
Neolin2 ist wieder aufgetaucht – und der Kanarienquex taucht ein: in die tiefsten Tiefen des Internets. Wird er nun zum Verschwörungstheoretiker?
»Manometer! Die sauen uns wieder ein heute, des gibt’s doch gar nicht«, rief der Quex empört ins Zimmer zurück. »Wer?«, fragte Fauna, die am Laptop saß, ihren Facebook-Account bereits aktualisiert hatte und jetzt bei gayromeo.com unterwegs war, Richtung Balkon zurück. »Ach, Chemtrails! Der ganze Himmel ist wieder voll mit der Scheiße!«
Fauna trat zu ihm und sah über die Hausdächer hinweg auf einen schlierenverhangenen Himmel. »Wenn das von Kondensstreifen kommt, fress’ ich meinen Kater!«, deutete KQ nach oben. Fauna verstand nicht, worauf der Quex hinauswollte. Der hob zu einer ausführlichen Erläuterung an.
Demzufolge sei es eine erwiesene Tatsache, dass die immer häufiger auftretenden Streifen am Himmel, die sich auch immer länger in der Luft hielten, eben gerade keine Kondensstreifen seien. Vielmehr würde von Sprühflugzeugen ein chemischer Cocktail ausgetragen, Silberjodid und Styroporteilchen seien unter anderem darin enthalten. Zum Teil würden diese Bestandteile auch dem Flugbenzin normaler Verkehrsmaschinen beigemischt oder über spezielle Düsen versprüht. Jedenfalls erkenne man Chemtrails daran, dass sie in der Regel als Gitternetzlinien ausgebracht würden und sich stundenlang nicht auflösten.
»Aha«, meinte Fauna: »Und was wäre der Sinn der Operation?«
Das sei, wie KQ einräumte, noch nicht vollends geklärt. Es sei wohl einerseits ein Versuch der NWO, die Klimakatastrophe abzuwenden. Wetterbeeinflussung im globalen Stil, und das Styropor solle die UV-Strahlung reflektieren, um dadurch die Erderwärmung zu mildern. Denkbar sei aber auch oder zusätzlich zu der ersten These, dass die Chemtrails Teil eines Programms der chemisch-psychologischen Kriegsführung seien, »Massenverdichtungswaffen«, wie KQ das nannte. Einige behaupteten sogar, Chemtrails sollten die Möglichkeit globaler Projektionen schaffen, um am Himmel Symbole oder Figuren aufscheinen lassen zu können, mittels derer eine neue Weltreligion gestiftet werden sollte. Daran glaube er nun eher nicht, obwohl er der NWO natürlich so gut wie alles zutraue.
Neutral Weather Opposition? Natural War Operation? Nationale Wetterorganisation? Neue Waffenoptionen? Donna Fauna überlegte vergeblich, wer oder was sich hinter »NWO« verbergen könnte. Als sie KQ diesbezüglich fragte, erntete sie einen Blick von grenzenloser Überlegenheit. »Dass gerade Du das fragst, das ist echt ein Witz«, freute sich der Quex: »Sonst bist ja immer Du die politisch Informierte. NWO – das ist die Neue Weltordnung.«
Fauna: »Und wer soll das sein?«
KQ führte mit großen Gesten aus, die NWO sei eine Oligarchie superreicher Magnaten, die Rockefellers, die Rothschilds und andere darunter, welche das Spiel der Nationalstaaten längst steuerten, Finanzkrisen und Katastrophen gezielt auslösten und überhaupt eine Strategie der Eskalation entwickelt hätten, eben mit dem Ziel, aus dem globalen Schlamassel eine Neue Weltordnung in ihrem Sinne zu formen. Die würden auch planen, der ganzen Menschheit Mikrochips unter die Haut zu pflanzen, Kondensstreifen seien das da oben auf gar keinen Fall, und dass die NWO die letzten vorbereitenden Schritte für ihren Weltputsch unternehme, würde man ja nicht zuletzt an Haiti und Japan sehen. Oder ob ihr, Fauna, etwa nicht klar wäre, dass diese Erdbeben keine normalen Erdbeben gewesen, sondern mittels einer Erdbebenwaffe ausgelöst worden seien?
»Das war mir bisher nicht klar, nein!«, gab Fauna zu und war perplex.
Der Kanarienquex hatte sich, seit Fauna ihn kannte, nur widerwillig mit Politik beschäftigt. Spirituelle Bücher las er gerne, Philosophisches, Mystisches, Fantasy-Bücher, Werke über Kunsttheorie und die Klassiker der psychedelischen Literatur. Die Niederungen der Tagespolitik hatte er gemieden, hatte sich lieber verstiegen ins Abstrakte und Fiktive, als durch den Sumpf des Heutigen zu waten.
Gut. Reichlich verstiegen waren auch die gesammelten Thesen von Chemtrails, Erdbebenwaffen und der großen Weltverschwörung namens NWO, fand Fauna. Zudem befremdete sie der Eifer, mit dem KQ das alles vorbrachte. Das passte so gar nicht zu ihm. Und die faktenfreie Verkettung wilder Thesen zu einer besonders wilden Großthese, die er da veranstaltete, ging ihr schon methodisch total gegen den Strich.
