„Kein Krieg ist der beste Krieg!“

Statue von Sunzi. Bild: 663highland/CC BY-2.5

Das chinesische Werk „Die Kunst des Krieges“ (bingfa) von Sunzi im Vergleich mit Anschauungen des Preußen Carl von Clausewitz.

[Vorbemerkungen zum nachfolgenden Text: Rainer Hoffmann und Hu Qiuhua haben eine neue Übersetzung der wohl bedeutsamsten chinesischen Schrift zum Krieg vorgelegt, außerdem einen Vergleich des kriegsphilosophischen Klassikers von Sunzi mit den kriegstheoretischen Ansichten des Preußen Carl von Clausewitz. Die digitale Erstauflage kann seit kurzem beim Lebenshaus Schwäbische Alb frei aufgerufen werden; zusätzlich ist noch eine preiswerte Buchausgabe der „edition pace“ erschienen.

Prof. Egon Spiegel erläutert, warum ein solches Werk jetzt ausgerechnet in einer friedensbewegten Publikationsreihe veröffentlicht wird: „Neben Schnittflächen der beiden Autoren sticht die Zielperspektive von Sunzi, in deutlichem Unterschied zu Clausewitz, hervor. Sunzis Plädoyer ist im Grunde ein pazifistisches. Kein Krieg ist seiner Argumentation nach der beste Krieg. – Sunzi lesen und verstehen führt nicht nur in ein Verständnis von Frieden und Krieg ein, das bis in die Gegenwart hinein chinesische Politik mitbestimmt. Die im neuen Band dargebotene Einführung in Kriegstheorien westlicher wie östlicher Couleur erschließt all jenen, die nach Konfliktlösungsstrategien jenseits von Krieg suchen, Kerngedanken derjenigen, die im Krieg eine Möglichkeit sehen, Frieden herbeizuführen. Mitunter können sie dabei sogar Gemeinsamkeiten mit ihren eigenen Ansichten entdecken.“

Für Overton ist hier die Einleitung der Publikation gekürzt worden (Anmerkungen / Quellennachweise sowie die chinesischen Schriftzeichen entfallen); die Schreibweise wurde leicht bearbeitet; alle nachträglichen red. Zusätze stehen in eckigen Klammern. – Peter Bürger.]

Rainer Hoffmann und Hu Qiuhua: Zwei Autoren und zwei Kulturen

Der altchinesische Stratege Sunzi sagt: „Deshalb kann die Devise ‚hundert Schlachten und hundert Siege‘ nicht das oberste Ziel der Kriegsführung sein. Als oberstes Ziel muss vielmehr gelten, die feindliche Armee matt zu setzen, noch ehe es zum eigentlichen Kampf kommt.“ (sunzi bingfa, III, 2). – Die wahre „Kunst des Krieges“ besteht also darin, den Krieg, der hier als schädigend für Land und Leute gesehen wird, zu vermeiden.

Der Militärhistoriker Martin van Creveld vertritt die Meinung, der höchste Rang unter den Theoretikern des Krieges gebühre Sunzi und Clausewitz.

Wer die Werke dieser beiden sorgfältig durchgeht, wird aber leicht feststellen, dass das altchinesische bingfa (Die Kunst des Krieges) und das preußisch-deutsche „Vom Kriege“ zwar beide von Strategie und Taktik der militärischen Auseinandersetzungen handeln, dass sie jedoch zum Phänomen des Krieges recht unterschiedliche Stellungen beziehen.

1. Sunzi in seinem geschichtlichen Umfeld

Zwischen 500 und 450 v.Chr. geht die Frühlings- und Herbstperiode unmerklich in die Zeit der Streitenden Reiche über. Das altchinesische Multistaatensystem gerät unter Druck und wird zunehmend instabil. Nüchterne Realpolitik ist an der Tagesordnung, und die Anzahl der politischen Akteure wird durch die unablässigen Kriege ständig vermindert. Um das Jahr 300 v.Chr. sind nur noch drei unabhängige Großmächte übrig, die sich wie wachsame Raubkatzen gegenseitig belauern. Chu mit Schwerpunkt im Yangzi Becken, ist eine lockere Adelsföderation mit eher schwacher politischer Spitze. Bevölkerung und Elite sind konservativ gesonnen und halten an den hergebrachten Überlieferungen fest.

Qin im Westen fungiert als Militärstaat par excellence, mit streng soldatischem Wertekodex, etwa von der Art des griechischen Sparta. Qi im Osten, um Henan und Shandong herum organisiert, ist am weitesten zu den politischen Vorstellungen vorgedrungen, die später den Regierungsstil der chinesischen Kaiserzeit prägen werden.

Sunzi oder Sun Wu wird von der neueren Forschung als reale historische Person akzeptiert, seine wahrscheinlichen Daten sind ca. 545 bis ca. 470 v.Chr. Nach den Informationen des Hanshu wurde er von Wu Zixu dem König Guang von Wu vorgestellt. Um diese Zeit waren die dreizehn juan (Bücher; eher Kapitel) des bingfa (Die Kunst des Krieges) bereits fertiggestellt, sie dienten sozusagen als seine Eintrittskarte in den Beraterkreis des Fürsten. In der zhanguo-Periode (453-221 v.Chr.), die, wie der Name besagt, von kriegerischen Zusammenstößen widerhallte, wurde das bingfa über die gesamte chinesische Oikumene verbreitet, es gehörte zur Pflichtlektüre aller, die etwas mit Staat und Politik zu tun hatten, etwa wie Machiavellis Il Principe während der Renaissance.

2. Clausewitz und seine Umgebung

Carl von Clausewitz wächst in eine Gesellschaft hinein, in der Politik und Krieg seit längerem schon eine enge Verbindung eingegangen sind. Er ist Kind einer Umbruchphase von historischen Dimensionen (1790-1815), in der die politische Landkarte Europas durch die Wirren der Französischen Revolution und danach durch die Napoleonischen Kriege mittels militärischer Gewalt bis zur Unkenntlichkeit verändert wurde.

