Leichter als Luft, Folge 27 — Berliner Gewächs

Berlin, U-Bahn
Quelle: Pixabay

Die Hauptstadtjournalistin Lola Mercedes, die die Balkon-Kampagne des Kanarienquex mit anschieben will, ist ein Gewächs der radikalen Subkultur der Hauptstadt. Gewächs eines Berlins, das nicht mehr existiert?

 

»Der Rischke ist auch nicht mehr richtig schwul, seit er so eine große Nummer ist«, dachte Lola Mercedes auf dem Heimweg von Berlin Mitte nach Kreuzberg. Nachdem sie Jonathan schlecht auch noch nach dem Geld für ein Taxi hatte fragen können, ging sie zu Fuß durch die Berliner Spätsommernacht. Die hochhackigen Schuhe hatte sie ausgezogen und im Rucksack verstaut. Barfuß und glücklich spazierte sie durch diese Stadt.

Durch ihre Stadt.

War das ihre Stadt?

Endlich oder doch schon nicht mehr?

Berlin, Du Heimat, für die, die keine Heimat haben!

Da drüben hatte es in den Neunzigern einen fetten Bauwagenplatz gegeben. Ein magischer Ort war das gewesen: Gaukler aus aller Welt, unglaubliche Akrobatik, nackte Menschen, Feuertänzer, Schamanen, Krieger und Propheten. Ewige Sommer und der stolzeste Bassbeat der Welt hatten die ganze Stadt ergriffen, die Herzen synchronisiert und Liebe, Liebe, Liebe in alle Spreekanäle gepumpt.

Heute stand hier ein Parkhaus. Daneben ein Hotel. Nicht einmal ein gutes. Kein Hyatt in faszinierender Architektur, sondern ein doofer Kasten, betrieben von einer der minderen Hotelketten. Zielgruppe waren Berlin-Touristen, die in der Lage und willens waren für metropolitanen Lebensstil zu zahlen, ohne die geringste Ahnung zu haben, was metropolitaner Lebensstil eigentlich ist. Das war jene Sorte, die im Sightseeing-Bus durch Kreuzberg schipperte, um Punker und Graffitis und den Dreck an der Straßenecke zu fotografieren. Dabei hatten die keine Vorstellung, wie ekelhaft aufgeräumt es in Kreuzberg mittlerweile war.

Vor fünf oder fünfzehn Jahren, da hatte es ausgesehen! Oder früher noch, was Lola nur aus Erzählungen kannte. Da war Kreuzberg ein bettelarmer Stadtteil gewesen, am Rande West-Berlins, ein verlottertes Quartier direkt hinter der Mauer. Niemand wollte dahin bis auf Türken, eher unfreiwillig, und Linksradikale. Die Polizei kam auch nicht gerne hin, weil es ganze Straßenzüge gab, in denen es Steinplatten aufs Fahrzeug regnen konnte, einfach so.

»Dass wir diese Stadt verloren haben!« – Lola Mercedes spürte die plötzliche Wucht einer schleichenden Niederlage. Über zwei Jahrzehnte hatte auch sie sich alles schöngeredet. »Für jedes Haus, das die sanieren, gehen doch zwei andere in’ Arsch …«, hatte sie sich und anderen oft gesagt. So war es aber nicht gekommen. Die Gegenkultur ging den Bach runter, Projekt für Projekt, Haus um Haus.

Die Räumkommandos hatten inzwischen den Bogen raus, das musste man zugeben. Angesichts der vielfachen Übermacht, die jeweils anrückte, war an effektive, militante Gegenwehr der Hausbesetzer nicht mehr zu denken. Die Brutalität der Einsätze sprengte jeden gesetzlichen Rahmen. Juristische Folgen blieben grundsätzlich aus. Die Presse schrieb von verletzten Beamten und gewalttätigen Chaoten.

Im Zuge der typischerweise im Herbst erfolgenden Räumungen wurden neuerdings sofort alle Fenster mitsamt Fensterstöcken herausgerissen. Dies geschah offenbar im Einvernehmen mit den Hauseigentümern. Damit war das Haus den Winter über unbewohnbar. Eine Wiederbesetzung machte keinen Sinn. Im Frühling begannen die Sanierungsarbeiten. Vor dem nächsten Winter bezogen die ersten Bewohner ihre schnieken Wohnungen hinter nagelneuen Doppelglasfenstern.

Lola Mercedes hatte diesen und vergleichbare Vorgänge miterlebt, unzählige Male. Sie hatte aber kaum über diese Häuserkämpfe geschrieben bisher. Das würde sich demnächst ändern.

Diese Balkon-Story war für sich genommen restlos albern. Aber Lola Mercedes war ein Trüffelschwein, sie witterte Geschichten mit Sensationspotential. Die Frage war, ob eine Story als Prisma für größere Zusammenhänge dienen konnte, ob sich in einem scheinbar belanglosen Detail konträre Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung brachen – und ob die Geschichte Witz genug hatte, um spontan weitererzählt zu werden.

»Künstler verklagt Immobilienfonds wegen Balkonfrevel« – Das hatte Charme ohne Ende. Das war hinreißend naiv und drückte andererseits einen hart ausgefochtenen Grundkonflikt der Berliner Stadtentwicklung aus.

Der Kanarienquex war außerdem ein idealer Coverboy für die Kampagne. International anerkannter Künstler, HDK-Absolvent, ein Aushängeschild Berlins und Vertreter der jungen Kreativen! So wollte sie ihn präsentieren, ihn richtig aufbauen, mit Interview und Porträt-Kasten. Das konnte ihrem chronisch unterfinanzierten Kumpel nur guttun. Und wenn die Story eventuell bundesweit fliegen würde, könnte auch Lola damit abheben.

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