„Justizreform“ in Israel: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben

Proteste am 26.März in Tel Aviv. Bild: Oren Rozen/CC BY-SA-4.0

Wie sieht es nach der Entlassung des israelischen Verteidigungsminister durch Netanjahu um die Protestbewegung aus? Was hat der Aufschub der “Justizreform” zu bedeuten?

 

In einer spontanen Massenreaktion auf die Entlassung des israelischen Verteidigungsministers Yoav Galant durch Premier Benjamin Netanjahu entfaltete sich eine viele israelische Städte umfassende, denkwürdige Protestnacht, die mit solcher Verve und ungestümer Emphase ausgetragen wurde, dass es für Momente scheinen mochte, als würden die schon seit Monaten bebenden Koordinaten der Widerstandsbewegung gegen die “Justizreform” endgültig aus den Fugen geraten.

Der Entlassungsakt war wie der letzte Strohhalm, der den Rücken des Kamels bricht, weil er sich als brutaler diktatorischer Schritt ausnahm. Der Verteidigungsminister hatte tags zuvor eine Rede gehalten, in der er die bedrohlichen Auswirkungen der “Justizreform” (bzw. der Protestaktionen gegen sie) auf die Bereitschaft vieler Reservisten der Armee darstellte, sich künftig freiwillig dem Militärdienst zu stellen, solange die antidemokratische Aushöhlung des israelischen Justizsystems fortschreitet. Er sah es als seine Pflicht an, auf die damit einhergehende Gefahr für Israels Sicherheit einzugehen, erfüllte mithin verantwortlich seine professionelle Funktion. Das war für Benjamin Netanjahu Anlass genug, ihn zu entlassen. Denn Galant hatte gefordert, den Prozess der “Justizreform” zu unterbrechen. Er habe kein Vertrauen mehr in den Verteidigungsminister, sagte der Premier; Yoav Galant sei den Verweigerern des Reservedienstes nicht resolut genug entgegengetreten.

Die radikale Maßnahme seitens des Premiers mag die Initiative von Yair Netanjahu gewesen sein, Netanjahus Sohn, von dem es heißt, er beherrsche seinen Vater völlig. Die Ehefrau des Premiers, Sara Netanjahu, gilt (auch für seriöse Publizisten) schon seit langem als dominante Gestalt der “monarchischen Familie”, ohne die der Premier kaum noch bedeutende Entscheidungen zu fällen wagt. Was sich für Beobachter außerhalb Israels als eine Familienfarce ausnehmen mag, ist bittere israelische Realität. Sara Netanjahu soll bei Nominierungsentscheidungen gewichtiger Funktionen im Militär und den Geheimdiensten massiv mitgewirkt haben. Yair Netanjahu hat ein höchst effektives Netzwerk sozialer Medien errichtet, mit denen er “Botschaften” an die Anhänger seines Vaters verbreitet, die an Lügenhaftigkeit, demagogischer Manipulation, vor allem an perfiden Besudelungs- und Verunglimpfungskampagnen gegen “feindliche” Personen und Organisationen (die allesamt als “Linke” apostrophiert werden) nur schwer zu übertreffen sind.

In der Tat mutet Netanjahu bei seinen bereits spärlichen Auftritten in letzter Zeit eher als Getriebener denn als Anführer an. Sein Charisma ist verblasst, er hat offenbar an Selbstbewusstsein verloren und wirkt merklich geschwächt. Man ist sich in den publizistischen Kommentaren nicht einig darüber, ob er alles, was nun über Israel eingebrochen ist, mit Vorbedacht geplant hat, oder ob er die Geister, die er rief, einfach nicht mehr los wird. Das bleibt sich letztlich aber auch gleich, denn nichts hat ihn zu der von seinen Handlangern resolut vollzogenen “Justizreform”, die sich im Grunde als lupenreiner Staatsstreich erweist, mehr angespornt, als sein persönliches Interesse, seinem Prozess und der Verurteilung mit möglicher Gefängnisstrafe zu entgehen. Dafür war er bereit, die israelische Justiz “legal” (also kraft parlamentarischer Gesetzgebung) auszuhöhlen, die Gewaltenteilung mutatis mutandis zu erschüttern und die ohnehin zerrissene israelische Gesellschaft einer kaum noch überbrückbar erscheinenden Spaltung auszusetzen.

