
Die Hauptstadtmedien drehen durch und drehen frei. Der Tod des Immobilien-Managers Lars Lundergreen und der in Flammen stehende Bugatti des Rechtsanwalts Jonathan Rischke stehen in irgendeinem, noch unklaren Zusammenhang.
Die mediale Lage, die sich in der Hauptstadt ergeben hatte, besaß Seltenheitswert. Seit Jahren hatte man sich daran gewöhnt, dass die Berichterstattung nahezu sämtlicher Presseerzeugnisse auf identischem Agenturmaterial basierte. In der Bewertung desselben befuhren die Redaktionen vorgezeichnete Linien.
In diesen Oktobertagen zerriss es für kurze Zeit diesen beengten Interpretationskorridor in einer Kakophonie der Darstellungen.
Es fing damit an, ob man Rischkes Bugatti, Lundergreens Tod und die Ermittlungen gegen den finnischen Immobilienfonds M-Square überhaupt in einen Zusammenhang stellen wollte. BILD brachte am Folgetag kein Wort über M-Square oder den toten Lundergreen, sondern trat lieber noch ein bisschen gegen Jonathan nach. Der Tagesspiegel fragte laut, ob der Tod Lundergreens mit den Ermittlungen gegen M-Square zusammenhinge. Neues Deutschland und die Junge Welt stellten die gleiche Frage rein rhetorisch und bejahten sie. Die Berliner Zeitung verneinte sie dahingehend, »Depressionen und Schwierigkeiten im privaten Bereich« seien wohl für Lundergreens Freitod verantwortlich.
Die taz schrieb ausführlich über M-Square, pochte auf Aufklärung und parkte dafür Rischkes Bugatti in der Gesamtstatistik abgefackelter Autos ab.
Die Financial Times Deutschland machte die betrügerischen Praktiken von M-Square zum Hauptthema. In mehreren skandinavischen Ländern werde wegen Betrugs und Steuerhinterziehung ermittelt. In Norwegen sei bereits Anklage erhoben worden. Sogar die bislang schnarchnasige Börsenaufsicht in Frankfurt am Main sei in ungewöhnlichen Aktivismus ausgebrochen. Offenbar habe man dort gute Gründe, vorsorgliche Schadensbegrenzung zu betreiben. So schrieb ein Irinäus von Tadelshofen, Redakteur der Financial Times Deutschland.
Irinäus von Tadelshofen?
Eduard Rischke?
Irgendeine Narrenenergie musste sich der Vornamen in dieser Stadt bemächtigt haben, sinnierte Jonathan Rischke als er den Artikel online las.
Er surfte weiter und war elektrisiert als er auf Spiegel Online anlangte, wo sein Bugatti in einem äußerst überraschenden Zusammenhang zur Sprache gebracht wurde. In einem Interview mit dem renommierten Filmregisseur Pavel Berger-Grün nämlich, der wegen Dreharbeiten zu seinem neuen Streifen in Berlin weile!
Berger-Grün führte aus, wie sehr er Berlin schätze, gerade auch wegen der ungebrochenen Radikalität der Widersprüche in dieser Stadt. Das mache Berlin ungeheuer inspirierend. Selbstredend, räumte Berger-Grün auf Nachfrage ein, komme es dabei auch zu beklagenswert fehlgeleiteten Konfrontationen. Sein Freund und Mitarbeiter etwa, der Rechtsanwalt Jonathan Eduard Rischke, sei, obgleich einer der engagiertesten Streiter gegen die Exzesse der Gentrifizierung, kürzlich auf nahezu groteske Weise zwischen die Fronten geraten …
Berger-Grün! Das war die Rettung! Jonathan ballte die Faust und sprang jubelnd mit seinem Laptop durch die Kanzlei. Allen Mitarbeitern zeigte er das Interview! »Gerettet, gerettet!«, rief Rischke immer wieder und alle waren froh und erleichtert über die Rettung ihres Chefs, der durch alle Büros tanzte.
Plötzlich wurde Rischke todernst und befahl mit schnarrender Stimme, sämtliche Arbeiten für heute umgehend einzustellen: »Jetzt wird gefeiert, Leute!« Jonathan holte aus dem Kühlschrank zwei Flaschen Champagner und gab eine Großbestellung beim Pizzaservice auf.
Die Party zog sich bis in die Nacht, irgendwann legte Rischke Elektromucke ein und drehte voll auf. Immer mehr Leute kamen dazu, Freunde von Rischke, Leute aus umliegenden Büros, Freunde der Mitarbeiter und andere, die kein Mensch kannte, wahrscheinlich feierlustige Passanten, die einfach geklingelt hatten. Berlin, sagte Jonathan zu sich, als er, besoffen, bekokst, bekifft und glücklich, die Kanzlei hinter sich abschloss: Berlin!
Er winkte das nächste Taxi und fuhr ins heimatliche Loft.
