Leichter als Luft, Folge 43 — Alte Bekannte

Berliner Mauer, Graffiti
Quelle: Pixabay

Der Country-Club Republique Royal ist das neue Netzwerker-Paradies von Jonathan Rischke. Als er den Kanarienquex zu einem Vortrag dort einlädt, stoßen sie auf einen alten Bekannten …

»Wir sehen eine Welt voller Fragezeichen, einen gewaltigen Krisenknoten wie ein buddhistisches Kōan, schier unlösbar. Aber in der Lösung des Unauflösbaren liegt mehr als eine Antwort. Eine ganze neue Welt liegt darinnen.«

Der Zukunftsforscher, Heiler und Homöopath Friedhelm Persch sprach diese Worte, und der natürliche Hall in der alten Orangerie verstärkte die schwer zu erklärende, numinose Kraft, die ausging von dem Gesagten und von dem, der es sagte.

Handelsübliches Charisma oder echte Magie? Das fragte sich von Tadelshofen, der in einer hinteren Reihe neben Pavel Berger-Grün saß und diesem flüsternd übersetzte.

Am Inhalt des Vortrages, welcher unter dem Titel »Zur Weltenwende – Passagen transzendenten Bewusstseins« angekündigt worden war, konnte es nicht alleine liegen. Diese Mischung aus Nachhaltigkeits-Talk, Hausfrauen-Esoterik, Neo-Schamanismus und New-Age-Philosophie, die da referiert wurde, war nicht wirklich spektakulär.

Aber der Freiherr hörte einen stummen Subtext mitlaufen, eine Botschaft von betörender Gefährlichkeit, verkapselt im Nicht-Ausgesprochenen. Von Tadelshofen hatte eine Ader für so was. Dieser Persch, so viel stand fest, der meinte mehr, als er sagte.

Insgesamt 35 Personen, fast ausnahmslos Clubmitglieder der République Royale, waren ins Metternich-Center gekommen, um den Ausführungen Friedhelm Perschs über den Kollaps des alten Denkens und den Umbau der Welt in und außerhalb der menschlichen Seele zu lauschen. Heather und Bobby saßen in der ersten Reihe und blickten wie gebannt auf den Redner. Auch der Yoga-Unternehmer Pedrillo Caldez und seine Janette waren da.

Und jetzt stieg die Zahl der Zuhörer auf 37 an, denn Jonathan Rischke kam herein, zu spät, natürlich, hatte er doch, von seinen neuen Rechten als Vollmitglied der République Royale Gebrauch machend, den Kanarienquex mitgebracht. Zu zweit hatten sie dann noch ewig auf Lola Mercedes gewartet, ehemals Chefredakteurin des Stadtmagazins und jetzt deutschlandweit prominente Bloggerin. Aber die war einigermaßen durch den Wind in letzter Zeit, lag mit bösen Rückenschmerzen danieder und hatte sie diesmal komplett versetzt.

Von Tadelshofen winkte Jonathan und den Kanarienquex zu sich und deutete auf die noch leeren Stühle neben dem seinen. »Schau Dir das an!«, stieß KQ halblaut aus, als sie sich, so leise es ging, gesetzt hatten. »Das glaub’ ich nicht!«, gab Jonathan fassungslos zurück. »Des isser, eindeutig, des isser!«, flüsterte wieder KQ.

Auch dem Zukunftsforscher, Heiler und Homöopathen Friedhelm Persch blieb für einen Moment die Luft weg, als er die Neuankömmlinge fixierte.

»Mach Dir nichts draus. Ich bin inzwischen Rechtsanwalt geworden. Auch nicht schön«, flötete Jonathan Rischke fröhlich, als die Veranstaltung zwischen Vortrag und Diskussion in die Pause gegangen war. Er gab sich alle Mühe, die Distanz zu überbrücken, die der ungewohnte Rahmen ihres Wiedersehens mit sich gebracht hatte.

»Friedhelm Persch! Ich pack’s einfach nicht! Friedhelm Persch! Oh Mann! Friedhelm 2«, japste KQ, bevor er erneut in unkontrolliertes Kichern und Glucksen ausbrach.

»Könnt Ihr mich auch mal einweihen? How come, dass Ihr Euch so erheitert?«, beschwerte sich Pedrillo.

»Eine herrliche Anlage, dieses ganze Clubgelände!«, fuhr Persch zischelnd dazwischen, angstvoll, denn von Tadelshofen und Berger-Grün kamen jetzt daherspaziert.

»Mein lieber Persch! Es ist nicht so meine Art normalerweise, die Welt durch das Prisma des Mystischen zu erblicken, wie sie vorhin sagten. Ich bin eher bodenständig veranlagt, wissen Sie. Mais c’est bon. Sehr erhellend und stellenweise auch ein wenig erdunkelnd, Ihr Vortrag. Vielen Dank, mein Lieber, in der Tat!«, kumpelte von Tadelshofen gepflegt los.

»Verzeihen, meine Deutsch is nich so good but: very impressive, indeed!«, sekundierte Pavel Berger-Grün.

