Leichter als Luft, Folge 31 — Die einstigen Helden der Subkultur

Berliner Mauer, Graffiti
Quelle: Pixabay

Berlin veränderte sich, rasant und in eine Richtung, die es den Helden der einstigen Subkultur immer schwerer machte, sich in dieser Stadt zu behaupten. Schuld waren die Brüter: eine neue Spezies, die Einzug hielt in jenen Kiezen, die noch vor kurzen radikale Freiheit geatmet hatten.

 

Die Brüter waren ein Phänomen des internationalen Metropolen-Provinzialismus.

Der Begriff »Breeders« stammte aus New York City – jener Stadt am Hudson River, die durch eine Brüter-Invasion in Schutt und Asche gelegt worden war. Der AIDS-Virus – zweifellos in geheimen Breeder-Labors entwickelt! – brach die entscheidende Bresche in das vormals fest in queerer Hand befindliche East Village. Die Schwulen starben, die aufgeklärte Mittelschicht mit ihren quietschenden Bälgern zog in die freigestorbenen Quartiere. In ganz Manhattan wüteten die Breeders anschließend wie eine Horde habilitierter Hunnen, betrieben ihre kulturellen Säuberungen und hetzten die Radikalen der Siebzigerjahre über die Brooklyn Bridge oder weiter nach Queens.

Ein grauenvolles Kulturmassaker!

Die Innenstädte von Paris, London, Barcelona hatten das gleiche Schicksal erleben müssen: Stadtteil für Stadtteil gerieten sie unter die Räder der Kinderwagen-Kavallerie. Großartige, vor Radikalität, Durcheinander und Lebenslust dampfende Metropolen machte der brave Dauerterror der Brüter binnen weniger Jahre zu blitzblank aufgeräumten Plattformen wohlgeordneten Nebeneinanderherlebens, behütet von Vater Staat, reduziert auf die Konsumfunktionen. Alles Leben wurde der reproduktiven Brüter-Mission unterworfen.

Nun stand Berlin im Fadenkreuz des Empire of Breed. Die Partyszene der Stadt wehrte sich und kämpfte aufopfernd gegen die feindliche Übernahme.

Es schien aussichtslos.

Ein Straßenzug nach dem anderen ging an die Invasoren verloren. Graffitis wurden übermalt, Schmutz, Berber und nächtliche Biertrinker von den Straßen gefegt.

Und was das Schlimmste war: Der Beat erstarb, der elektronische Herzschlag dieser Stadt wurde erdrosselt – von spülmaschinenfesten Mutterhänden.

In der Regel reichte aggressiv eingeforderte »Rücksichtnahme« als moralische Wunderwaffe aus, die wummernde Musik rücksichtslos zu ersticken. Notfalls wurden diese Mutterhände zur Polizeifaust.

Donna Fauna beispielsweise litt unter der direkt über ihr wohnhaften, alleinerziehenden Mutter, die in Wahrheit viel eher den Anspruch hatte, eine »alles- und jeden erziehende« Mutter zu sein. Eine über­assimilierte Deutsch-Griechin, unterrichtete sie an einer Waldorfschule Musik. Sie fand ihrerseits rein gar nichts dabei, auch mal um ein Uhr nachts Klavier zu spielen. Und Fauna auch nicht, denn sie liebte klassische Musik, selbst wenn sie schlecht gespielt wurde. Außerdem verfuhr sie seit jeher nach dem Prinzip, dass die Lautstärke der anderen nur die Grenzen für die eigene Lärmentwicklung erweiterte.

Weit gefehlt! Seit Neuestem verfiel die Brüterin im zweiten Stock auf den Trip, sich über Faunas Musik zu beschweren – stets mit dem Hinweis auf ihre immerhin bereits elfjährige Tochter. Die musste dem Anschein nach schon am späten Nachmittag ins Bett, jedenfalls stand die Brüterin mit ihrem Lamento immer früher bei Fauna auf der Matte.

Zugegeben: Der Subwoofer von Faunas Logitech-System verfügte über einen wirklich stolzen Bass – selbst wenn man ihn bis zum Anschlag runterdrehte, was Fauna bußfertig bereits getan hatte.