Dort angekommen, warf Jonathan eine halbe Packung Räucherstäbchen an und sich selber auf den Boden vor einer kleinen, hölzernen Buddha-Statue. Er hatte auch andere Buddha-Statuen, wertvollere, imposantere, antike. Aber die hier hatte er sich von seinem allerersten Asientrip mitgebracht. Die war jetzt die Richtige, um seine Dankbarkeit und Demut zu empfangen! Gerettet! Ein Wunder!
Ein waschechtes Wunder war ihm widerfahren.
Speziell Berger-Grüns Einsatz rührte Jonathan nachhaltig. Nichts in der Welt hatte Berger-Grün verpflichtet, sich in dieser Weise für einen Menschen zu verwenden, den er doch eher flüchtig kannte bis dahin. Dieser Freundesdienst wog schwer. So schwer, dass Jonathan sogar diesen »Eduard« verschmerzte, den ihm nun auch Berger-Grün angeheftet hatte.
John Eduard Rischke? Vielleicht doch. Das hatte was.
Mehr gute Nachrichten liefen ein von der Medienfront. Der Tagesspiegel biss sich jetzt an den Machenschaften von M-Square fest. In einem fulminanten Kommentar von Tissy Bruns wurde Jonathan erwähnt als einer, der den Stein ins Rollen gebracht und dafür einen hohen persönlichen Preis zu entrichten gehabt hätte. In der Financial Times Deutschland brachten sie ein ausführliches Interview mit einem finnischen Wirtschaftsjournalisten, der über M-Square seit Jahren recherchierte und den Laden für richtiggehend kriminell erklärte. Damit nicht genug, attackierte dieser Irinäus von Tadelshofen in der gleichen Ausgabe die BZ.
In einer Glosse schrieb er, diese direkte Schadenfreude, mit der man im Hause Springer auf den brennenden Bugatti eines renommierten Rechtsanwalts reagiert hätte, sei unerhört. Die BILD spiele damit den Tätern in die Hände, werte sie in unverantwortbarer Weise auf.
Das alles war etwas zu erfreulich, um wahr zu sein! Jonathan befand, dass diese kampagnenförmig auftretenden Artikel zu seinen Gunsten kein Zufall sein konnten. Jemand wirkte im Hintergrund. Jemand koordinierte. Jemand setzte Truppen in Bewegung und organisierte Gegenangriffe, um Jonathan aus der Schusslinie zu bekommen.
Dieser Jemand war Buddha, natürlich, in einer gewissen Hinsicht, sicherlich zog auch Lola an diversen Strippen, beziehungsweise … Tädeus von Tadelshofen!
»Oder sollte ich sagen: Irinäus?«, scherzte Jonathan, als sie sich im Facebook-Chat begegneten.
Im Laufe der nächsten Tage drehte der mediale Wind endgültig in die gewünschte Richtung und wurde zum Sturm. Eine Hackergruppe veröffentlichte interne Dokumente und E-Mails aus der M-Square-Zentrale. Hierin wurde unter anderem der Einkauf finnischer Parlamentarier, Berliner SPD- und Linksparteipolitiker und europäischer Kommissionsfuzzis offen diskutiert. Das Thema erreichte Tagesschau, Tagesthemen und das Heute-Journal.
Gleichzeitig sickerten Details über die Todesumstände Lars Lundergreens durch. In der Badewanne seiner Wohnung sei der Fondsmanager aufgefunden worden, berichtete n-tv mit Verweis auf Polizeikreise, mit einer Plastiktüte über dem Kopf. Drogeneinfluss könne nicht ausgeschlossen werden. Für Gewalteinwirkung habe man keine Hinweise, verlautbarte die Polizei auf Nachfrage des Tagesspiegel. Neben der Selbstmordtheorie brachte RTL die Vermutung auf, es könne sich auch um einen Sexunfall gehandelt haben.
Hohe Zeit der Abgründe!
Der skandalumwitterte Tod Lundergreens und der M-Square-Skandal rückten zu Jonathans Erleichterung den Bugatti-Brand weit in den Hintergrund. Dafür gewann die Berichterstattung über den schwelenden Finanzskandal der M-Square-Gruppe an Schwung. Der Staatsanwalt in Helsinki hatte Anklage erhoben gegen den Vorstand des Fonds, wegen des Verdachts auf Untreue, Betrug, Steuerhinterziehung, Bestechung und Erpressung.
Jonathan Rischke war bestens gelaunt. Überdies sah es danach aus, als würde die Versicherung klaglos für den Bugatti aufkommen, und Jonathan beschloss, nicht die gesamte Summe in eine Nachfolgekarrosse zu investieren. 40 000 Euro wollte er abzweigen – für die Mitgliedschaft in der République Royal.
Was die dortigen Kontakte wert waren, hatte er ja erleben dürfen.
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