Jüdische Religion in Israel

Bild: Benjamín Núñez González/CC BY-SA-4.0

Was bedeutet die Klerikalisierung der israelischen Politik? Welche Folgen hat sie für den Zusammenhalt des zionistischen Staates?

 

In seinen Anfängen schuf der Zionismus die Vision eines Judenstaates unter denkbar ungünstigen historischen Vorbedingungen. Es stand ihm noch kein Territorium zur Verfügung, auf welchem der Staat errichtet werden sollte (Palästina gehörte anfangs zum osmanischen Reich und unterstand dann dem englischen Mandat). Es bestand auch noch kein Bürgerkollektiv, das den Staat hätte bevölkern können (Juden waren überall auf der Welt verstreut, lebten nach zionistischem Verständnis in der “Diapora”).

Selbst den gemeinsamen kulturellen Nenner einer Nationalsprache gab es noch nicht (Hebräisch existierte als Sprache der Heiligen Schrift, war aber noch nicht entwickelt genug, um als Alltagssprache zu dienen. Das zur Disposition gestellte Jiddisch war die Sprache des osteuropäischen Judentums, bei weitem nicht die Sprache aller Juden). Wenn man nach einem positiven gemeinsamen Nenner der Identität für die in aller Herren Länder lebenden und entsprechend ethnisch unterschiedlich eingebundenen Juden suchte, so gab es da letztlich nur die Religion.

Die stellte zwar ein Problem dar für den sich in seinen Hauptströmungen säkular wähnenden Zionismus, aber es war kein Zufall, dass es Erez Israel (Palästina) war, das als Land für die Errichtung des Staates und Hebräisch als Nationalsprache erkoren wurden; sie waren Land und Sprache der Urväter, mithin das von Gott den Juden verheißene Land. So wurde denn die dem Zionismus als Kitt diaporischen Lebens geltende Religion gleichsam durch die Hintertür in seine eigene Ideologie eingeschleust. Das hatte funktionale Gründe und wurde hingenommen, solange der sogenannte Status quo gewahrt wurde.

Damit waren aber die Probleme des Amalgams von Staat und Religion (die der Zionismus nie zu trennen trachtete) mitnichten behoben. Um dies zu begreifen, muss man sich die verschiedenen Kategorien der jüdischen Religion in Israel vor Augen halten.

Zunächst die Strömung der orthodoxen bzw. ultraorthodoxen Juden, denen eine nicht- bzw. antizionistische Einstellung zum Zionismus eignet. Der Grund dafür liegt in der theologischen Doktrin, derzufolge es Gottes Wille ist, dass Juden in der Diaspora ausharren, bis der Messias gekommen ist. Die schiere Gründung des zionistischen Staates ist ihnen also ein Frevel gegen Gottes Willen. Zwischen Messianismus und Zionismus bestand daher von Anbeginn eine für die jüdische Orthodoxie unüberwindbare Kluft.

Die Lösung dafür fand sich in der sogenannten nationalreligiösen Ideologie, die zum einen durchaus an der messianischen Doktrin festhielt, zum anderen aber postulierte, dass sich die Ankunft des Messias bereits anbahne, und zwar historisch, gerade durch die Heraufkunft des politischen Zionismus; dieser indiziere, dass die Zeit der Erlösung bereits angebrochen sei. Diese Entwicklung erwies sich als gravierend für die Entfaltung der politische Kultur Israels. Denn nicht nur ist durch die Modulierung der messianischen Doktrin die Religion als nicht mehr wegzudenkender Faktor in die Politik Israels eingebracht worden, sondern sie sollte sich schnell genug von einer abstrakten Ideologie zur fanatisch betriebenen Praxis umwandeln.

Nach der Eroberung des Westjordanlandes im 1967er Krieg gerann die jüdische Besiedlung dieses Gebiets zum gleichsam göttlichen Gebot, das vor allem von den nationalreligiösen Zionisten als Erfüllung der messianischen Bestrebung angesehen und erlebt wurde. Man darf heute ohne Zögern behaupten, dass es sie (freilich mit Unterstützung aller israelischen Regierungen seit 1967) waren, die zur zionistischen Sackgasse der Verunmöglichung der Zwei-Staaten-Lösung geführt haben.

Erwähnt seien zudem noch zwei religiöse Strömungen, die im zionistischen Israel eine Rolle spielen. Zum einen das Reformjudentum, welches das Gros der religiösen Juden in den angelsächsischen Ländern, vor allem in den USA, bildet, aber im Judenstaat so gut wie nichts zu bestellen hat. Darüber gleich mehr. Zum anderen eine spezifische Entwicklung, die sich im orthodoxen Lager in den letzten 20-30 Jahren vollzogen hat: Jugendliche Gruppen in ihm verschrieben sich zunehmend den politischen Bestrebungen des Zionismus und verbreiteten sich massiv, sodass man heute von Nationalorthodoxen (auf Hebräisch Chardalim genannt) spricht, eine Kategorie, die vor einer Generation noch als Contradictio in adiecto gewertet worden wäre.