Friedhelm Persch switchte auf Englisch um und unternahm einen Versuch, sich im Gespräch mit Berger-Grün und dem Freiherrn von KQ und Rischke zu entfernen, was Letzterer beherzt unterband. Sie würden es nämlich nicht für möglich halten, hob er an, dass er und der Kanarienquex hier unverhofft auf einen Freund aus alten Zeiten gestoßen seien. Freilich habe man den Namen Friedhelm Persch heute zum ersten Mal gehört, an diesem ungewöhnlich sonnigen Herbsttag in der République Royale. Seinerzeit nämlich habe man den heutigen Referenten gekannt als … Neolin!

»Neolin 2«, gab KQ furztrocken hinterher.

»Seher und Hausschamane von Shivas Paradize!«, schloss Jonathan Rischke die Enthüllung feierlich ab.

Fragende Gesichter.

»Shivas Paradize. So hieß ein Goa-Club in Berlin. Da haben wir uns kennengelernt«, versuchte KQ zu erläutern.

»Und einen Großteil unseres damaligen Lebens verbracht«, fügte Jonathan an.

Von Tadelshofen schaute überrascht: »Sie haben in diesem Schuppen gewohnt, oder wie darf ich mir das vorstellen, mon vieux copain?«

»Wissen Sie, Tädeus: Techno, Goa, Schranz und Trance …«, versuchte Rischke sich begreiflich zu machen.

»Wer bitte?« Von Tadelshofen verstand kein Wort.

Rischke: »Also, die elektronische Musikkultur der damaligen Zeit, das war mehr als Musik. Das war eine komplette Welt in der Welt. Da hatte sich eine regelrechte Alternativ-Ökonomie entwickelt in dieser Partyszene, eine Ökonomie, die auf dem Prinzip des Schenkens basierte, und es gab einen Haufen Leute, die zumindest einen Hauptteil ihrer Zeit wirklich in diesen Schuppen gelebt haben. Tag und Nacht sind in dieser Gegenwelt ohnehin so ziemlich dasselbe gewesen, abgesehen vom Helligkeitsunterschied draußen vor der Tür, von dem man einige Leute wispern hörte. Dafür sind wir völlig andere gewesen. Ich zum Beispiel war ein Fürst im Zeichen des indischen Gottes Shiva, der Kanarienquex war … ahm, na, der war damals schon der Kanarienquex … der Referent des heutigen Tages jedenfalls hieß nicht Persch und schon gar nicht Friedhelm, sondern eben Neolin 2 und fungierte in Shivas Paradize tatsächlich als eine Art Hausschamane! Einige der Gäste hatten einen spirituellen Heiler ziemlich nötig, wenn Sie wissen, was ich meine. Und wenn Sie der Herr Persch beim Vortrag im Metternich-Center bereits beeindruckt hat: Tädeus, Sie machen sich keine Vorstellung, welche Kraft von diesem Neolin 2 ausging. Eine Festung der Stille war der, inmitten eines ekstatischen Pulks, ein Zauberer der alten Zeit, nicht nur den Klamotten nach. Damals.«

Jonathan Rischke hatte erwartet, für seine Ausführungen über die gemeinsame Vergangenheit im Berlin der zwanzig magischen Jahre ungeteilte Bewunderung zu ernten, wie einst, als von Tadelshofen in großer Runde sein Engagement rund um die Balkon-Kampagne geoutet hatte.

Pavel Berger-Grün reagierte auch wie gewünscht und machte, als Pedrillo ihm das Gesagte übersetzt hatte, ein beglücktes Gesicht. Von Tadelshofen, hinwiederum, schien etwas pikiert. Offenkundig hatte Rischke den Freiherrn überfordert mit seinem Bericht aus der Welt der Elektrohippies, obschon er die Sache stark verharmlost dargestellt und jeden direkten Bezug zu illegalen Substanzen vermieden hatte. Das übernahm jetzt der Star-Regisseur.

»So in other words: you were a bunch of Acid-Freaks!«, stellte der Regisseur anerkennend fest. »That’s right!«, antwortete KQ, Jonathans warnenden Blick ignorierend. »Mes enfants terribles! Der Fürst Metternich, wenn das gewusst hätte!«, rief von Tadelshofen aus.

Die Pause war beendet und alle gingen zurück in die alte Orangerie, wo der zweite Teil der Veranstaltung anders verlief als nach dem Pausengespräch zu vermuten gewesen wäre, weil nämlich der bodenständige Tädeus von Tadelshofen sich rege an der Diskussion beteiligte und von dem Referenten alles Mögliche wissen wollte.

Es fing an mit einer Frage nach der Wirkung der Mondphasen auf den Wassergehalt frisch geschlagenen Holzes und schamanische Praktiken rund um den Waldbau. (»200 Hektar Wald hat der!«, erklärte Rischke flüsternd.) Alsdann dozierte von Tadelshofen selbst über Geomantie und die spirituelle Sanierung alter Gebäude. (Rischke: »Die Familie hat drei Schlösser und sonst noch haufenweise Immobilien.«)

Spätestens als von Tadelshofen dann auch noch von Baumheiligen und Waldgeistern anfing, waren Rischke und KQ baff – und ihrerseits etwas pikiert.

