Leichter als Luft, Folge 54 — Entzifferer geheimer Symbole

Berlin, Oberbaumbrücke
Quelle: Pixabay

Die Spannungen zwischen dem Hausherrn von Schloss Montgolfiere und Donna Fauna eskalieren fröhlich weiter. Der Kanarienquex betätigt sich als Entzifferer vermeintlich geheimer Symbole.

 

Von außen besehen hatte Schloss Montgolfière einen übersichtlichen, symmetrischen Eindruck gemacht. Zwei Seitenflügel gingen links und rechts von einem mächtigen Mittelbau ab. Diese Flügelbauten verfügten je über zwei Stockwerke und einen Dachstuhl. Ihre Kubatur schien identisch zu sein.

Der Mittelbau, der im Erdgeschoss die Eingangshalle beherbergte, wirkte wie ein überdimensionierter Turm. Er trat vorne und hinten halbkreisförmig aus der Gebäudefront heraus, überragte die beiden Seitenflügel deutlich und wurde, anstelle eines Kegeldachs, von mittelalterlich anmutenden Zinnen gekrönt. Die Proportionen dieses Rundbaus, vor allem seine Höhe, schienen zu den vergleichsweise klein geratenen Seitenflügeln nicht recht zu passen.

Alles in allem jedoch schien das Gebäude klar und übersichtlich strukturiert. Von außen.

Innerlich erwies sich Schloss Montgolfière als labyrinthischer Bau.

Durch eine unscheinbare Tür gelangte die illustre Besuchergruppe aus dem Bibliothekssaal in ein enges Treppenhaus. Die Besucher folgten dem Schlossherrn über eine steinerne Wendeltreppe nach oben. Dort, im zweiten Stock, gelangten sie in einen langen, fensterlosen Gang, von dem links wie rechts Türen abgingen. Dieser Gang wurde durch in den Boden eingelassene LEDs beleuchtet, die das Innenfachwerk auf beiden Seiten kunstvoll in Szene setzten:

»Beschnitztes Innenfachwerk aus Edelhölzern. Lediglich ein Renaissance-Zitat. Der Denkmalschutz immerhin war ganz aus dem Häuschen«, erklärte von Tadelshofen: »Ich habe mir dennoch erlaubt, hier meine ganz persönliche Wall of Fame einzurichten.«

Zwischen den Fachwerkbalken hingen Fotos, Urkunden und andere Erinnerungsstücke aus dem Leben des Freiherrn. Ein Abschlusszeugnis der Princeton University bestätigte den Erhalt eines Master Degrees in »International Relations Studies«. Im Bilderrahmen daneben war von Tadelshofens Aufnahme in den Diplomatischen Dienst der Bundesrepublik Deutschland dokumentiert. Ein persönlicher, handschriftlicher Brief von Hans-Dietrich Genscher hing in direkter Nachbarschaft zur Ernennungsurkunde zum Botschafter der BRD in Paris. Ein Dokument auf Französisch schien vom Präsidialamt der Französischen Republik zu stammen und war von Francois Mitterand unterzeichnet. Daneben war eine Pressemitteilung eingerahmt, die Tädeus von Tadelshofen herausgegeben zu haben schien. Im Betreff stand: »Nachhaltig auf dem Teppich des Völkerrechts.«

Pokale in einem gläsernen, beleuchteten Wandkasten wiesen den Hausherrn zudem als Sieger verschiedener Ballonfahrerwettbewerbe aus. So hatte er etwa im Jahre 1973 die »Fuchsjagd« zu Hellingen siegreich absolviert. Seit Jugendtagen habe er den Ballonsport intensiv betrieben, berichtete von Tadelshofen, um danach mehr und mehr den Erfordernissen seiner Diplomatenkarriere den Vorzug zu geben. Seit dem Kauf von Schloss Montgolfière und erst recht seit seinem Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst sei die alte Liebe wieder voll entflammt.

»Wie alt bist Du denn, wenn ich fragen darf?« KQ durfte, und die Antwort – Tadelshofen war 61 Jahre alt – verblüffte allgemein. In der Tat sah der Freiherr wesentlich jünger aus.

Die holzgerahmten Fotos seiner »Wall of Fame« zeigten einen Tädeus von Tadelshofen verschiedenen Alters mit diversen Berühmtheiten. Von Tadelshofen mit dem Dalai-Lama. Von Tadelshofen mit Eduard Schewardnadse. Von Tadelshofen mit Udo Lindenberg. Von Tadelshofen mit Helmut Schmidt. Von Tadelshofen mit Yoko Ono. Von Tadelshofen mit Helmut Kohl. Von Tadelshofen mit Anne-Sophie Mutter. Von Tadelshofen mit Jürgen Möllemann. Von Tadelshofen mit Tokio Hotel. Von Tadelshofen mit … Pavel Berger-Grün.

»Oh! I know this guy!«, rief Berger-Grün aus, als er seiner selbst angesichtig wurde.

»Oh! I know this guy!«, rief postwendend Fauna. Sie stand vor einem Foto, das einen sehr jugendlichen Freiherrn im Arbeitszimmer eines sehr greisenhaften Karlfried Graf Dürckheim zeigte.

»Mein Lehrer und väterlicher Freund«, sagte von Tadelshofen.

»Ein Faschist und notorischer Hitler-Verehrer«, sagte Donna Fauna.

»Damit ist die Stimmung wohl bis auf weiteres im Eimer«, flüsterte Jonathan KQ zu.