Er entstammt einer typisch preußischen Militäradelsfamilie, fast sämtliche männlichen Familienmitglieder tragen oder trugen den Waffenrock des preußischen Königs. Schon sein Vater hatte unter Friedrich dem Großen gedient und den Siebenjährigen Krieg (1756-1763) in wichtiger Position mitgemacht, und er selbst bewegte sich von Jugend an auf den Kriegsschauplätzen Europas. Als Napoleon 1806 gegen Preußen mobil macht, kämpft Clausewitz als aktiver Offizier in der vordersten Linie. Sein Freund, Neidhardt von Gneisenau, rühmt den persönlichen Mut, mit dem er sich ohne Rücksicht auf Leib und Leben ins Kampfgewühl stürzte.

Im Schicksalsjahr 1812 unterstützt er das zaristische Russland gegen die Invasion der napoleonischen Grande Armée. Für seine herausragende Tapferkeit bei Borodino, der mit Abstand blutigsten Schlacht des Russlandfeldzugs, erhielt er den „Orden vom Goldenen Schwert“.

Ohne Zweifel, Krieg war für Clausewitz Gegenstand der Reflexion erst in zweiter Linie; zuallererst bedeutete das Kriegsgeschehen für ihn ein den Menschen in den Tiefen aufrüttelndes existentielles Erlebnis – wie es einhundert Jahre später Ernst Jünger geschildert hat. Es ist daher verständlich, wenn sich sein Schreibstil im Kapitel über „Die Kühnheit“ zu beinahe dichterischem Glanze aufschwingt. Hören wir ihn selbst:

„Aber diese edle Schwungkraft, mit der die Seele sich über die drohendsten Gefahren erhebt, ist im Krieg als ein eigenes, wirksames Prinzip zu betrachten … Die Kühnheit ist vom Trossknecht und Tambour bis zum Feldherrn hinauf die edelste Tugend, der rechte Stahl, welcher der Waffe ihre Schärfe und ihren Glanz gibt.“

Kampf ist sein Lebenselement, die Armee seine Heimat. Natur und Geschichte, so sagt er im Hauptwerk, zeigen dem Beobachter, dass alles Leben mit Kampf verbunden ist: jeder versucht, dem anderen sein Gesetz zu geben, und der Schwächere muss überall weichen.

Der Leser, der Clausewitzʼ Buch vom Kriege zur Hand nimmt, trägt den entschiedenen Eindruck davon, dass der Verfasser beim Schreiben seine eigene Sache behandelt. Hier redet ein Vollblutmilitär.

 

Carl von Clausewitz. Bild: Karl Wilhelm Wach/gemeinfrei

 3. Gedanken, den Vergleich der beiden Autoren betreffend

Die Gesamtausgabe des Buches Vom Kriege umfasst nahezu eintausend Seiten. Da ist Raum genug für minutiöse Angaben über Festungen jeder Art (S. 466ff.), über Verteidigung von Morästen und Wäldern (S. 528-526), es gibt ein eigenes Kapitel über Flankenstellungen (S. 485ff.) und selbst eine Überlegung, die Volksbewaffnung betreffend (S. 569ff.).

Nirgendwo aber berührt der preußische Generalstabsoffizier die Frage der Kriegskosten und die daraus sich ergebende Belastung für die Bevölkerung, die zur Verelendung ganzer Landstriche führen kann. Man denke an die furchtbaren Folgen des Dreißigjährigen Krieges, wie sie etwa Ricarda Huch in ihrem Meisterwerk „Der Große Krieg in Deutschland“ beschreibt.

In seiner berühmt-berüchtigten Rede vor dem preußischen Abgeordnetenhaus vom 30. September 1862 hat Otto von Bismarck festgestellt, dass die großen Fragen der Politik nicht durch Reden gelöst werden, sondern durch „Blut und Eisen“ – also durch Krieg. Clausewitz hätte dieser Auffassung des geschichtlichen Lebens sein placet gegeben.

Bei Sunzi herrscht eine weit weniger positive Einstellung, das Thema Krieg betreffend. Vielmehr betont er durchgehend dessen problematische Seiten.

Seine bingfa streut immer wieder Informationen über die horrenden Kosten von militärischen Unternehmungen in den laufenden Text ein. Der Autor scheut sich nicht, die schlimmen Folgen einer solchen Politik für das Gros der Bevölkerung darzulegen.

Gleich zu Beginn des Zweiten Buches gibt der Autor ein Zahlenbeispiel dafür, was es finanziell heißt, eine Armee auszurüsten:

 „Die Regeln der Kriegsführung legen fest, dass man für tausend schnelle Streitwagen, und ebenso viele schwere Karren (für den Transport), sowie hunderttausend gepanzerte Soldaten, plus Vorräten, die für eine Kampagne von tausend li (ca. 500 km) ausreichen sollen, weiter die Ausgaben zu Hause und an der Front, einschließlich der Unterhaltung der diplomatischen Gäste, und der zur Reparatur der Streitwagen und Rüstungen nötigen Summen, – dass man also für all dies zusammen etwa 1000 Unzen Silber pro Tag benötigt. Dies sind die Kosten für die Aufstellung einer Armee von 100.000 Mann.“ (II,1)

Es folgt eine Diatribe gegen den „langen Krieg“, den Sunzi als Land- und Volksverderber schlechthin betrachtet und scharf kritisiert. Ein sich hinziehender militärischer Konflikt mache alle arm, Staat und Volk gleichermaßen. Hier einige charakteristische Aussagen, die Clausewitz nie in die Feder geflossen wären:

 „Leere Staatskassen bedeuten, dass die Armee gezwungen ist, aus dem Lande zu leben. Die langen Transportwege führen zur Verarmung der Menschen. Wo immer die Armee ihre Quartiere aufschlägt, steigen die Preise; und hohe Preise führen dazu, dass die Geldreserven der Bevölkerung schwinden. Diese Lage zwingt den Staat, zusätzliche drückende Dienstleistungen zu verlangen.“ (II,9)

Und weiter, diesmal mit genauen Prozentangaben, die Sunzis starkes Interesse an Fragen der politischen Ökonomie und der Staatsfinanzen bezeugen:

Wenn die Lebensmittel auf dem Schlachtfeld verbraucht werden, dann wird sich der Volkswohlstand um siebzig Prozent vermindern. Die Ausgaben des Staates für das gesamte Kriegsgerät wie Streitwagen und Pferde, und für die Waffen wie Harnisch, Lanzen, Schilde, sowie für die Ochsengespanne der schweren Lastkarren, haben zur Folge, dass sich der Staatsschatz um sechzig Prozent verringert.“ (II,10)

