Leichter als Luft, Folge 48 — Kampf um die Ehre

Berlin, U-Bahn
Quelle: Pixabay

Der Kanarienquex versumpft im Internet – oder erwacht er zu neuem Denken? Jonathan Rischke kämpft gleichzeitig um seine Ehre.

 

Der Kanarienquex hatte ein neues Hobby: Stundenlang saß er kiffend vorm Rechner – und wenngleich das nun nicht unbedingt neu war, surfte er nunmehr im Internet, anstatt sich in Online-Games zu vertiefen, und suchte nach dem, was er »unabhängige Information« nannte oder schlicht: »die Wahrheit«.

Ein Forscher war KQ früher schon gewesen. Die Dynamik der menschlichen Psyche hatte ihn interessiert. Die Kartografie jener Welten hatte er nachzuvollziehen versucht, die er tief im Inneren wähnte, auf jener anderen Seite der Wirklichkeit, die nur durch das Tor außergewöhnlicher Bewusstseinszustände zu erreichen war.

Jetzt erfasste ihn das Interesse für verborgene Zusammenhänge der großen Politik und für historische Fragen. Er pfiff vorsorglich auf das, was er abfällig »Schulwissen« oder »offizielle Geschichtsschreibung« titulierte, und jagte wie besessen durch die Weiten des Netzes.

Wie ein Vielfraß schaufelte er Information in sich hinein. Hatte er sich soeben noch mit vermeintlichen Geheimnissen um den Bau der Pyramiden beschäftigt, war er zehn Minuten später mit der Geheimgeschichte des Vatikans oder des Freimaurerordens befasst und bald darauf mit der Ermordung John F. Kennedys, mit der Gründung der Federal Reserve Bank, der Politik der Nahrungsmittelkonzerne oder mit den neuesten, höchstgeheimen Waffensystemen der US-Armee.

Er, der Unglaublichkeiten jeglicher Art seit je für ausgesprochen möglich erachtet hatte, so sie das Innere betrafen, stellte nun auch im Außen der Welt alles bisher unhinterfragt Geglaubte rückhaltlos infrage.

Man hatte ihn belogen, fand er. Abgefüllt hatte man ihn mit Fakes und gezielten Fehlinformationen. Und er hatte es noch nicht einmal bemerkt! Bei all seinem ach so kritischen Bewusstsein als Cyberhippie war er dem Mainstream hörig gewesen: ein treudummes Schaf, ein Schlafschaf, ein Systemsklave und Lemming und Medienopfer.

Jetzt aber war der Quex erwacht! Der Schleier war zerrissen, und er war den versteckten Zusammenhängen auf der Spur, die das scheinbar Zufällige im Weltgeschehen zu steuern wussten, mit unsichtbarer, starker Hand. Und er begann zu ahnen, worauf diese finsteren Mächte, deren Schattenriss er jetzt deutlich erkannte, am Ende eines auf Jahrhunderte angelegten Masterplans hinauswollten.

Jonathan Rischke rannte wie ein gehetztes Tier in seinem Loft auf und ab.

Obzwar er ein reines Gewissen und nie jemandem übelgewollt hatte, gab es so einiges in seiner Vergangenheit, das nicht nur Böswillige genüsslich ausschlachten, sondern auch Wohlmeinende sehr leicht missinterpretieren und gegen ihn auslegen konnten.

Hinter seinen vor Angst zuckenden Stirnfalten setzte er selbst die Geschichte seines Lebens zu einem fiktiven Hetzartikel zusammen, den nur jemand aufzuschreiben brauchte, um ihn ein für alle Mal zu erledigen. Und ein solcher jemand war den Geheimnissen seines Aufstiegs auf der Spur: Die Mercedes hatte ihm unmissverständlich gedroht und diese Bluthündin Germaine Gamma auf ihn angesetzt. So oder so ähnlich würde das dann klingen, aus der gefürchteten Feder der Lola Mercedes, malte Jonathan Rischke sich aus:

Eine Neu-Berliner Karriere

Wohlstandsverwahrlost und gelangweilt vom gesicherten Leben des westdeutschen Mittelstandes, ist da einst Einer ausgezogen, um sich selbst spüren zu lernen in den Krassheiten der elektronischen Subkultur der Neunzigerjahre.

Erzogen, Führungspositionen zu übernehmen, hat sich der Eine zum Veranstalter gemausert und ein filigranes Doppelleben geführt, wie das nun eben Einer gelernt hatte, im heimischen Morast bürgerlicher Doppelmoral.

Mit den naiven Hippiekindern hat dieser Eine dann die abgefucktesten Partys gefeiert, geträumt von der besseren Welt und von den Mysterien der Kraft philosophiert – und gleichzeitig mit den miesesten Haifischen der Immobilienspekulation gedealt.