Donna Fauna war nicht nur Polittunte, Autozündlerin und Elektrotranse – sie gehörte auch einer Generation von Aktivisten an, die noch ein solides theoretisches Fundament vermittelt bekommen hatten. Früher war Fauna Marxistin gewesen, selbstverständlich, und was für eine! Hatte alles besser gewusst und alles analysieren können mit dem jederzeit siegreichen Instrumentarium der Dialektik: These, Antithese, Synthese – Einleitung, Hauptteil, Schluss – Spiel, Satz und Sieg!
Genau dieser analytische Schematismus der marxistischen Klassiker, die starre Methodik und das unversöhnliche Besserwissertum der linken Orthodoxie hatten die ersten Risse in Faunas Theoriegebäude gezeitigt. Die grauenvolle Homophobie der marxistisch-leninistischen Linken hatte ein Übriges getan. Außerdem zerlegte sich das Massivgestein absoluter Wahrheiten, auf dem sie jahrelang gethront hatte, in lauter Kieselsteinchen, als die Depression, die Fauna nie ganz verließ, mit der panzerbrechenden Waffe des Weltzweifels draufhielt.
Faunas postmarxistische Transformationsphase musste natürlich auch wiederum in den erdenklich radikalsten Formen absolviert werden. Fauna versenkte das Boot ihres historischen Materialismus mit psychoaktiven Drogentorpedos, unterzog sich einer Therapie bei einem New-Age-Schamanen, trieb eine Weile im Meer des Okkultismus und rettete sich endlich an die Ufer der poststrukturalistischen Theorie. Mit Foucault und Guattari, LSD und Psylocibin, Judith Butler und Jiddu Krishnamurti dekonstruierte Fauna so gut wie alles, was sie jemals zuvor geglaubt hatte.
Donna Fauna hatte aber auch bald erkannt, dass die Philosophie der Postmoderne, wie zuvor der verknöcherte Marxismus, bestens geeignet war, gefährliches Denken lediglich vorzutäuschen, ohne die eigenen Karrierechancen ernstlich zu gefährden.
In Ermangelung realistischer Karriereoptionen ihrerseits hatte Fauna peinlich darauf geachtet, ihren Radikalismus in jede nächste Runde der Dekonstruktion mitzunehmen. Das war ihr gelungen und nunmehr ergab dieses Gebräu aus Rest-Marxismus, Poststrukturalismus und Cyber-Esoterik einen Cocktail von gehöriger Sprengkraft. Außerdem war Fauna Straßenaktivistin geblieben, bei all diesen Irrungen und Wirrungen.
Sie fand auch nichts billiger als dieses ewige Keulenargument der »Verschwörungstheorie«, das alle zu Spinnern und Verrückten erklärte, die der offiziellen Version eines an sich durchaus fragwürdigen Ereignisses widersprachen oder immerhin Zweifel anzumelden wagten. Verschwörungen und Operationen unter falscher Flagge hatte es schließlich immer gegeben, quer durch die Weltgeschichte.
Vom Treiben der heutigen Geheimdienste hatte Fauna schon weit vor den Enthüllungen Edward Snowdens im Jahre 2013 eine ungefähre, aber hinreichend diabolische Vorstellung besessen.
KQs NWO-Gebrabbel ärgerte sie trotzdem. Monströs kriminelle Aktionen einer Supermacht oder ihretwegen auch einer Oligarchie, Geheimdienstoperationen mit klar erkennbarer geostrategischer Zielsetzung, so etwas kam vor.
Dass am 11. September 2001 Osama Bin Laden mit seinen 19 Räubern auf einem aus Plastiksprengstoff gewebten, fliegenden Teppich in die Türme gerast war oder so ähnlich … Selbst die knapp weniger absurde offizielle Erklärung des Tathergangs stellte nach Faunas Dafürhalten erstens auch nur die Theorie einer Verschwörung dar – und zweitens eine nicht besonders glaubwürdige, noch dazu. Wenn Fauna jetzt, genau zehn Jahre später, die Videosequenzen aus New York ansah, erschien ihr das Filmmaterial geradezu amateurhaft fingiert!
Auch längerfristige Strategien wurden natürlich gefahren, und dass die von Marx analysierte »Tendenz zur Zentralisation und Konzentration des Kapitals« die Monopolbildung auf dem Weltmarkt an einen extremen Punkt entwickelt hatte, konnte sich Fauna lebhaft vorstellen. Dass dieser Prozess bis hin zur Herausbildung eines einzigen Weltmonopols vorgeschritten war, hielt sie allerdings für unwahrscheinlich.
Fauna hatte mittels des schönen, schwulen Michel Foucault ohnehin ganz andere Vorstellungen davon entwickelt, was das hieß: Macht.