Wenn man eine Armee von hunderttausend Mann aufstellt, um über weite Entfernungen hin Krieg zu führen, dann ist dies eine schwere Belastung für das Volk und die Kosten für die Staatskasse betragen etwa tausend Silberunzen pro Tag. Im Lande und auswärts wird es Unruhe geben. Mindestens 700.000 Familien sind unterwegs (um die Armee zu unterstützen), und können nicht ihrer normalen Beschäftigung nachgehen.“ (XIII,1)

Und zusammengefasst:

„Wenn bei einem Feldzug der Sieg zu lange auf sich warten lässt, so werden die Waffen stumpf und die Begeisterung der Soldaten schwindet. Wenn man eine lange Belagerung von Städten unternimmt, dann werden die Hilfsmittel zunehmend erschöpft. Wenn der Feldzug sich in die Länge zieht, werden die Mittel des Staates nicht mehr ausreichen.“ (II,2)

Nach zwei, drei Jahren Krieg ist die Masse der Untertanen verarmt, alle Ersparnisse müssen für die ständig steigenden Lebensmittelpreise ausgegeben werden. In dieser Lage kann die Regierung keine zusätzlichen Steuern mehr erheben, sie muss vielmehr unmittelbar auf Mensch und Material zugreifen.

Die beiden Zeichen (qiuyi) verdienen unsere Beachtung. Sie bezeichnen das, was man im abendländischen Mittelalter unter corvée oder Hand- und Spanndienste / Frohnden verstand. Diese waren der feudal gebundenen Bauernschaft stets besonders verhasst gewesen. In Kriegszeiten hieß das unter anderem, dass jedes Dorf soundsoviele Karren Lebensmittel als Nachschub für die Armee zur Verfügung stellen musste – unentgeltlich natürlich. Die Gespanne, Zugtiere und Treiber fehlten dann in den Dörfern, eine Zusatzbelastung, die geeignet war, die sowieso schon prekäre Lage der Kleinbauernschaft weiter zu verschärfen – bis zu dem Grade, dass es im Hinterland zu Unruhen kommt – Sunzi verwendet dafür die Zeichen saodong, was im Matthews als „to excite, to stir“ wiedergegeben wird; gemeint sind aufrührerische, sozialrebellische Verhaltensweisen.

Die sinitische Irrigationskultur bewegte sich eben auf dünnem Eis: das offizielle Geschichtswerk über die Vordere Handynastie (202 v.Chr. bis 9 n.Chr.), das Hanshu, sagt in seinem ökonomischen Teil frei heraus, dass eine durchschnittliche Bauernfamilie bei den allfälligen Abgaben für Pachtland und Steuern, eingerechnet die corvée-Dienste, selbst in „guten Jahren“ ohne Gewinn und Verlust gerade so durchkommt, ohne Schulden machen zu müssen. Ganz im Gegensatz zu Europa, wo das Vorhandensein von Großviehhaltung und ausgedehnter Weidewirtschaft (saltus) neben den Getreidefeldern (ager) den Bauern in schlechten Erntejahren über die Runden halfen. Das klassische China war „ein Land ohne Reserven“ (Braudel) und dieser Zustand findet in Sunzis Strategie der Kriegsvermeidung ihr literarisches Echo.

Wie oben bereits erwähnt, ist der hingezogene Krieg die bête noire des Autors. Ein Stratege, der eine solche Aktion zu verantworten hat, verdient seinen hohen Namen nicht. Lange Feldzüge zu führen, bringt große Gefahren für Land und Volk mit sich, denn: „Unter solchen Umständen ist selbst ein begabter Heerführer nicht mehr in der Lage, den Schaden wieder gut zu machen.“ (II,3) Also gilt als strikte Handlungsanweisung: „Deshalb muss ein schneller Sieg die oberste Devise sein“ (II,13)

Die in diesem Zusammenhang verwendete Metaphorik benutzt Bilder, die allesamt aus der Welt des Blitzkriegs stammen. Offensichtlich kommt es Sunzi darauf an, die Feindseligkeiten so rasch wie möglich zu beenden. Im Gegensatz zu Clausewitz gehen ihre politischen und sozialen Kosten in sein Gesamtkalkül ein, er weiß aus Erfahrung, wie leicht das „Mandat des Himmels“ verspielt werden kann. Im Folgenden einige Beispiele:

Der Aufprall gleicht dem Sturzbach, der selbst die großen Steine fortreißt.“ (V,12)

Dieser Zusammenstoß gleicht dem Moment, wenn der Falke sich auf seine Beute stürzt.“ (V,13)

Deshalb wird der Aufprall, den ein guter Feldherr herbeiführt, tödlich und blitzschnell sein.“ (V,14)

Hat aber eine Verkettung von ungünstigen Umständen dazu geführt, dass der Ausbruch eines Krieges doch unvermeidlich wird, kennt der Meisterstratege nur das eine Ziel: den Feind durch eine konzentrierte Ballung der eigenen Kräfte an seiner schwächsten Stelle „tödlich“ zu treffen. Alles Weitere ist dann Diplomatie, die Sunzi eindeutig höher bewertet als den direkten Kampf:

 „Die höchste Führungskunst zeigt sich auf der Ebene der Strategie; eine Stufe tiefer rangiert die Diplomatie; noch tiefer steht der eigentliche militärische Kampf; und zuunterst kommt die Belagerung befestigter Städte.“ (III,3)

Doch auch der rasch beendete, und deshalb „billige“ Krieg ist nur die zweite Wahl. Der wirklich große Stratege setzt sich das Ziel eine Sprosse höher: er will durch seine Künste den Krieg überhaupt vermeiden:

„Kein Wutanfall dauert ewig, und danach wird man sich wieder freuen; und wer sich heute ärgert, der wird morgen wieder frohen Mutes sein. Aber einen Staat, der zu Grunde gegangen ist, kann man nicht wieder aufrichten. Auch die toten Soldaten kann man nicht wieder zum Leben erwecken. Darum wird ein erleuchteter Herrscher höchste Vorsicht walten lassen (wenn es um das Kriegswesen geht) (XII,10)