An ebendie hat der Eine schließlich sein Elektroparadies, das anderen Heimat und Traumwelt gewesen, heimlich verscherbelt. Die blutigen Schädel der Elektrohippies bei der brutalen Räumung des Paradieses nahm der Eine in Kauf, oder besser: in Verkauf!

Von schlechtem Gewissen und jahrelanger Reue aufgerieben, von Eitelkeit und Publicitygeilheit angestiftet, hat dieser Eine dann allerdings einen geradezu klassischen Fehler begangen. Er kehrte gewissermaßen an den Tatort zurück – indem er eine Kampagne gegen ebenjene Immobilienhaie unterstützte, die am Beginn seines Reichtums gestanden waren.

Er tat dies wohl in der Hoffnung, dieser schrude Move werde ihn reinwaschen vor sich selbst und ewig sichern gegen Verdächtigungen Dritter. Jedoch hat – gerechte Ironie der Geschichte! – exakt jener finale Versuch der Reinwaschung den ganzen dreckigen Urschlamm eines sagenumwobenen Aufstiegs ans Tageslicht gespült.

Dieser Eine, Jonathan Eduard Rischke, Rechtsanwalt, 47 Jahre, gilt in besten und zweitbesten Kreisen Berlins …«

Ja, sagte sich Jonathan: Genau so konnte man das aufschreiben. So konnte man sein Leben darstellen. Und würde er eine entsprechende Story zu lesen bekommen über einen ihm Unbekannten, so würde er sie vermutlich glauben und sein Urteil über den Beschriebenen stünde schnell fest.

Allein: Es war alles ganz anders gewesen.

Beginnend mit einem Elternhaus, das wohlhäbig, westdeutsch und bürgerlich, allerdings auch ein Hort der Gewalt und Erniedrigung durch einen cholerischen Vater und eine medikamentenabhängige Mutter gewesen war, fand er selbst, Jonathan Rischke, in der Rückschau mehr als genug mildernde Umstände für sich und sein Tun.

Keineswegs war dieses Leben ein geschmeidiges Nach-Oben-Sinken gewesen, wie sich das die Mercedes vermutlich vorstellte. Fast war er draufgegangen am häuslichen Terror seiner Kindheit und Jugend, und mehr als einmal an seinen inneren Wunden, erinnerte sich jetzt Jonathan und strich sanft über die Narben an seinem linken Arm: Wunden, die er sich in Schüben des Selbsthasses eingeritzt hatte, und bleibende Erinnerungen an eine Coming-Out-Phase, die wenig glücklich verlaufen war.

Abgerichtet war er worden, seit frühesten Kindertagen, von haltlos ehrgeizigen, reichlich kaputten Eltern. Gezwungen hatte man ihn auch in dieses Jura-Studium. Aber sicherlich: Er hatte sich gefügt, unbewusst womöglich hoffend, dieser Gehorsam würde das elterliche Entsetzen über sein Schwulsein ausgleichen und seine angestammte Position wiederherstellen, als erstgeborener Sohn einer aufsteigenden Sippe.

In der Tat hatte der Vater jeden seiner Studienerfolge honoriert mit großzügigen Geldbeträgen. Aber für Jonathan hatte dieses Geld vor allem Freiheit bedeutet, Freiheit von der Erpressbarkeit durch ebenjenen Vater und den Einstieg in ein selbstständiges Leben.

Auch die Sache mit Shivas Paradize war anders gelaufen, als sich das anhand jener Dokumente darstellen ließ, die Jonathan nur allzu gerne vernichtet hätte, was ihm, dank eigener Schusseligkeit und eines Zerwürfnisses mit seinem Geschäftspartner Willbroox, allerdings nicht gelungen war. Denn Shivas Paradize, die vermeintlich uneinnehmbare Paradiesvogelfestung Berlins nach dem Mauerfall, war von Anfang an auf Sand gebaut gewesen.

Ohne Mama Valente, die ihm jene mütterliche Liebe geschenkt hatte, die ihm seine eigene Mutter bis heute verweigerte, hätte Shivas Paradize kein halbes Jahr überlebt. Aber die herzensgute Mama hatte die Treuhand-Fuzzis um den Finger gewickelt, sie ein ums andere Mal aufs Kreuz gelegt und schließlich so lange beschwatzt, bis die einem Separatverkauf der alten Betriebskantine zugestimmt hatten. Die strategische Blockadeposition der Valente war der Grund gewesen, dass das Kombinatsgelände schier unverkäuflich in den Akten der Treuhand gelegen war – und nicht irgendwelche Schutzkreise aus geheimen Zinken und hinduistischen Gottheiten!

Dann aber war M-Square auf den Plan getreten und die Jungs aus Finnland hatten sofort ganz andere Saiten aufgezogen. Hatten Druck auf die Behörden gemacht und die wiederum machten Jonathan das Leben zur Hölle. Die Lebensmittelkontrolle verlangte kostspielige Umbauten. Die Steuerbehörden griffen an. Die GEMA verlangte eine Nachzahlung im mittleren fünfstelligen Bereich.