Diese manifestierte sich vor allem in der tatsächlich beeindruckenden, bestens organisierten und orchestrierten Protestbewegung. Sie ist massiver als vergangene Demonstrationswellen, umfasst größere Teile der Bevölkerung und zeigte sich in den letzten drei Monaten so persistent und unerbittlich, wie es dem Ernst der kollektiven Lage angemessen ist. Höhepunkt war, wie gesagt, der spontane Massenprotest in der Nacht vom vergangenen Sonntag auf Montag infolge der Entlassung des Verteidigungsministers. Nun wurde es selbst Netanjahu und seinem Umfeld klar, dass man der “justizreformierenden” Gesetzgebung (vorläufigen) Einhalt gebieten müsse. Das war zweifellos ein (kleiner) Sieg der Protestbewegung. Dazu gehört wohl auch, dass Galants Entlassung zwar verkündet wurde, er selbst aber bis zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen noch kein offizielles Entlassungsschreiben erhalten hat. De facto liegt die ministerielle Verantwortung für die Sicherheitsbelange Israels weiterhin bei ihm.

Aber man mache sich nichts vor. Die “Justizreform” wurde bis Mai aufgeschoben, mitnichten aufgehoben. In der Zwischenzeit sollen unter der Ägide des israelischen Staatspräsidenten Kompromissverhandlungen zur Erweiterung des Konsenses zwischen den Befürwortern der “Justizreform” und ihren Gegnern stattfinden; sie haben schon begonnen. Aber führende Stimmen in der Protestbewegung, die Netanjahus Rede zum Aufschub der “Reform” als eine Anreihung grober Lügen und böswilliger Verzerrungen, die auch hetzerische Verleumdungen der Protestierenden aufweisen, durchschauen, haben angekündigt, die Demonstrationsaktivität fortführen zu wollen.

Man kann davon ausgehen, dass beide Lager sich zum nächsten Showdown rüsten; und der dürfte zu Gewalttaten führen. Netanjahu hat bereits Gegendemonstrationen des von ihm angeführten Lagers initiiert, und diese haben schon gezeigt, wes Geistes Kind sie sind: Erschienen sind vor allem massenweise brutale Siedler aus den besetzten Gebieten (unter ihnen die verrufenen, terroristisch aktiven “Jugendlichen der Hügel”) und rabiat agierende faschistische Schlägertrupps, die Demonstranten aus dem gegnerischen Lager tätlich angegriffen und schikaniert haben. Wenn man noch bedenkt, dass Netanjahu Itamar Ben-Gvir, dem amtierenden Polizeiminister, zur Besänftigung seiner Ungehaltenheit über die vorläufige Vertagung der “Justizreform” die Einrichtung einer ihm unterstellten “Nationalgarde” versprochen hat, die nichts anderes als die Erschaffung einer privaten Miliz bedeutet, die der vorbestrafte Terrorist und Kahane-Anhänger Ben-Gvir wird befehligen dürfen, kann man sich schon jetzt vorstellen, auf was die angestrebte “Versöhnung” zwischen den verfeindeten Lagern hinauslaufen wird.

Gleichwohl sei nochmals darauf hingewiesen, dass bei aller Euphorie über das (zumindest zwischenzeitliche) Gelingen der Empörung gegen den Staatsstreich und der begrüßenswerten Verfolgung des Ziels, die Demokratie vor der sich anbahnenden Diktatur zu retten, der Elefant weiterhin im Zimmer steht, bewusst ignoriert und außen vor gehalten: Die Protestbewegung weigert sich, die Okkupation zu thematisieren und distanziert sich fortwährend von einer kleinen Gruppe Demonstrierender, welche die Unterdrückung der Palästinenser zum Gegenstand ihrer unablässigen Kritik macht. Das sei “jetzt nicht vordringlich” und würde die Demonstranten “nur spalten”, heißt es.