Sunzi sagt:

 „Die Kunst der Kriegführung besteht darin, das Feindesland ohne Kampf zur Kapitulation zu zwingen; das Land mit Gewalt zu zerstören, ist nur eine schlechte Alternative.“ (III,1)

Daher wird der kluge Feldherr die gegnerischen Truppen ohne Kampf besiegen, und er wird die Städte ohne Belagerung einnehmen. Er wird den feindlichen Staat ohne langwierige Kämpfe gewinnen.Wenn man auf diese Weise die eigenen Truppen möglichst geschont hat, dann kann man mit der intakten Armee das ganze Land pazifizieren. Dies ist das oberste Ziel aller strategischen Überlegungen.“ (III,6)

„Deshalb kann die Devise ‚hundert Schlachten und hundert Siege‘ nicht das oberste Ziel der Kriegsführung sein. Als oberstes Ziel muss vielmehr gelten, die gegnerischen Truppenverbände ohne Kampf zu neutralisieren.“ (III,2)

Im krassen Gegensatz dazu heißt es bei Clausewitz: „Das Gefecht ist die eigentliche kriegerische Tätigkeit, alles Übrige ist nur Träger derselben.“

Im obigen Zitat (III,2) findet sich der entscheidende Satz, der den Schlüssel zu Sunzis politischer und, man möchte sagen, proto-konfuzianischer Einstellung enthält: Kein Krieg ist der beste Krieg. Auch eine gewonnene Schlacht bringt Blutvergießen, menschliches Leiden und hohe Kosten mit sich. Ein Herrscher, dem Staatswohl und Volkswohl ernsthaft am Herzen liegen, wird alles daransetzen, den eigentlichen Krieg durch eine kluge und vorbeugende diplomatische Tätigkeit zu vermeiden.

Es soll nochmals unterstrichen werden, dass in diesen Worten der punctus puncti liegt. In Clausewitzʼ Vom Kriege wäre ein Ausspruch wie in bingfa III,2 ein Fremdkörper, er würde dem Geist dieses Werkes schlichtweg widersprechen. Es ist überhaupt so, dass die Mehrzahl der Westler Sunzi mit dem Satz: „In hundert Schlachten hundert Siege“ in Verbindung bringt. Dies entspricht dem Bilde, das man sich gemeinhin von der Tätigkeit eines erfolgreichen Generals macht: er soll den Schlachtensieg herbeiführen, etwa wie Hindenburg bei Tannenberg. Wenige haben den Sunzi-Text wirklich durchgesehen, noch weniger sind dabei bis zur oben angeführten Stelle vorgedrungen.

Diese Worte, die vom Ziel der Kriegsvermeidung reden, werden sie fremd berührt haben, denn der Geist der daraus spricht, kommt aus den Tiefen einer Kultur, die sich im pazifistisch orientierten Beamtengelehrtentum des kaiserlichen China ihre historische Gestalt gab. Während der Okzident seit dem „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ (Heraklit von Ephesos, ca. 520-460 v.Chr.) dem Mars gehuldigt hat.

Der in der bingfa vorgestellte Stratege ist ein Meister der Antizipation. Lange bevor sich der Konflikt über den politischen Horizont schiebt, hat er sein Netz von Agenten in Position gebracht, die ihn minutiös über Stärken und Schwächen der potentiellen Kontrahenten unterrichten. Er studiert die topographischen Besonderheiten der Landesnatur, und versteht es, durch das Ausstreuen gezielter Falschmeldungen, den Feind genau auf das vom Strategen ausgewählte Terrain zu locken. Von einer Anhöhe aus überblickt er das militärische Schauspiel, das zu seinen Füßen abrollt. Er berechnet die Kräfteverhältnisse der hier massierten Einheiten, um dann seine Truppen so meisterlich zu positionieren, dass es gar nicht zum Gefecht kommt, weil nämlich der in die Enge getriebene gegnerische Feldherr, der seine Unterlegenheit erkennt, den ungleichen Kampf aufgibt.

Hier nochmals der Unterschied in aller Klarheit: Bei Clausewitz dienen die getroffenen sorgfältigen Vorbereitungen nur dem einen Zweck, beim unvermeidlich eintretenden Gefecht alle Vorteile, alle Trümpfe auf der eigenen Seite zu haben. Während der chinesische Stratege enorme Anstrengungen unternimmt, um eine Position zu gewinnen, die den gegnerischen Feldherrn zu Aufgabe zwingt: er siegt, bevor es noch zur eigentlichen Schlacht kommt. Clausewitzʼ General will die heraufziehende Schlacht gewinnen – ohne sich um die entstehenden Kosten zu kümmern. Denn das ist nicht sein métier, darum sollen sich die Politiker kümmern!

4. Das klassische China

Sunzis Stratege dagegen handelt mit dem Ziel der Schadensbegrenzung, genauer: der Schadensminimierung. Denn er agiert im Kontext einer Gesellschaft, die unter einem enormen demographischen Druck steht: die man-land-ratio ist nie gut und verschlechtert sich im Laufe der Dynastien – zu viele Menschen bei insgesamt zu wenig gutem Boden, i.e. bewässerungsfähigem Reisland. China leidet deshalb, von der Antike bis in die späteste Kaiserzeit, unter einer strukturellen Instabilität – das Abgleiten in den bäuerlichen Aufstand ist nie fern, und bedroht als Damoklesschwert die gesamte politische Kultur.

Die Antwort der altchinesischen Intelligenz auf dieses factum brutum war eine allmähliche Annäherung an konfuzianische, genauer: menzianische Lehrmeinungen. So wurde gefordert, dass alle Steuern, Abgaben und Dienstverpflichtungen niedrig gehalten werden sollten; da der fiskalisch abschöpfbare Mehrwert so klein sei, müssten alle zusätzlichen Belastungen vermieden werden.