Unter dem wachsenden Druck von außen war es zu immer schärferen Konflikten zwischen ihm und Thom Willbroox gekommen. »Take the money and run«, hatte der gesagt und dafür optiert, von den Finnen einen möglichst hohen Preis für die Kapitulation herauszuschlagen. Dass derselbe Willbroox gleichzeitig keine Probleme damit hatte, an ahnungslose Siedler weiterhin »Wohneinheiten« im alten Kombinat zu vermieten, machte Jonathan Rischke rasend.

Kurzum: So intakt, wie der Laden den Feiernden bis zum Schluss erschienen sein mochte, war Shivas Paradize nicht gewesen: sondern de facto insolvent und die Betreiber heillos zerstritten.

Was Jonathans Widerstandswillen endgültig brechen sollte, waren dann aber weder die Machenschaften der Finnen, noch die Zumutungen der Behörden noch der eskalierende Streit mit Willbroox. Es war das Desaster des vierten Shiva-Gate-Festivals.

Jonathan war immer bewusst gewesen, dass die Shiva Gate ein unwägbares Risiko beinhaltete. Der Prozentsatz der Besucher, die psychoaktive Substanzen konsumierten, war enorm hoch, der Wahnsinnsfaktor übergroß. Der Spontaneität der feiernden Menge waren kaum Grenzen gesetzt. Jahr für Jahr fanden immer krassere Wesen ihren Weg in den Park der Jugend. Und das revolutionäre Potential der Veranstaltung, die sich den kollektiven Durchbruch zu neuen Welten ja auf die Fahne geschrieben hatte, nahmen viele der Besucher außerordentlich ernst.

Bei der letzten Shiva Gate war dann von Anfang an unverkennbar gewesen, dass der Druck in diesem Dampfkochtopf einen kritischen Punkt erreicht hatte. Zwischen den Feiernden hatten sich feindselige Fraktionen gebildet und die Atmosphäre war immer angespannter geworden, bis es erst zu dem fatalen Fötusfund in der Frauentoilette kam, dann zu einer Massenpanik und genau in diesem kritischen Moment zu einem Flammeninferno auf dem Parkplatz. Letzteres war, wie Jonathan Stein und Bein schwor, eindeutig Brandstiftung gewesen, auch wenn er und Thom Willbroox alles so hindrehten, als ob ein technischer Defekt und zu nahe aneinander geparkte Autos die Ursache gewesen seien.

Für Jonathan stand fest, dass die Finnen hinter dieser Aktion standen. Womöglich konnten es auch tatsächlich Faunas »Golfnazis« gewesen sein, dann aber beauftragt von den Finnen.

Dass Neolin 2, Fauna, KQ, das Weazel und diese ganzen anderen Hippiedeppen diese totale Katastrophe namens »Shiva Gate« nicht anders zu deuten wussten, denn als spirituelles Massenerweckungserlebnis, während er und Willbroox verzweifelt versuchten, ein sinnvolles Krisenmanagement hinzubekommen, gab Rischke den Rest.

So kam es, dass Jonathan endlich zustimmte, das Angebot der Finnen anzunehmen. Er hatte gekämpft für Shivas Paradize, wie ein Löwe, bis zum Schluss. Die Kluft zwischen Schein und Wirklichkeit jedoch war unüberbrückbar geworden, Rischke und Willbroox erpressbar und Shivas Paradize unhaltbar.

Die Modalitäten der Kapitulation hatte Jonathan dann en détail ausverhandelt. Ein geordneter Rückzug ohne Verluste war ihnen zugesichert worden. Aber die Tinte unter dem Vertrag, der den Verkauf der Krokodilbar an M-Square und die Aufhebung des Mietvertrags für das restliche Kombinat besiegelte, war noch nicht trocken gewesen, als die Bullen angerückt waren und geradezu ein Exempel statuiert hatten an der unbequem gewordenen Berliner Elektroszene.

Diesen katastrophalen Untergang seines geliebten Paradieses hatte Jonathan nie verwunden. Und als der Quex Jahre später mit dieser an sich albernen Balkonstory angekommen war und er als Eigentümer des betreffenden Hauses seine alten Feinde von M-Square entdeckte, hatte Jonathan innerlich jubiliert und den Tag der Rache kommen gesehen.

So war das also gewesen, aus seiner Sicht. Und der Grund seines plötzlichen Reichtums war auch keineswegs der lausige Deal mit den Finnen gewesen. Sondern ein doppelter Herzinfarkt seines cholerischen Vaters!

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4 Kommentare

        1. Darauf einen Friedenspanzer, sind auch nett😉
          Ich ess übrigens nur Blumen, wegen des Gewissens
          Ein bisschen Anarchie muss sein.

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