Dies “Taktische” zeigt die Grenzen der Protestwelle auf, die sich blind dafür macht, dass nahezu alles, was sich gegenwärtig politisch in Israel zuträgt, strukturell auf die Okkupation zurückzuführen sei. Man desavouiert sich mithin selbst: Was für eine Demokratie will man retten, wen man bereit ist, die Knechtung eines anderen Kollektivs hinzunehmen? Was nützt die emphatische Skandierung von “Demokratie”, wenn damit nur Demokratie für Juden gemeint ist?

Für die Netanjahu-Anhängerschaft (und das Umfeld des Premiers) sind “Linke” und “Araber” nur verräterische Feinde. Unfassbar aber, dass selbst das Gros der Gegner Netanjahus und der “Justizreform” noch immer nicht verinnerlicht hat, dass es ohne die bewusste Teilnahme der Araber an den Demonstrationen und ohne den dezidierten Verweis auf das vom israelischen Staat seit Jahrzehnten perpetuierte Verbrechen der Okkupation und der Entmenschlichung der Palästinenser keine Demokratie in Israel geben kann. Die Verdrängung dessen ist offenbar der einzig bestehende gemeinsame Nenner zwischen den jüdischen Bürgern des zutiefst gespaltenen und innerlich zerrissenen zionistischen Staates.

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3 Kommentare

  1. Wenn die Justizreform in Israel, die einzig und allein den Zweck hat, Netanjahu vor einer Verurteilung zu bewahren, zwar aufgeschoben aber nicht aufgehoben ist, worauf warten dann noch die Staatsanwälte mit der Klage.

    Sofort Anklage gegen Netanjahu erheben, noch bevor die Justizreform in Kraft tritt.

  2. Ich bin der Meinung, das diese ‚demokratische Vorstellung‘ eine Inszenierung ist.
    Wenn der Verteidigungsminister sagt das das Militär gespalten ist für ihre israelische Sicherheit, dann bedeutet das auch das die annektierten Gebiete gefahr laufen an ihre eigentlichen ‚Besitzer‘ zurück zu gelangen.
    Hierbei ist auch letzte Angriff seitens IDF in Syrien zu beachten, der einen Iraner der Revolutionsgarden das Leben nahm. Diese Aggressionen destabilisieren zusätzlich die israelische Sicherheit zu der vorhandene irrsinnigen Politik vom ‚Klan Netanyahu‘.

  3. Würde es Israel nicht vollkommen zerreißen, wenn die Protestbewegung die Besetzung thematisieren würde? Die plastische Schilderung der Siedler durch den Autoren legt das nah. Ich hatte bei Hebron Gelegenheit mit Siedlern zu sprechen und wiederhole es hier: So übel stelle ich es mir bei der Ortsgruppe der NPD vor. Schätze, die werden echt unerfreulich, wenn man ihr Lebens- und Politikverständnis in Frage stellt.

    Ich habe mich viele Jahre, was die Verhältnisse ein Nahen Osten betrifft, mit Äußerungen zurückgehalten. Vielleicht sollten es nicht grad wir Deutschen sein, die sich berufen fühlen, die dortigen Verhältnisse zu regeln. Aber, nachdem ich im Westjordanland war – Gaza zu sehen war uns nicht möglich – fällt es mir schwer, diese Zurückhaltung zu begründen. Hebron ist ein verdammt guter Platz, um die Brutalität der Besetzung zu verstehen. Ein Gefängnis im Gefängnis.
    Nachdem ich da war, glaube ich auch nicht mehr, dass es eine Zweistaatenlösung geben wird. Das Autonomiegebiet ist ist ein Witz. Voll mit jüdischen Siedlungen, die Araber nicht ohne Erlaubnis betreten können , Straßen, die sie nicht befahren dürfen , Militärposten und – streifen , ständigen Kontrollen u.s.w. Ehe es die Zweistaatenlösung gibt, wird es eine erneute Vertreibung der arabischen Bevölkerung geben. Und auch dagegen wird sich keine Mehrheit in der jüdischen Bevölkerung Israels finden, die sich auflehnt.

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