Neolin 2 alias Friedhelm Persch beantwortete die Fragen so gut er konnte, machte jedoch ein besorgtes Gesicht, als der Freiherr abschließend ein langes Zitat von Graf Dürckheim in die Debatte einbrachte.

Jonathan kannte diesen Gesichtsausdruck von früher.

Der Shiva-Schamane witterte Gefahr.

»Zufall? Scheißkonzept! Weg damit.«

Zurück in Berlin, klangen KQ jene Worte in den Ohren, die Neolin 2 oft gesagt hatte, in den seligen Zeiten von Shivas Paradize. Der mochte jetzt Friedhelm heißen, wie er wollte. Dieses Zusammentreffen in dem Brandenburger Bonzenclub war kein Zufall, kosmisch gesehen, fand der Quex, der sich am meisten bewahrt hatte von jener non-rationalen Denke, die rund um das alte Kombinat Allgemeingut gewesen war.

Natürlich war auch KQ die Skepsis ins Herz gekrochen seither, und die Kälte ins Gehirn. Diese weißen Pülverchen hatten ihren Anteil daran, die Zeit und der Frust. Das war ja auch kein Wunder. Das Weazel war seit dem Untergang von Shivas Paradize spurlos verschwunden, mutmaßlich tot. Von der Dschungelprinzessin und der Springmaus hatte er ewige Zeiten nichts mehr gehört. Mit Donna Fauna hatte er sich heillos zerstritten. DJ Yoritomo jettete von Event zu Event und wurde, was man so mitbekam, stinkreich dabei.

Und Jonathan Rischke? Voll auf dem Karrieretrip und rettungslos verstrickt in die Fänge der Feinde. Bildete sich ein, er wäre ein Typ wie der Craver und markierte medial den Helden der Gentrifizierungsgegner. In Wirklichkeit war er ein feiger Pisser.

Die alte Garde war erledigt. In alle Winde zerstreut und/oder moralisch verkommen. Und Berlin, die jahrzehntelange Frontstadt eines anderen Zusammenlebens, das Großlabor eines fantastischen Massenexperiments, war so gut wie verloren. Niemand kannte noch die Zahl und die Namen der gegenkulturellen Projekte, die hier den Bach runtergegangen waren – zerstört durch Räumung, Konkurs oder Kommerz.

In diese intergalaktische Einsamkeit platzte nun urplötzlich der gute Neolin 2. Selbstverständlich weigerte sich der Kanarienquex, dieses Zusammentreffen für einen Zufall zu halten. Er beschloss vielmehr, dem Ereignis eine weit über die Reichweite des Alltagsbewusstseins hinausgehende Bedeutung beizumessen. Und es gab eine Person, die ihm darin aus voller Seele zustimmen würde …

Als Donna Fauna die SMS gelesen hatte, war sie sofort auf die Schwalbe gestiegen und losgeröhrt in Richtung Friedrichshain: »Neolin is back, Baby! Come right here!!«

Auch sie lachte sich schlapp über diesen Namen: »Friedhelm Persch«. Es war doch nicht zu fassen, was Leute für einen Unfug trieben. »Es gibt Namen, mit denen sich ein öffentliches Auftreten schlicht verbietet!«, befand Fauna schonungslos. So was müsse man doch bemerken! So viel Anstand sollten wohl auch Schamanen aufzubringen in der Lage sein!

Darüber hinaus hielt Fauna Neolins Auftauchen ebenfalls für ungeheuer bedeutsam. Die Umstände schienen ihr nachgerade skandalös. Ein Country Club in Brandenburg! Ein Operettenadeliger mit Eso-Tick! Es war ja kaum glaublich, wie tief dieser Persch AKA Neolin 2 gesunken war!

Den Namen »Berger-Grün« übrigens wollte Donna Fauna, die sich brüstete, keine Filme zu sehen, weil sie »das Genre Film« ganz generell ablehne, angeblich noch nie gehört haben, was wiederum den cineastisch versierten Quex auf die Palme brachte.

Anyway: Neolin 2 war zurück. Das veränderte einiges. Zum Beispiel ließ es Fauna und KQ ihre verunglückte Beziehungsepisode endgültig überwinden.

Es wurde auch Zeit, denn im Grunde genommen waren sie in langen, langen Jahren wunderbar gefahren mit einer Freundschaft mit gelegentlichem Sex. Stress hatte es erst gegeben, als sie diesen gesegneten Zustand in ein eheähnliches Zusammenleben eskalieren ließen. »Zweierbeziehung? Scheißkonzept – weg damit!«, fasste KQ im Stile des früheren Neolin 2 die Moral der Geschichte zusammen und ging mit dem Joint in der Hand hinaus auf den Balkon.

Der machte schon wieder einen ziemlich unsanierten Eindruck, der Kanarienquex tat da sein Möglichstes. Wenn er ehrlich war, fand er den Platz hoch über der Proskauerstraße auch schon wieder ganz gemütlich.

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