Andererseits hörte Fauna keineswegs 24 Stunden am Tag elektronische Musik, im Gegenteil. Mit der Ausnahme von Hip-Hop, den sie als Speerspitze der Homophobie wie auch aus musikästhetischen Gründen, verachtete, hatte Fauna den Ehrgeiz, Musik aller Sparten für sich zu entdecken. Und Fauna hörte Musik prinzipiell nur in der Shuffle-Funktion.

So mochte auf Miles Davis ein Fetzen aus einer italienischen Oper folgen, deren Reihenfolge die Musiksoftware sorgfältig zerlegt hatte. Ein österreichischer Militärmarsch – Fauna verehrte die Habsburger Monarchie aus voller Tuntenseele! – ging Georgette Dee, Van Halen, Ravi Shankar oder Kraftwerk voraus, die Biermösl Blosn löste Karlheinz Stockhausen ab, der wiederum Quetschenpaua weichen musste. Dazwischen streuselte der Chaosgenerator Filetstücke aus ihrer »Spoken Word« – Abteilung, die alleine sechs Gigabyte umfasste. Dann las Helmut Qualtinger aus »Mein Kampf«, die rauchige Stimme eines amerikanischen Beatpoeten leierte rotzbesoffen los und Oskar Werner rezitierte Rilke.

Ja, und tatsächlich rief der Zufall in etwa alle zwei Stunden eben auch für sechs oder acht Minuten Infected Mushroom oder DJ Skazi auf. Und noch bevor der Generator weitersprang und zum Beispiel 16 Minuten lang die Verteidigungsrede des Sokrates vor Gericht oder den Shanty eines Hamburger Seemannschors gebracht hätte, stand die Lehrerin vor der Tür und beschwerte sich bitterlich.

Fauna war am Anfang total verständnisvoll gewesen. Da hatte die Lehrerin sich ja auch noch nachts um eins beschwert. So was sieht man ein. Inzwischen stand die Gute um halb zehn vor der Tür. Diese moraltriefenden Anklagen, diese Sirenengesänge von Rücksichtnahme und ihren süßen kleinen Kindern … Fauna hatte das alles so dermaßen satt. Manchmal erfasste sie nach einer solchen Brüter-Attacke der kalte Hass. Dann packte sie ihre Handtasche aus trashigstem Krokoleder-Imitat und ging noch mal raus, zum Grillen …

In vermeintlicher Opposition zu den Brütern standen nicht nur die Alteingesessenen und die Linksradikalen, sondern auch einige Neuankömmlinge. In vielen Fällen stellten sie aber nur die Brüter der Zukunft dar und beschleunigten mit ihrer Einfältigkeit jenen Prozess, der Berlin herabsinken ließ von einem exzessiven Moloch intergalaktischer Qualität zu einer bundesdeutschen Hauptstadt, deren »internationales Flair« von Touristen, Austauschstudenten und den Expatriierten von NGOs, Botschaften, Handelsvertretungen oder multinationalen Konzernen vermittelt wurde.

Die Brüter-Jugend, die aus Schwäbisch Gmünd, Herne oder Herrsching zum Studieren, für Praktika oder sogar für einen richtigen Arbeitsplatz – aber eben nicht mehr zum Herumlungern, Scheiße bauen und feiern – nach Berlin kam, fand je nach Einkommen der Eltern in Berlin Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Kreuzberg, Neukölln oder Wedding jenen Mythos Berlin vor, den zu finden sie mutig ausgezogen war.

Sie verglichen die Stadt dann eben mit Schwäbisch-Gmünd, mit Herne und Herrsching und erlebten folglich Berlin als total krass, wild, bunt, schmutzig, verrucht, radikal, gefährlich, abgefahren und ungeheuer aufregend.

Die Veteranen der zwanzig magischen Jahre wollten sich diesem Empfinden selbst dann nicht anschließen, wenn sie, wie Jonathan Rischke, zu den Profiteuren des neuen Berlins gehörten.