Nach Faunas neuerem Verständnis war Macht gerade nicht dieser eine, unendlich verdichtete, zentrale Punkt, die Spitze der Pyramide, wie sich die Illuminatenjäger das dachten. Macht musste immer wieder neu hergestellt werden, in jeder Sekunde und Situation, und Macht konnte von knüppelhart bis butterweich die unterschiedlichsten Texturen annehmen. Dafür brauchte es soziale Maschinen auf allen Ebenen. Ohne unzählige Mikrofaschismen, in Form von hasserfüllten Nachbarn, Denunzianten und massenhaften, kranken Seelen zum Beispiel, konnte sich keine faschistische Diktatur etablieren oder halten. Man brauchte schon ein komplett verrücktes, seelisch total verkorkstes Volk, damit Weltkriege und Völkermorde möglich wurden.
Fauna selbst hatte es außerdem immer so erlebt, dass die ihr feindlich gegenüberstehende Macht nicht von einer winzigen Minderheit ausging – sondern von der Mehrheit. Keine »NWO« und auch nicht »das Kapital« musste die Menschen zwingen, einen biologischen Mann in Frauenklamotten leidenschaftlich zu verachten oder einen Menschen mit ungewohnter Hautfarbe zu verfolgen. Das mochte angefacht werden, von oben und mit der Wucht zentralisierter Medienmacht, wie drei Jahre zuvor, mit der Eugenik-Bibel von diesem frustrierten Beamtenarsch namens Sarrazin. Aber die Mehrheit sog diese Hasspropaganda allzu gierig auf, beobachtete Fauna.
Dieses Weltbild von den unschuldigen Mehrheitsmenschen, die immer nur verführt und vergiftet werden von einer bösen, fremden, zentralisierten Macht – das hatte sich Fauna längst abgeschminkt. Eine im Grunde kindliche Weltsicht war das: Ganz oben, in der weiten Ferne zog das Böse seine Fäden. Und als kollektive Opfer wir hier unten, verblendet und ferngesteuert, aber herzensgute Leute.
Die Leute waren aber nicht herzensgut, das war das eigentliche Problem. Die Weltrevolution scheiterte in erster Linie und immer wieder an der Arschlochigigkeit der Menschen, sagte sich Fauna. Selbst wenn die Staatsmacht schon erobert war, kroch das immer wieder an die Spitze und versaute alles!
Diese schaurige Mär von den allmächtigen Strippenziehern und der unschuldigen, ahnungslosen Mehrheit eignete sich auch viel zu gut, die Verantwortung des Einzelnen für die Weltmisere ins schwarze Loch zu verschieben.
Japan zum Beispiel hatte über fünfzig Atomkraftwerke gebaut auf einer Inselkette, unter der drei Kontinentalplatten aufeinander krachten. Alle Nase lang kam es dort zu Erdbeben. Aber eine nennenswerte Anti-Atombewegung gab es nicht in Japan, und Greenpeace, das waren für den Durchschnittsjapaner Irre, die ihm sein Walfleisch abjagen wollten, auf das er ein welthistorisches Anrecht zu haben wähnte. Wenn dann aber die Weltmeere abgefischt, die Wale fast ausgestorben waren und das große, statistisch längst überfällige Beben endlich kam und dabei eines der fünfzig japanischen AKW hochging … dann waren es die Amis mit ihrer geheimen Erdbebenwaffe, oder »die NWO«.
Letztere entpuppte sich bei genauerer Nachfrage als eine Gruppe jüdischer Familien.
Fauna gefiel das alles nicht.
Hatten Fauna und Neolin 2 denselben Geruch in die Nase bekommen? Wie so oft, damals in Shivas Paradize, als sie ein Herz und eine Seele gewesen waren?
Neolin war alarmiert. Seine außerplanmäßige Enttarnung durch Rischke und KQ mochte ihm schon nicht gefallen. Sich vom Techno-Schamanen zum Seelenheiler der upper class umzubauen, war nicht einfach gewesen. Er hatte an dieser Geldquelle lange gebastelt und Heather und Bobby monatelang umgarnt.
Am wenigsten gefiel ihm dieser von Tadelshofen. Jonathan hatte das alarmierte Neolin-Gesicht des Friedhelm Persch während den Ausführungen des Barons ganz richtig gedeutet.
Zunächst einmal war Neolin 2 überrascht gewesen von der spirituellen Potenz, die ihm in diesem kuriosen Freiherrn gegenübertrat. Dieser von Tadelshofen war ebenfalls ein Praktizierender, soviel stand fest. Zu einer energetischen Grundspannung, wie sie Neolin den ganzen Körper dieses scheinbar gediegenen Lebemanns durchzittern sah, kam man nicht ohne konsequente Übungen. Neolin sah diese Energie und schreckte innerlich zurück vor ihrer Dunkelheit. Ein Geruch war in ihm aufgestiegen in diesem Moment im Metternich-Center, als von Tadelshofen den Grafen Dürckheim zitierte. Es war ein altbekannter Geruch. Dieser Tadelshofen stank nach Massengrab und nach Gas, fand Neolin.
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