Es wurde communis opinio anzunehmen, dass kriegerische Unternehmungen, vor allem wenn sie sich in die Länge zogen, eine Landwirtschaft ruinieren würden, die wesentlich aus bäuerlichem Klein- und Kleinstbesitz (Minifundien) bestand. Betrieben mit 30 mou (= 4 Hektar), die selbst in guten Jahren am Existenzminimum lavierten. [Die menzianische Anschauung] wurde zum Testfall der politischen Herrschaft. Will heißen: niemand hat das Recht, sich legitimerweise König (oder später: Kaiser) zu nennen, der nicht bereit ist, das Volk zu schützen. Und „Volk“ das waren im alten China zu über neunzig Prozent die nongren, also die Bauern.

Die langen Perioden innerer Ruhe unter dem Schutzdach des sinitischen Verwaltungsstaates führten, bei der gegebenen hohen Fertilität, innert weniger Generationen zu einem enormen Druck auf das Land. Die Beamtengelehrten erkannten, dass eine hohe Staatsquote den sozialen Frieden gefährden würde. Die regulären Steuern mussten niedrig sein, fiskalische Sonderbelastungen sollten unbedingt vermieden werden. Die größten Sonderbelastungen aber waren bekanntermaßen mit dem Kriegsführen verbunden. Nicht zufällig nannte sich diese administrative Elite „wenren“, also die „Zivilisten“, sie definierte sich als Gegensatz zu allem, was dem Militärstand (wu) zugehörte. Der Mandarin reitet nicht zu Pferd, sondern lässt sich in einer Sänfte tragen; er führt kein Schwert, sondern den Pinsel, den er sowohl für die amtliche Tätigkeit, als auch für seine literarische Produktion benutzt – kurz, er verwaltet das Land mit der Kraft seiner „zivilen Tugend“ (wende).

Die kriegerisch-expansionistischen Kräfte, wie legistisch denkende Kanzler, Hofeunuchen und Militärcliquen, wurden seit der Vorderen Han in ein starkes konfuzianisches Regelwerk eingebunden. Unter der Ägide der Rujia erfolgte die Ausweitung der nordchinesischen Kernlande zum Großreich mit erstaunlich wenig Gewalt. Der Süden erlebte zwischen dem Ende der Qinzeit und dem Fall Tangdynastie, also in gut eintausend Jahren, mehrere massive sinitische Besiedlungsschübe, wodurch die alten thai-burmesischen Ethnien in Richtung Südostasien abgedrängt oder von der überlegenen Kultur assimiliert wurden.

Der immense Raum der Westgebiete bietet ein weiteres Beispiel einer pénétration pacifique. Die zahlreichen Oasenstaaten entlang der Seidenstraße wurden durch eine konsequente Matrimonialpolitik an den Drachenthron von Chang` angebunden. Was sich seit der Handynastie ausbreitet, wird man korrekt als informal empire bezeichnen. Der Kaiser regiert diesen lockeren Verband kraft einer Staatsmetaphysik, die ihm eine Stellung als „Sohn des Himmels“ (tianzi) zuweist. So verfasst, und von den Beamtengelehrten besonnen und effektiv verwaltet, konnte der konfuzianische Ritualstaat den umliegenden Völkern und Stämmen ein Weltalter lang Beispiel und Bild geben. Ren Jiyu, der bedeutende neukonfuzianische Gelehrte, hat zusammengefasst:

 „China gewann seine hegemoniale Position nicht durch militärische Macht, sondern kraft der Evidenz eines gesteigerten Lebens, das die Randvölker auch ohne Kampf, gleichsam durch die kulturelle Verlockung, in die Oikumene hineinführte.“

 Und wie steht es mit der Sicherung nach außen? Das Reich der Mitte war ein „historisches Unikat“ (W. Bauer), es stand in der asiatischen Sphäre konkurrenzlos allein. Wieder und wieder stürmten die Steppenkrieger über die Konfinien des Reiches ins Kernland der achtzehn Provinzen, wieder und wieder brach sich die Welle des nomadischen Militarismus an den kulturalistischen Klippen. Dreißig, fünfzig Jahre vergingen, und das Ethos der Stammesaristokratie erlag dem Sog der Great Tradition; eine leise, aber durch nichts aufzuhaltende Sinisierung machte, wenn nicht aus den Kriegern selbst, so doch aus ihren Söhnen und Enkeln, Politiker und Verwalter, die sich in ihren Handlungen nach den Vorschriften der konfuzianischen Staatslehre richteten.

Als cause célèbre gilt das Beispiel des Kangxi-Herrschers (reg. 1662-1722). Sein Großvater Abahai war der Inbegriff des tungusischen Großkhans, der die Schriftzeichen als bloßes „Gekrakel“ verachtete; der Enkel wurde zum konfuzianischen Modellherrscher schlechthin. Pater Verbiest, S.J., der zum engeren Beraterkreis um den jungen Kaiser zählte, ist voll des Lobes für dessen humane Politik – seit der frühen Ming war die fiskalische Abschöpfung nicht mehr so niedrig gewesen. Als Mäzen der Gelehrsamkeit gab er das literarische Großunternehmen der Ming-Geschichte in Auftrag und ließ das kangxi zidian erstellen, das mit knapp fünfzigtausend Zeichen umfassendste Repositorium der chinesischen Schriftsprache. Kurz nach der Thron­besteigung (1670) erließ er, als kaiserlicher Pontifex und mit Blick auf die amtliche Kultversorgung, das „Heilige Edikt“ shengyü, das in sechzehn elegant formulierten Sentenzen den konfuzianischen Tugendkatalog paraphrasiert. Die Kreisbeamten waren gehalten, dieses dem alttestamentarischen Dekalog ähnelnde Schriftstück zwei Mal im Monat öffentlich zu verlesen.

In dem denkwürdigen Streitgespräch zwischen Sima Guang (1019-1086) und dem Reformpolitiker Wang Anshi (1021-1086), das 1068 im Beisein des Shenzong Herrschers stattfand, lehnte der konservative Historiker die Aufstockung der Grenztruppen mit dem Argument ab: „Die Kultur verteidigt sich selbst.“ Der Verlauf der chinesischen Geschichte hat ihm Recht gegeben.

Abschließend noch einige Zitate aus Max Webers Religionssoziologie. In seiner langen Abhandlung zum konfuzianischen China lesen wir: „Aber seit der Herrschaft der Literaten – also seit der Han-Dynastie – war die zunehmend pazifistische Wendung der Ideologie naturgegeben.“

Und: „Die tiefe Befriedung des Landes, zumal seit der Mongolenherrschaft, hat diese Stimmung sehr gesteigert. Das Reich wurde nunmehr ein Reich des Friedens … Die Armee war im Verhältnis zu seinem Umfang schließlich geradezu winzig geworden.“

Weiter: „Das konfuzianische, letztlich pazifistische (im Original gesperrt), an innenpolitischer Wohlfahrt orientierte Literatentum stand natürlich den militärischen Mächten ablehnend oder verständnislos gegenüber.“

Und nochmals: „Die ‚Vernunft‘ des Konfuzianismus war ein Rationalismus der Ordnung. Und sie war eben deshalb essentiell pazifistischen Charakters. Diese Eigenart hat sich historisch ständig gesteigert, bis Kaiser Qianlong um 1740 den Satz schreiben konnte: ‚Nur wer kein Menschenblut zu vergießen trachtet, der kann das Reich zusammenhalten‘.“

Dies mag genügen, um dem Leser die irenische Grundstimmung der chinesischen Kultur und Gesellschaft zu veranschaulichen, – in der es immer wieder und an erster Stelle um „die sozialethische Fürsorge für die Ernährung der Massen“ ging. Kriegerische Unternehmungen, und die damit unweigerlich verbundene Belastung der bäuerlichen Massen aber sabotierten diese oberste Zielsetzung.

Sunzis Theoretisieren über den Krieg, das sich, wie oben angeführt, streckenweise wie eine Anleitung zur Kriegsvermeidung liest, gehört in jenen Kreis der proto-konfuzianischen Intellektuellen des Staates von Qi, die sich bewusst der Militärdespotie von Qin entgegenstellten – womit sie sich als direkte Vorläufer der oben geschilderten, anti-militaristisch ausgerichteten Beamtengelehrten des kaiserlichen China ausweisen.

5. Der Okzident

Das westliche Kulturklima war anders gestimmt. Kurz nach seiner Ernennung als Nixons Sicherheitsberater (1969) gab Henry Kissinger ein Interview mit AFP. Gefragt, wie er seinen heimatlichen Kontinent geschichtlich einstufen würde, kam die Antwort: „Well, you know, Europe always was a warlike continent, and we have to take this into account.“ Es nimmt sich wie eine Fußnote zu dieser Einschätzung aus, wenn Michael Howard in seiner großangelegten Arbeit zu Krieg und Frieden ausführt:

„Bis zur ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts war Kriegführung in Westeuropa Lebensinhalt für wesentliche Sektoren der Gesellschaft. Frieden bedeutete für sie eine Katastrophe, und die Verlängerung des Krieges war, ausgesprochen oder unausgesprochen, legitime Aufgabe eines jeden Mannes von Geist und Verstand.“

 Der viktorianische Historiker John Robert Seeley (1834-1895) beschreibt das Jahrhundert der beginnenden englischen Modernisierung von der ‚Glorious Revolution‘ (1688) bis zum Wiener Kongress (1814) als eine Epoche der permanenten Kriegsführung:

 „Sieben große Kriege führten wir von der Revolution bis zur Schlacht von Waterloo, der kürzeste dauerte sieben und der längste zwölf Jahre. 64 von 126 Jahren, also mehr als die. Hälfte, waren Kriegsjahre.“

 Das kaiserliche China war kein Staat, schon gar kein Nationalstaat, sondern eine immens große Kulturinsel, eine Oikumene. Als solche stand sie in ihrer historischen Sphäre allein, ‚hors de concurrence‘ [konkurrenzlos], wie es seinerzeit der französische Sinologe Henri Maspero ausgedrückt hat.

Im Okzident hingegen herrschte seit dem Ende des weströmischen Reiches (476 n.Chr.) ein schier unaufhörliches Gerangel und Geschiebe partikularer Mächte. Ein Blick auf die Lage im Italien nach dem Ende der Staufer (ca. 1250 n.Chr.), beispielsweise, zeigt uns vier Seerepubliken, Venedig, Genua, Pisa und Amalfi, in ständigem Ringen um Erhalt oder Ausweitung von Märkten für ihren Fernhandel. In ihren Werftanlagen wurden technische Fortschritte in der Mehrheit der Fälle als Fortschritte in der Kriegstechnik verstanden. Wenn die Markusrepublik schon in der Frührenaissance ihre Rivalen überflügelte, so deshalb, weil die Serenissima 15 % des jährlich anfallenden Reingewinns in den Aufbau von Werftanlagen steckte – das berühmte Arsenal von Venedig, das sich ab etwa 1400 n.Chr. zur unbestritten größten technisch-wissenschaftlichen Institution im Europa vor der Industriellen Revolution entwickelte.

Weiter mit Italien. Nach dem Zusammenbruch der deutschen Kaisermacht wurde die entstandene Lücke mit einer Vielzahl von „Konjunkturstaaten“ (J. Burckhardt) ausgefüllt, die sich in schier unaufhörlichen Kriegen behaupteten, erweiterten oder untergingen. Allein dem Aufstieg der Visconti, den mailändischen Herzögen, sind unter beständigen Kämpfen gut zwei Dutzend kleinere Herrscher geopfert worden! Das politische Leben als ein militärisches Exerzitium hat die Auffassung der Renaissance von Staat und Staatlichkeit dauerhaft geprägt. Nur so können wir verstehen, wieso der bedeutendste politische Denker dieser Epoche zu dem folgenden Urteil kommt:

„Ein Herrscher soll also kein anderes Ziel, keinen anderen Gedanken haben, und sich keiner anderen Kunst widmen als der Kriegskunst, ihren Regeln sowie der militärischen Disziplin.“

 Und was den „warlike continent“ betrifft, so wurde mit dem Auftauchen des Osmanischen Reiches an den abendländischen Grenzen eine neue, über zweihundert Jahre währende Epoche kriegerischer Konflikte eingeläutet. Von der Einnahme Konstantinopels durch Mehmet II. (1453) bis zur Rückeroberung Belgrads durch Prinz Eugen (1717) bestand für das relativ kleine Westeuropa ohne geographische Tiefe die sehr reale Gefahr, von der unerbittlich vorrückenden islamischen Großmacht überrollt zu werden. Diese Situation unterschied sich grundsätzlich von der chinesischen Lage. Die konfuzianische Ritualmonarchie war nach strategischer Tiefe und demographischer Masse viel zu gewaltig, um durch irgendjemand „geschluckt“ zu werden – vielmehr hat China im Laufe der letzten zweitausend Jahre alle hereinflutenden Völkerschaften in ihrem Eigenbestand aufgelöst und sie geistig-kulturell vereinnahmt.

Die zweihundertfünfzigjährige Bedrohung durch die sich wie ein Gletscher nach Westen schiebende islamische Großmacht hat in der Mentalitätsgeschichte Europas tiefe Spuren hinterlassen. Hier war eine existentielle Gefahr, die das christliche Abendland in toto zu vernichten drohte. Während der Herrschaft von Suleiman dem Prächtigen (1522-1566) etwa wurde die ottomanische Militärgrenze bis in die Nähe von Graz vorgetrieben, und die ungeschützten italienischen und spanischen Küstengebiete waren den nicht abreißenden Überfällen islamischer Korsaren ausgeliefert. Das si vis pacem para bellum [‚Wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg‘] wurde zum politischen Credo einer Gesellschaft, die sich die Welt ohne Krieg überhaupt nicht mehr vorstellen konnte.

Das nach dem Westfälischen Frieden entstandene Mehrstaatensystem, die sogenannte europäische Pentarchie, übernahm diese historisch gewachsene Mentalität, samt der darin implizierten Generalvermutung zugunsten einer militärisch-offensiven Politikgestaltung. Das XVIII. Jahrhundert bietet das Schauspiel einer Kette von kriegerischen Auseinandersetzungen, die mit dem Kampf um die Spanische Erbfolge beginnen und sich über den sogenannten Schlesischen in den Siebenjährigen Krieg fortsetzen, um gegen Ende des ancien régime in die konfliktträchtige Dauerkrise einzumünden, die im Gefolge der Großen Revolution (1789) die europäische Staatenwelt erschüttert.

6. Fazit

Sunzi, ein antiker Chinese, und Clausewitz, ein moderner Europäer, theoretisieren über den Krieg. Beide reden lege artis über Strategie und Taktik, über Angriff und Verteidigung, über Sieg und Niederlage. Alles sehr ähnlich im Ton, doch ganz verschieden in dem, was ausgesagt wird. In der Deutschen Ideologie heißt es, dass das Bewusstsein das bewusste Sein ist. Dies trifft den Punkt: Das Sein, die Lebenswelt, der gesamte politische und ökonomische Horizont, – sie hätten für die beiden Autoren nicht verschiedener ausfallen können. Und genau so verschieden ist auch ihre Einstellung zum Krieg.

Buchausgabe mit ungekürztem Essay, Übersetzung und allen Quellennachweisen:

Rainer Hoffmann / Hu Qiuhua: Kein Krieg ist der beste Krieg! Das chinesische Werk „Die Kunst des Krieges“ (bingfa) von Sunzi – dargeboten im Vergleich mit Anschauungen des Preußen Carl von Clausewitz. (edition pace, Bd. 32). Norderstedt: BoD 2025. (ISBN 978-3-8482-5962-5; Paperback; 104 Seiten; 6,99 Euro)

Die Sunzi-Übersetzung ist ein Gemeinschaftswerk des Sinologen und Politologen Rainer Hoffmann (Universität Freiburg i.Br. und Universität Basel) und seiner chinesischen Ehefrau, der Sinologin und Germanistin Qiuhua Hu (Universität Zürich). Von beiden ist zuletzt das Geschichtswerk „China. Seine Geschichte von den Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit“ veröffentlicht worden. Ein Auszug aus dem erhellenden Vergleich von Clausewitz und Sunzi erscheint als Beitrag von Rainer Hoffmann auch im „China Journal of Peace Studies“ (Nanjing 2025).

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18 Kommentare

    1. Schach ist ein wirkliches Spiel des Denkens, wobei Pokern nur auf Bluffen und Glück beruht.
      Olaf Thomas Opelt, Plauen, 9.3.25

      1. @ Olaf Opelt
        9. März 2025 um 20:38 Uhr

        Stimmt!
        Ich will beide Spiele auch überhaupt nicht vergleichen bzw. für ähnlich erklären!

        Es ist nur so, dass man bei manchen westlichen Ländern nicht so sicher sagen kann, ob sie nicht vielleicht(manchmal) auch bloß ganz banal pokern.

        Es geht mir darum, dass diese beiden(!) Spiele die westliche Geisteshaltung/Mentalität bei Konflikten darstellen. Die Intelligenteren spielen Schach, die anderen pokern. Es kann sich auch abwechseln.

        Beides unterscheidet sich aber sehr von Go. Darum geht es mir.

    2. Warum war dann ein Chinese neulich noch Weltmeister im Schach? (-> Ding Liren) Und auch der neue Weltmeister stammt nicht nicht aus dem „Westen“, sondern aus Indien, das nach vielen Quellen als „Mutter des Schachs“ gilt.
      Als langjähriger Vereinsspieler kann ich auch noch anmerken, daß ‚Bluffen‘ auch am Brett funktioniert (s. z. B. die Partien zwischen Fischer und Spassky oder Kortschnoi und Karpov). Dafür muß man nicht Poker spielen 😉
      Spieltheorien bzw. -strategien und -vorlieben einer bestimmten Region oder Ethnie zuzuordnen, halte ich generell für zu kurz gedacht 😛
      Es ist immer der „Homo ludens“, also der spielende Mensch, der sich für das Spiel entscheidet, das ihm zusagt.

