Leichter als Luft, Folge 45 — Der ganz große Coup

Berliner Mauer, Bruderkuss
Quelle: Pixabay

Lola Mercedes hat die Mainstream-Medien verlassen und ein alternatives Magazin im Internet gestartet. Die Zugriffszahlen sind fantastisch. Und Lola will den ganz großen Coup landen.

 

726 003 Zugriffe von 275 986 einzelnen Usern! So viele waren im vergangenen Monat auf ihrer Seite unterwegs gewesen! Lola Mercedes kontrollierte fast suchthaft die Statistik ihres Blogs, und Google Analytics verschaffte ihr die erfreulichsten Momente. Alleine ihr aktueller Blogeintrag »Lundergreens Erben« war innerhalb einer Woche 85 389-mal angeklickt worden. Das waren Zahlen, die viele Artikel auf den Online-Portalen etablierter Tageszeitungen nicht erreichten.

Lolas Online-Magazin hatte einen denkbar günstigen Start hingelegt.

Das Stadtmagazin hatte sie zuvor mit großem, öffentlichem Tamtam als neue Chefredakteurin auf den Schild gehoben. Als Lola sich aber Ausgabe für Ausgabe festgebissen hatte an dem Fall Lundergreen, setzte es erste mahnende Worte der Geschäftsleitung. Lola ließ ab von dem Thema, bis die sechsmonatige Probezeit vorbei und ihr Arbeitsverhältnis abgesichert war.

Heimlich setzte sie Germaine Gamma, die beste (und einzige) investigative Journalistin der Redaktion, auf den Fall an. Bald waren die Verflechtungen namhafter Berliner und Bundespolitiker in den Korruptionsskandal um den Immobilienfonds M-Square ausrecherchiert. Alles war wasserdicht belegt, mit Fotos und Kontoauszügen, Filmmaterial und Eidesstattlichen Erklärungen: die Schmiergeldzahlungen an Politiker aller Senatsparteien, die diversen Rechtsbrüche der Baubehörde, ein gemeinsamer Urlaub Lundergreens mit dem früheren Wirtschaftssenator und beiden Familien, die perfide Erpressung eines Politikers der Piratenpartei, als der in einem Bezirksausschuss Schwierigkeiten zu machen drohte …

Als Lola das zur Veröffentlichung aufbereitete Material schließlich der Geschäftsleitung vorgelegt hatte – Kopien natürlich, die Originale verwahrte sie an einem sicheren Ort –, hatte sie eisiges Schweigen geerntet. Man werde das Material zunächst in Ruhe sichten, hieß es.

Eine Woche später hatte sich die Chefetage dagegen entschieden, die Bombe platzen zu lassen, und das, obwohl diese Story das Stadtmagazin bundesweit ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit katapultiert und die Auflage zweifellos erheblich gesteigert hätte.

Stattdessen forderte man Lola kategorisch auf, jede weitere Nachforschung in dem Fall zu unterlassen und die Originale ihres Recherchematerials herauszurücken. Als sie sich weigerte, bot man ihr unvermittelt 25 000 Euro für das Material – sowie für ihre Unterschrift unter ein Dokument, in dem sie sich verpflichtet hätte, keinerlei Veröffentlichungen über den Todesfall Lars Lundergreen, über das Unternehmen M-Square und die Politik der Berliner Baubehörden mehr zu tätigen. Bei Zuwiderhandlung wurde in dem Schriftstück eine Konditionalstrafe von 250 000 Euro festgesetzt.

Lola fühlte sich wie in einem schlechten Mafiafilm und verweigerte sich, selbstverständlich. Daraufhin setzte man in einem zweiten Vertragsentwurf das Schweigegeld auf 50 000 Euro hoch und die Konditionalstrafe auf 500 000. Lola weigerte sich erneut.

Zehn Minuten später hatte sie die fristgerechte Kündigung auf ihrem Schreibtisch liegen. Bis zum Ablauf der Frist sei sie bei vollen Bezügen beurlaubt. Für die Redaktionsräume des Stadtmagazins und das gesamte Verlagsgebäude wurde ihr außerdem mit sofortiger Wirkung Hausverbot erteilt. Sie habe dreißig Minuten Zeit, ihren Arbeitsplatz zu räumen.

Lola informiere ihren Anwalt – John Rischke! Der bestellte der Geschäftsleitung per Fax, dass Lola für die Räumung ihres Büros mindestens vier Stunden benötige, und drohte, dies auf dem Wege einer einstweiligen Verfügung durchzusetzen. Die Geschäftsleitung willigte ein, zwei Stunden zu gewähren.

Lola beeilte sich, aus dem schlechten Mafiafilm einen Agententhriller werden zu lassen. Sie schloss ihre Bürotür ab und nutzte die verbleibende Zeit, um aus den Redaktionssystemen alles Mögliche herauszukopieren. Als sie mitten in ihrer Datensammelaktion feststellen musste, dass sie aus dem Redaktionsnetzwerk gekickt worden war, loggte sie sich mit den Zugangsdaten eines Kollegen wieder ein und kopierte weiter.

Zwei externe Festplatten befüllte sie, kühl und geschwind handelnd. Eine Liste aller Anzeigenkunden war darunter, interne und externe Verteilerlisten, das Gesamtverzeichnis sämtlicher Autoren, Mitarbeiter und Geschäftspartner des Stadtmagazins, Recherchedossiers, Agenturmaterial und dergleichen mehr – alles, was für Lolas journalistische Zukunft entfernt nützlich sein konnte.

Denn an dieser Zukunft zweifelte sie kein bisschen. Im Gegenteil,

Lola gedachte, ihre Ausstoßung als Chefredakteurin nach Kräften zu skandalisieren und damit das Schwungrad neuer, eigenständiger Unternehmungen kraftvoll in Bewegung zu setzen.

Das klappte dann auch vorzüglich.

In der Medienwelt der Hauptstadt kannten fast alle Lola Mercedes. Sie polarisierte. Man hasste oder man liebte sie. Aber selbst ihre erklärten Gegner schätzten sie als grandiose Stilistin und bestens informierte Kollegin.

Dass sie auf den Chefredakteursposten des Stadtmagazins gehievt worden war, war dennoch eine faustdicke Überraschung gewesen. Lola galt als schwierig im zwischenmenschlichen Umgang und war legendär für ihren Unwillen, sich hierarchischen Strukturen unterzuordnen. Man war gespannt gewesen, ob sie fertigbringen würde, eine Redaktion zu führen, noch dazu im Einvernehmen mit einer notorisch interventionsfreudigen Geschäftsleitung.

Lola hatte die Skeptiker widerlegt und die ersten sechs Monate scheinbar mühelos überstanden. Das Stadtmagazin wirkte frischer als zuvor, die Mediendaten verbesserten sich. Nach der Probezeit hatte die Geschäftsleitung Lola mit großer Zufriedenheit als Chefredakteurin bestätigt, und diese Meldung war vom Verlag weithin publiziert worden. Zwei Ausgaben später schmiss man Lola raus.

Diese unvermittelte Wendung schlug unter jenen paar tausend Leuten, die in der Hauptstadt so etwas ähnliches wie »öffentliche Meinung« simulieren, Wellen erregter Geschwätzigkeit. Niemand konnte sich recht erklären, was eigentlich vorgefallen war.

Wilde Gerüchte gingen um. Nur ein einziger Kollege hatte allerdings den Mumm, bei Lola persönlich anzurufen, um die Hintergründe der Entlassung zu erfahren.

Lolas Pressemitteilung, in der sie den Rausschmiss mit ihren hartnäckigen Recherchen zum Berliner Bauskandal erklärte, wurde allgemein mit größtem Interesse zur Kenntnis genommen und ausgiebig diskutiert – in den Zeitungsspalten aber ignoriert. Alle duckten sich weg und brachten die Nachricht vom Wechsel der Chefredaktion beim Stadtmagazin bestenfalls als neutrale Meldung in einer Randspalte.

