
Der Kanarienquex will einen Immobilienkonzern verklagen. Der etwas dubiose Rechtsanwalt Jonathan Rischke und Donna Fauna unterstützen das Projekt. Die Hauptstadtjournalistin Lola Mercedes wittert eine fette Story.
Lola Mercedes kam zu spät, selbstverständlich. Sie war im Allgemeinen nicht auf Pünktlichkeit aus. Dies weniger, weil ihr das Warten der Anderen gleichgültig gewesen wäre – das sowieso –, vielmehr lehnte sie Minutenpünktlichkeit, die sie für etwas Kerndeutsches hielt, prinzipiell und aus ebenjenem Grunde ab.
Sie, deren Essays durch ebenso gewagten wie schlüssigen Satzbau brillierten, die in Wien über den großen Karl Kraus, speziell dessen Kunst der Interpunktion, promoviert hatte, – ausgerechnet diese in deutsche Literatur vernarrte Lola Mercedes hielt die Kultur der Biodeutschen, der Kartoffelnasen und Neuzeit-Hunnen gleichzeitig für einen rundum bedenklichen Einfluss, den sie jederzeit abzuwehren suchte – beispielsweise durch ihren terminlichen Laissez-faire-Stil. Demonstrative Pünktlichkeitsverweigerung verschaffte Lola ein wohliges Gefühl der Gewissheit um die intakten Abwehrkräfte ihres Kanakentums.
Rischke, Fauna und der Quex verloren kein Wort über Lolas Verspätung, so erleichtert waren sie, durch eine überschwängliche Begrüßungsrunde aus der feindseligen Angespanntheit herauszukommen, die sie beim Warten zu dritt befallen hatte.
War das nicht ein zwar verständliches, an sich aber ziemlich unehrliches Manöver? Wurde auf diese Weise nicht die schlechte Stimmung der drei nach außen abgespalten, sublim übertragen auf die neu hinzukommende Vierte?
Als Rischke, Fauna und KQ über die bevorstehende Balkon-Kampagne losplapperten und plötzlich bester Laune zu sein schienen, befiel Lola Mercedes ein ziehender Schmerz, links hinten im Becken. Sie hatte das öfter, seit Jahren schon. Beim Fahren langer Strecken im Auto kam dieser Schmerz mit großer Zuverlässigkeit auf, und Lola wusste, dass sie da besser einmal genau hinschauen und das Problem eingehend bearbeiten sollte. Aber dieses Rumfahren und Rumlaufen, das ständige Auf-Achse-Sein, welches Lola auch schon ausgezeichnet hatte, bevor sie sich zu einer semi-prominenten Hauptstadtjournalistin emporgeschrieben hatte, machte eine intensive Beschäftigung mit dem eigenen Körper geradezu unmöglich. Sie konnte ja heute nicht einmal sagen, ob sie nicht in zwei Tagen überraschend nach Hamburg oder Barcelona oder Haifa fahren würde. Jede Woche dreimal zum Yoga oder zur Physiotherapie? Wie denn? Geht nicht. Also weiter.
Nun aber verlieh Lola ganz anderen Bedenken Ausdruck: »Ganz ehrlich, Leute: Die Story fliegt nur, wenn das Ganze juristisch eine reelle Basis hat. Ansonsten mach ich mich ja lächerlich.«
»Das kriegen wir hin«, ließ Jonathan Rischke keine Unsicherheiten aufkommen: »Die Wohnungsgesellschaft hat eine ganze Reihe eklatanter Rechtsverstöße begangen. Die Mieter wurden unzureichend, gar nicht oder nicht fristgerecht informiert, ein Teil der Baumaßnahmen hätte deren vorheriger Zustimmung bedurft und so weiter. Die Mieterhöhung anzufechten, sollte in jedem Falle möglich sein. Schadensersatz ist eventuell auch drin. Ich halte den Fall für aussichtsreich.«
Faunas Idee, das Privateigentum des Quex am angeblichen schlitzblättrigen Efeu Colchica Hedera rechtlich auszuschlachten, hielt Rischke heimlich für tatsächlich bedeutsam. Dennoch reagierte er jetzt nicht gerade enthusiastisch auf den Vorschlag und lobte Faunas juristischen Erfindungsreichtum mit spöttischem Unterton.