Denn auch für Rischke wurde die Luft dünner, je weiter er nach oben sank. Wenn er sich nach der alten Gemeinsamkeit sehnte, nach Leuten, die man am Leuchten in den Augen sofort als Seelenfreunde erkannte, nach Raves, wo die kosmische Liebe wogte durch den wellenschlagenden Ozean der Tanzenden – dann war da keine Gemeinsamkeit mehr. Das Leuchten war erloschen, auch in Jonathan Rischkes Augen. Im Berghain oder der Renate wippte der Pulk immer noch. Statt Wogen der Liebe war da aber nur noch Coolness.

Cool war diese Stadt geworden, in der Tat: kühl.

Das Chaos wurde konsequent zurückgedrängt. Das pfadlose Land des Molochs war zerschnitten durch die klar definierten Bahnen der Stadtentwicklung, die unter der Ägide eines Wirtschaftssenators der Linkspartei freie Fahrt für Großinvestoren durchgesetzt hatte.

Die Partykönige der Ruinenlandschaften hatte man vom Thron gestoßen. Sie waren jetzt Nomaden der sanierten Gebiete, hin und her gehetzt mit Zwischennutzungsverträgen für die letzten heruntergekommenen Buden oder abgedrängt in Bezirke, die man früher nur vom Hörensagen gekannt und schon deshalb als hauptstädtische Provinzkieze verachtet hatte.

Wenn KQ zum Beispiel hörte, dass Neukölln jetzt für Künstler total angesagt wäre, der Wedding im Kommen und Tempelhof gar nicht so schlecht sei, stieg ihm die kalte Kotze hoch. Früher hatte er ein Atelier in den Hackeschen Höfen gehabt! Bis das Haus an einen Fonds aus Boston verkauft und die Miete mit einem Schlag um 200 Prozent raufgesetzt worden war. Da hatte der Kanarienquex passen müssen.

Am Schlimmsten war es aber, wenn einige von der alten Garde ein neues Projekt hochzogen und damit richtig Erfolg hatten. Die neuen Akteure im Berliner Eventbetrieb hatten viel Geld, aber keine Ahnung. Die alte Garde war bestens vernetzt und hatte es drauf. Man kannte weltberühmte DJs aus langen Jahren gemeinsamer Rave-Geschichte, und die hatten große Lust, einem subkulturellen Projekt für lau Starthilfe zu geben. Dazu kam die Crowd der restlos Durchgeknallten, deren Art des Feierns und Sich-Danebenbenehmens jeder Festivität den avantgardistischen Glanz vergangener Zeiten verlieh.

So kam es immer wieder vor, dass eine mit winzigen finanziellen Ressourcen gestartete Location binnen eines Sommers zum angesagtesten Club der Stadt aufstieg.

Damit begann nur leider die Misere! Dann brachen jene, die frisch aus Schwäbisch Gmünd, Herne und Herrsching kamen, zu Hunderten und Tausenden auf das Gelände. Fatal wurde es, wenn Wochenends auch noch die aus den Dörfern und Kleinstädten Brandenburgs nach Berlin hineindrückenden, exzesssuchenden Provinztruppen die Location für sich entdeckten. Diese Dorfjugendlichen waren wild entschlossen, an genau diesem Wochenende so viele Drogen zu fressen wie nur irgendwie möglich, besoffen sich dabei konsequent mit heimlich hineingeschmuggeltem Hart-Alkohol und purzelten am Ende von Bäumen und Baugerüsten. Ständig musste man für diese Volldeppen einen Rettungswagen rufen, und jeder Schwerverletzte ermöglichte der lauernden Stadtverwaltung einen bürokratischen Angriff.

Freilich spülte dieser Partymob absurde Mengen Geld in die Kassen. Aber die alte Garde hatte sich die weise Einstellung erhalten, dass eine gute Party bedruckten Papierschnipseln jederzeit vorzuziehen sei und besaß eine virtuose Kunstfertigkeit, trotz horrender Einnahmen am Ende ohne nennenswerten Gewinn dazustehen. Kein Geld der Welt konnte außerdem den Frust aufwiegen, sich im eigenen Club als Fremder oder als Ausstellungsobjekt für Szene-Touristen zu fühlen. Dem Druck der Massen jedoch war keine Türpolitik gewachsen. Alles wurde Ballermann. Es war furchtbar.

Ähnliche Beiträge:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert