf Pedrillo Fauna, die ihre Höhenangst geltend machte und dafür einiges an gutmütigem Spott erntete, stimmten alle begeistert zu. Dann rückte man die Holzplatte wieder an ihren Platz. Der kalte, scharfe Wind trieb die Truppe wieder ins Gebäudeinnere.

Nur der Quex drehte sich noch einmal um und sagte leise vor sich hin:

»Ein komisches Terrassenloch!«

Es hatte zu dämmern begonnen. Man vertagte sich bis zum Dinner.

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