Lola skizzierte die PR-Strategie der Sache. Sie plane, die Story auf das Titelblatt des wichtigsten Szenemagazins der Stadt zu hieven. Schlagzeile: »Balkonfrevel in Friedrichshain«. Interview mit dem Kanarienquex, Fotos Balkon vorher, Balkon nachher, juristische Expertise von Jonathan Rischke in einem Kasten, Editorial von Lola selber. Die Coverstory wäre dann Auftakt einer Serie über illegale Modernisierungsmaßnahmen in Berlin. Damit könne man einige Ausgaben des Monatsmagazins überbrücken und bei Prozessbeginn wieder voll draufleuchten.
Lola war jetzt in ihrem Element: »Gleichzeitig wäre es gut, wenn wir zu dem Thema ein paar Aktionen der Spaßguerilla auslösen könnten. Gibt es da noch was in Friedrichshain?«
»Traurige Reste, ein paar neue Strukturen, aber irgendwas kann man bestimmt machen. Ich frag mal rum«, entgegnete Fauna.
Lola hängte die Messlatte niedrig: »Es braucht ja nicht so viele Leute. Hauptsache eine witzige Idee, paar schöne Fotos und ein YouTube-Video.«
Der Quex war still geblieben bisher, hatte das Gesagte nur mit eifrigem Nicken oder zustimmendem Kichern kommentiert. Jetzt sagte er zusammenfassend: »Cool. Dann machen wir das!«, und ließ eine Flasche Champagner kommen. Die öffnete er feierlich und schenkte allen ein. Davon, dass die opulente Rechnung dieses sich noch länger hinziehenden Abends im Caravaggio der steinreiche Jonathan Rischke übernehmen würde, ging übrigens nicht nur KQ wie selbstverständlich aus.
Fauna sah hierin einen Akt gesellschaftlicher Umverteilung und emotionaler Wiedergutmachung und winkte nach der zweiten Flasche Schampus.
Lola zahlte bei Geschäftsessen prinzipiell nicht – und sie dinierte prinzipiell geschäftlich.
Zwei weitere Flaschen später legte Rischke dann auch umstandslos seine Kreditkarte in das Ledermäppchen mit der Rechnung und ließ sich einen Bewirtungsbeleg über 425 Euro ausstellen. Als er aber im Weggehen noch wie beiläufig zu KQ meinte, man müsse sich halt die Tage mal zusammensetzen und dann auch über die Anwaltskosten reden, traf den Kanarienquex fast der Schlag.
»Glaubst Du, ich lass mich umsonst von Dir ficken?«, schoss es KQ durch den Kopf. Sofort befiel ihn Scham ob dieses Gedankengangs. Er nickte stumm und ging die Alte Schönhauser Straße hinunter, zum Alexanderplatz. Fauna war schon vorher abgedampft. Die wohnte allen Ernstes in Prenzlauer Berg.
Einmal würde Lola ihr Leben geordnet kriegen. Eines Tages würde Stabilität Einzug halten und Planung regieren. Danach wäre ihr Alltag einer reibungslos funktionierenden Systematik unterworfen, und das bliebe dann so. Das würde auch den endgültigen publizistischen Durchbruch bringen. Lola würde nicht nur alle Jubeljahre wegen irgendeiner Szene-skandalösen Belanglosigkeit vom RBB interviewt werden. Sie hätte dann ihre eigene Sendung im Fernsehen, einen gewieften Produzenten dazu, eine Redaktion, die ihr die leidige Drecksarbeit von Recherche und Gegenrecherche abnehmen würde, ein Sekretariat, das die Termine koordinierte, einen Fahrer, der sie pünktlich hinbrächte.
Und dann würde sie sich auch um ihre chronisch wiederkehrenden Rückenschmerzen kümmern können. Vielleicht mit einem Privatcoach, der zu ihr käme, wann immer sich ein Stündchen fände.