Der Freiherr schien unbeeindruckt und fuhr mit der Führung fort:

»Wir befinden uns nunmehr an der Schwelle zu meinen privaten Räumlichkeiten. Selbst eine so willkommene Runde von wirklichen Freunden wird damit leben müssen, nicht in alle Bereiche meines Lebens die Nasen stecken zu dürfen. Das gilt selbstredend nicht für meine allerneueste, allerbeste Freundin! Wenn Sie erlauben …«

Damit öffnete er eine der zahlreichen Türen, die von seiner »Wall of Fame« abgingen und bat Donna Fauna hinein. Die trat, ohne zu zögern, ein und verschwand mit von Tadelshofen, der die Tür hinter sich schloss, im dahinter liegenden Raum.

Die restliche Truppe, bestehend aus dem Kanarienquex, Pavel Berger-Grün, Jonathan Rischke und dem Yoga-Unternehmer Pedrillo Caldez, blieb einigermaßen verdutzt im Gang zurück. Keine Minute war jedoch vergangen, als vom anderen Ende des Ganges die Hauswirtschafterin Isolde erschien. Sie erklärte, die Schlossführung zu übernehmen und geleitete die vier zum anderen Ende der Wall of Fame, wo eine erneute Wendeltreppe nach unten führte.

Um einiges später, vor dem in Stein gemeißelten Montgolfière-Gedicht August Langbeins in der Eingangshalle versammelt, setzte Isolde der heutigen Besuchergruppe zunächst die Lebensgeschichte des Ur-Ur-Ur-Großonkels des Tädeus von Tadelshofen auseinander.

Isolde erzählte nicht zum ersten Mal von den Abenteuern des Rochus, das merkte man. Die Pointen saßen, die Dramaturgie der Erzählung funktionierte.

Berger-Grün, Rischke, Pedrillo und KQ hörten begeistert zu, bis der Kanarienquex plötzlich ausrief: »Menschenskind, Pavel! Das ist der reine Filmstoff. Dieser Rochus, der wäre was für Dich!« – »Was Du nicht sagst!«, gab Jonathan Rischke, der erneut den Übersetzerjob übernahm, grinsend zurück.

Er setzte KQ auseinander, das Filmprojekt, das Pavel Berger-Grün nach Deutschland geführt habe, trage den Arbeitstitel »Leichter als Luft«. Der geplante Film beschäftige sich mit Luftfahrtpionieren auf der ganzen Welt. Aber nur mit jenen, die auf das Prinzip gesetzt hatten, ein Vehikel so zu bauen, dass es leichter als die Luft und dadurch flugtauglich werde.

Es gebe nämlich in der Luftfahrtgeschichte im Wesentlichen zwei Ansätze, dozierte wiederum Isolde. Dem Prinzip ›Leichter als Luft‹ folge man zum Beispiel, wenn man ganz simpel einen Drachen steigen lasse. In die Reihe ›Leichter als Luft‹ gehöre die gesamte Ballonfahrerei, aber auch der Zeppelin, wobei die nötige Leichtigkeit des Flugobjekts dann jeweils künstlich, durch heiße Luft oder Gas, erzielt werde.

»Die Yoga-Fliegerei gehört aber nicht dazu, oder, Pedrillo?«, warf KQ dazwischen.

»Leider nein. Die meisten Yogis sind selbst nach langen Fastenzeiten noch schwerer als Luft«, meinte der. Die Astralreise gehöre womöglich in diese Rubrik.

Dem Prinzip ›Schwerer als Luft‹, fuhr wiederum Isolde fort, sei der gesamte Flugzeugbau zugehörig. Dieses Prinzip sei erst mit der Entwicklung moderner Motoren umsetzbar geworden und habe sich dann rasant durchgesetzt. Bis dahin sei die Menschheit immer auf die Leichtigkeit angewiesen gewesen, um zu fliegen. »Und einmal oben, war dann das einzige Antriebssystem der Wind«, schloss Isolde.

»Es lebe das Prinzip ›Leichter als Luft‹!«, rief der Kanarienquex aus und entzündete einen Joint, an dem diesmal auch Jonathan und, zu KQs größter Befriedigung, Pavel Berger-Grün zogen. Man stand und rauchte und bewunderte die Schönheit dieser Eingangshalle, ihrer Säulen, ihres Stucks und ihrer marmornen Böden. »Statuario Marmor«, erläuterte Isolde und zeigte auf einen roten Fleck im Weiß des kostbaren Steins. »Rotwein übrigens«, fügte sie beruhigend hinzu: »Ein sehr alter Jahrgang, wie zu vermuten ist. Kein Blut. Wir haben das untersuchen lassen.«

Der Kanarienquex verharrte vor dem Luftfahrergedicht und runzelte die Stirn: »Ich hab da mal ’ne ganz andere Frage. Dieses Zeichen. Da. Das da unten. Das ist doch ein Freimaurerzeichen!«

KQ zeigte auf Verzierungen, die das Luftfahrer-Gedicht August Langbeins umrankten. Das Symbol, auf das der Quex hindeutete, stellte seiner Meinung nach das Zeichen der Loge der neun Schwestern dar.

Wie Isolde erklärte, sei einer der Gebrüder Montgolfier tatsächlich Mitglied in dieser Loge gewesen, die trotz der Kürze ihres Bestehens als eine der einflussreichsten im Paris ihrer Zeit gelte. Ob Rochus von Tadelshofen seinerseits Freimaurer gewesen sei oder nicht, habe bisher nicht geklärt werden können.

»Soso«, kommentierte der Quex und gab sich Mühe, eine bedeutungsschwangere Miene aufzusetzen.

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