  1. Die neuen Nazis in der Politik oder beim BND – meist genetisch mit den Alten verwandt – machen auf bunt und sagen: „wir sind die Freiheit, wir sind die Demokratie“

    1. Die europäischen Kriegsbegeisterten sind Nato-Fans und zu einer eigenen Kriegsführung, die länger als zwei Wochen dauert, gar nicht fähig. Vgl. Libyen 2011:
      https://www.spiegel.de/politik/ausland/libyen-krieg-nato-geht-munition-gegen-gaddafi-aus-a-757498.html
      „In den USA sind die Munitionsdepots gut gefüllt. Doch britische und französische Kampfjets, die den Großteil der Angriffe auf die Truppen von Machthaber Muammar al-Gaddafi fliegen, können die Bomben aus den USA nicht nutzen; sie sind nicht kompatibel, passen nicht zu den Fliegern.“

      Auch das aktuelle Großspur-Getuen, man sei nicht vorbereitet selber gegen Russland zu kämpfen, aber müsse nur den Wohlstand der Bevölkerung ordentlich kürzen und könne sich dann mit riesigen Investitionen in Militär kriegstauglich machen, ist wieder reines Wunschdenken. Denn sobald es zum Krieg kommt, hat Europa wieder das Ukraine-Verlierersyndrom, Dass wenn die Depots leergeschossen sind – in der Ukraine waren die noch aus der Sowjetzeit – sie auf Rohstoff- und Materialhilfe von außen angewiesen sind.

      Die Zeiten, wo man Speere aus Haselnuss schnitzte und nächstes Jahr neue wachsen, sind vorbei. Heute schmiedet man Stahl zu Oreschniks.

      Die Argumente der von der EU angestimmten Wehrtüchtigkeits-Kriegsgeilheit sind von vorne bis hinten Wunschdenken, das in keinem Aspekt realitätstauglich ist, wenn der Gegner zu strategischem Denken befähigt ist und selbst alle denkbaren Rohstoffe im Land in riesigen Mengen zur Verfügung hat.

      In West- und Mitteleuropa wurde über die Jahrzehnte perfekte Untertanen über das Nato-Karrierenetzwerk in die vorderen Partei- und Regierungsreihen getragen, die nicht mal befähigt sind ohne US-Vordenker festzustellen, dass sie im „Verbund“ (als Untertanen) in der Nato nur über die Illusion von Macht verfügen.

      Resultat ist, dass sie sich, sobald die USA mal die Nato-Fassade etwas verschieben, vor aller Welt Augen planlos wie kopflose Hühner zeigen.

  2. Um es einfacher auszudrücken:

    In China spielt man GO, im Westen Schach!

    Im Vergleich zum GO-Spiel – hier geht es um die Beherrschung möglichst vieler Felder – ist Schach ein unterkomplexes Kriegsspiel. Schach kann selbst ein einfacher Computer leicht erlernen, GO nicht. Erst vor einigen Jahren gelang es einen hochmodernen chinesischen Computer einen menschlichen GO-Spieler zu schlagen.

    Einstein und Xi Jinping sind GO-Spieler. Was spielt Kaiser Merz?

    In China weiß man um die kulturelle Überlegenheit der eigenen Kultur, würde dies aber niemals anderen gegenüber zugeben oder sogar damit angeben. Sowas würden nur Westler tun.

    China baut gerade eine moderne Volksarmee auf, die sich auf KI und Seemacht stützt. Diese moderne Armee ist ohne Kriegserfahrung. Diese haben die Russen, weshalb die strategische Zusammenarbeit mit Russland.

    Da Europäer obige Gedanken nicht wirklich verstehen, stärkt dies nur die chinesische Softpower.

    Während sich der Westen im unaufhaltsamen Niedergang befindet, steigt der chinesische Kulturkreis auf. Seine „Waffen“ sind DeepSeek und Kernfusion…..und die geschäftigen, fleißigen chinesischen Menschen, die vom konfuzianischen Geist geprägt ein dem Gemeinwohl gewidmetes Leben führen.

    Letztlich macht der chinesische Mensch den Unterschied!

    1. @ Freedomofspeech
      9. März 2025 um 18:24 Uhr

      Noch eine kleine Ergänzung zu Schach und Go:

      Schach zielt auf den Sieg durch das Mattsetzen des Königs und die meist vorangegangene Zerschlagung des gegnerischen „Heeres“.
      Worum es geht, ist der totale Sieg und die VERNICHTUNG des Gegners (in einer Schlacht).
      „Unterkomplex“ würde ich es allerdings nicht nennen.

      Go zielt – wie Sie ja auch sagen – auf Sieg durch Raumkontrolle bzw. -beherrschung (in einer längeren Auseinandersetzung), aber nicht auf einen Sieg durch totalen Ko wie beim Schach. Der schwächere Spieler ist zwar unterlegen, aber er wird nicht vernichtet. Bezogen auf die politische Wirklichkeit entspricht das der Eingliederung des Schwächeren in ein Abhängigkeitsverhältnis.

    2. In Japan spielt man übrigens auch Go („Go“ ist japanisch, „Weiqi“ der chinesische Name).
      Wie der letzte Krieg des „Go-Landes“ Japan ausgegangen ist, kann ja wohl als bekannt voraus gesetzt werden. So what?
      Aus Brettspiel-Präferenzen kann man genauso wenig wie aus angenommenen nationalen Mentalitäten überlegene Geopolitik ableiten. Das hat James-Bond-Film-Niveau.

      1. Japaner spielen die aggressivere Variante von GO, ähnlich wie europäische Neueinsteiger.
        Man kann sich beim GO nach den ersten Steinen bereits in heftige Gefechte verwickeln und gewinnt so wenig Raumkontrolle…..ist sowas wie Räuberschach.

          1. Und in all diesen Ländern gibtes auch dem Schach ähnliche Brettspiele wie Shōgi. Schach ist eine sehr abstrahierte Simulation einer Feldschlacht. Go soll von der Verteilung von Reisfeldern abgeleitet sein. Deswegen die Betonung der Kontrolle von Gebieten.

  3. Danke an die Veröffentlicher,
    ein riesiger Fundus zum Weiterdenken, mit dem man ganze Studiengänge beschäftigen kann. Leider aber fehlen den Deutschen inzwischen die Oberlehrer (Professoren) dazu. Also ran ans Werk, um von neuem den Titel eines Volkes der Dichter und Denker zu erwerben.

  4. „Die Kunst der Kriegführung besteht darin, das Feindesland ohne Kampf zur Kapitulation zu zwingen; das Land mit Gewalt zu zerstören, ist nur eine schlechte Alternative.“

    Scheinbar eine Lehrmeinung, die es noch nicht bis zur Geheimdienstschule in Moskau geschafft hat.

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