Redaktion, Sekretariat, Produzent, Privatcoach, Fahrer – Lola Mercedes glaubte, all dieses zu benötigen, um ihr wahres Genie entfalten zu können. Diesen ganzen, kleinkarierten Schmonz immerzu an den eigenen Hacken zu haben, frustrierte sie. Zahlen, Daten und die sogenannten Fakten hielt sie sowieso für gnadenlos überbewertet. Ihre Texte wurden gelesen, nicht weil sie trockene Sachverhalte referierte. Lola entwarf textmalerische Panorama-Aufnahmen, beschrieb gewissermaßen sphärische Gesellschaftsphänomene, die niemand messen, kein anderer benennen konnte, die fast alle aber diffus spürten. Hatte Lola dieses kollektive Ahnen ins metaphernreiche Licht ihrer Worte gesetzt, ohne Quellenangaben und statistische Belege, dafür mit großer polemischer Schärfe und noch größerer sprachlicher Schönheit, war dem Leser zumute, als sei ein Tropfen Wahrheit ihm zu Kopfe gestiegen aus den trüben Brunnen seines Verdrängten.
Im geschriebenen wie im gesprochenen Wort lag Lolas Brillanz in der Zuverlässigkeit spontaner Geistesblitze. Sie wurde von vielen Kollegen offen beneidet für ihren literarischen Impuls, den sie, gestützt auf ihr exzellentes Gedächtnis, scheint’s mühelos abrufen konnte. Nicht zuletzt dieses Archiv von Anekdoten, Formulierungen und Zitaten machte Lola zu einer Gesprächspartnerin, für die willig Kreditkarten in Ledermäppchen gelegt wurden. Lola Mercedes veredelte einen Abend. Sie brachte jede Tischgesellschaft zum Leuchten. Ihr geistsprühender Charme und die Wildheit eines kaum gezähmten Raubtiers bezauberten die heterosexuellen, biodeutschen Herren. Die Schwulen wiederum liebten Lola ob der kaum verhohlenen Verachtung, mit der sie die Avancen dieser Burschen abschmetterte – was jene Gimpel natürlich für ein heimliches Kompliment hielten, woraufhin einmal mehr eine Kreditkarte in ein Ledermäppchen wanderte.
Selbst die Damen der Gesellschaft hielten sich gegenüber der kessen Lola mit Stutenbissigkeiten zurück. Erstaunlich, so wie die Herren sie umschwärmten. Aber Lola achtete darauf, stets einige Gerüchte über lesbische Affären in Umlauf zu halten. Das beruhigte die Frauenwelt, erfreute die Schwulen und fachte den Jagdtrieb der Hetero-Männer noch an. Ihre angeblichen Frauenliebschaften ermöglichten Lola aber auch eine jederzeit einsetzbare Vermeidungsstrategie, mit der sie allzu aufdringliche Verehrer abweisen konnte, ohne das Feuer des Begehrens jedoch zu ersticken, auf dem ihr Karrieresüppchen zu kochen sie nicht nur keine Skrupel, sondern die feste Absicht hatte. Die dampfende Notgeilheit dieser geschniegelten Schimpansen schrie ja geradezu danach, von der Vertreterin einer höher entwickelten Evolutionsstufe ausgenutzt zu werden.
Nach dem Caravaggio ging Lola mit Jonathan Rischke noch auf einen Absacker in die Pony-Bar. Rischke zahlte erneut. Auf seine ungelenken Avancen ging Lola liebreizend ein, aber anschließend nicht mit. Sie ging nach Hause. Allein.
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Auch wenn solche Fortsetzungsromane vielleicht eine interessante Ergänzung für Overton sind, so mitten zwischen den anderen Artikeln irritiert das etwas.
Es wäre schön wenn sich das auf der Startseite optisch deutlicher unterscheiden würde.
Man könnte ja eine andere Farbgebung verwenden oder ein Symbol vor der Überschrift.
Vielleicht das Unicode Zeichen: https://www.compart.com/de/unicode/U+1F56E
Ich muss gestehen das ich jetzt kein so großer Freund von Fortsetzungsromanen bin, einfach weil bei mir da kein Lesefluss aufkommt und mich das davon abschreckt einen solchen Text überhaupt anzufangen.
Das soll keine Kritik sein, schon gar nicht an der Geschichte.
Ymmd.
🤯🤣🤣🤣🤣🥂