Der eine Mutige aber, der dem Fall öffentlich auf den Grund ging, ein gewisser Irinäus von Tadelshofen, glich das Versagen der Meute im Alleingang aus. Der Mann war vormals bei der inzwischen eingestellten Financial Times Deutschland tätig gewesen und jetzt fester Redakteur im Feuilleton der Welt. Er brachte dort eine bissige Kolumne mit dem Titel »Ein Mercedes unter lauter Trabanten«. Darin rechnete er süffisant mit der Provinzialität eines gewissen Hauptstadtmagazins ab, dessen Geschäftsleitung mit der journalistischen Brillanz und Redlichkeit der Chefredakteurin wohl schlichtweg überfordert gewesen sei. Irinäus von Tadelshofen lieferte aber auch genug offene und versteckte Hinweise auf den Fall Lundergreen und den Korruptionsskandal um M-Square, um die Fantasie der Welt-Leser über die wahren Hintergründe der Entlassung ausgesprochen zu beflügeln.

Diese mediale Steilvorlage und die Abfindung des Stadtmagazins, die Jonathan Rischke herausverhandelt hatte, ermöglichten Lola, den Start ihres eigenen Webmagazins mit einigem Wirbel und großzügigen Werbemaßnahmen im Internet zu inszenieren.

Lolas zweiten Blogpost, der die Fragwürdigkeiten rund um den vermeintlichen Sexunfall Lars Lundergreens zum Inhalt hatte (»Der Tod des Spekulanten – das Schweigen der Behörden«), griff wiederum ein einzelner, mutiger Journalist auf. Aber diesmal war es nicht Irinäus von Tadelshofen, der sich der Sache annahm, sondern Frank Schirrmacher höchstpersönlich.

Nach diesem Ritterschlag durch den FAZ-Herausgeber sah sich Lola in die erste Riege der deutschen Journaille emporgehoben – und das, wo sie über keine weitere Publikationsplattform mehr verfügte, als ihr kürzlich gestartetes »Online-Magazin«: einen privaten Blog. Der allerdings entwickelte umgehend eine Durchschlagkraft und Reichweite, von der andere nur träumen konnten.

Dass die restlichen Mainstreammedien Lolas Blog und die Ergebnisse ihrer Recherchen beharrlich totzuschweigen versuchten, ließ sich da verschmerzen. Zumal ein erster Aufruf zum Crowdfunding auf Anhieb 10 000 Euro in Kleinspenden einbrachte. Dazu kam ein anonymer Scheck angeflattert, über sage und schreibe 15 000 Euro! Lola rätselte, wer der Großspender sein könnte und war über diesen Geldeingang mindestens so erfreut wie besorgt. Offenkundig hatte da ein unbekannter Jemand mit hinreichendem finanziellem Hintergrund ein gehöriges Interesse, die Recherchen über den immer weitere Kreise ziehenden Berliner Bauskandal kräftig anzuschieben.

Lola investierte das Geld, um Germaine Gamma aus der Redaktion des Stadtmagazins abzuwerben, wo sie ohnehin komplett unterfordert gewesen und auf die Abschussliste geraten war. Lola konnte natürlich deren bisheriges Redaktionsgehalt nicht annähernd aufbringen, aber Germaine hatte politische Ansprüche – und sie witterte, dass der eigentliche Skandal, der sich bisher noch im skandalösen Korruptionswirrwarr um M-Square verborgen hielt, das Potential haben würde, die Bundesrepublik in ihren Grundfesten zu erschüttern.

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2 Kommentare

    1. Adults Only

      Immerhin ist Frank Schirrmacher Teil des Romans und Michel Houellebecq ist zweiter Preisträger des Frank-Schirrmacher-Preis !!

      Frauen mit Penis oder Männer mit Gynäkomastie, dem Einen ein verstecktes Leid, der Anderen eine offene Leidenschaft.

      Man kann nicht alles erklären

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