Die Reformjuden wurden durch die prädominante Orthodoxie aus dem Religionsestablishment Israels ausgegrenzt, weil sie ihr als größte Bedrohung des halachischen Judentums gelten; Orthodoxe sprechen zuweilen von Reformjuden als “Gojim”, mithin als religionsverräterische Elemente, die aus dem jüdischen Volk ausgeschieden seien. Das politischen Establishment Israels, von den orthodoxen Parteien bei Koalitionsbildungen abhängig, willfahrt den doktrinären Postulaten der Orthodoxen und kooperiert mit der Ausgrenzung der Reformierten.

Aber nicht nur die Reformjuden sind der Orthodoxie verhasst (diese freilich am heftigsten), sondern auch die Nationalreligiösen, weil diese die theologische messianische Doktrin des halachischen Judentums durch die Fusionierung der messianischen Erwartung mit zionistischer Ideologie übertreten und verraten hätten. Es gab Zeiten, da galt dieser Verschmelzungsakt den Orthodoxen als schlicht unverzeihlich.

Man mag sich daher fragen, wie das Verhältnis der Orthodoxen (vor allem der Ultraorthodoxen) zum zionistischen Staat überhaupt zu verstehen sei, gemessen daran, dass sie immerhin Parteien, mithin eine Vertretung in der Knesset gebildet haben. So absurd sich das ausnehmen mag, verstehen sie sich in ihrer Beziehung zum Staat analog zu den Juden, die in der Diaspora gelebt haben: Wie jene sich in ihrer jeweiligen Residenzgesellschaft mit der Herrschaft arrangieren mussten, arrangieren sie sich auch mit dem Staat Israel, dessen Staatsideologie sie nicht anerkennen. Es zahlt sich für sie auch aus – der Staat Israel hält sie mehr oder minder durch riesige Subventionen aus.

Das ist nicht zuletzt der Grund, warum die Orthodoxen den säkularen Juden Israels verhasst sind. Man verzeiht ihnen nicht, dass sie keinen Militärdienst leisten, auch nicht zu arbeiten brauchen: Ihre politischen Vertreter haben beim zionistischen Knessetestablishment ausgehandelt, dass sie in den vom Staat subventionierten Jeschiwot (Talmudschulen) Torah lernen. So sind sie aus dem israelischen Arbeitsmarkt weitgehend ausgeschlossen, da sie durch die selbstgewählte Begrenzung ihrer Lernbereiche aufs Religiöse für Arbeit in einer modernen Ökonomie gar nicht ausgebildet sind.

Und so ergibt sich das Paradoxon, dass gerade die Religion, die in den Anfängen des Zionismus aus zweckrationalen Gründen als positiver gemeinsamer Nenner für die Juden des künftig zu gründenden Staates herangezogen wurde, sich im nachhinein als Faktor der Divergenz, der Animosität, ja des Hasses innerhalb des zionistischen Judenstaats erweist: Orthodoxe hassen die Reformjuden und sind den Nationalreligiösen gegenüber feindselig eingestellt; säkulare Bürger haben ihre Probleme mit dem Anti- bzw. Nichtzionismus der Orthodoxen; die Linken unter ihnen sehen die Nationalreligiösen als ihre politischen Feinde an. Die Reformjuden kämpfen vergeblich um Anerkennung seitens des religiösen Establishments.

Durch die letztens gebildete Koalition Netanjahus verbreitete sich unter den säkularen Juden zudem die Schreckensvision einer nicht mehr zu ignorierenden Tendenz zur massiven Klerikalisierung der israelischen Politik, die früher oder später in eine Theokratie münden könnte. Was der Zionismus einst zur Konsolidierung seiner ideologische Bestrebung in sich aufnahm und integrierte, dürfte dann seine Aufhebung, mithin sein historisches Ende bewirkt haben.

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5 Kommentare

  1. Es ist nicht das erste Mal, dass Zuckermann diese Problematik zur Darstellung bringt, allerdings vielleicht noch nie so konzis auf den Punkt wie heute. Ich frage mich nun, inwieweit Zionisten jeder Couleur sich ihrer bewusst sind und sich Strategien dagegen überlegen. Es handelt sich immerhin um eine potentiell tödliche Gefahr. Oder ist Zuckermann sozusagen ein hellsichtiger Aussenseiter?

  2. Ich halte Netanjahu viel eher für einen korrupten Lebemann denn für einen asketischen Theokraten à la Khomeni.
    Eine Theokratie in Israel nach dem Muster des Iran kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Dann würde das mit dem Erzfeind Iran ja plötzlich irgendwie auch nicht mehr stimmen. Andererseits ist Netanjahu auch ein intelligenter, schlitzohriger Machtpolitiker, der die religiösen Außenseiter nur benutzt, um an der Macht zu bleiben.
    Das werden die sehr schnell herausfinden. Ich traue auch der neuen Koalition keine lange Laufzeit zu. Ein Wunder, dass Israel bei den schnellen Regierungswechseln überhaupt noch was gebacken bekommt.

    Schade, dass die klugen Artikel von Herrn Zuckermann so wenig Echo bekommen. Aber Israel ist eben fern und nicht auf der Tagesordnung – an den Konflikt mit den Palästinensern scheinen sich alle gewöhnt zu haben. Die meisten Deutschen sind zur Zeit vor allem an der Katastrophenpolitik der „Ampel“ interessiert, und am Ukrainekrieg, der auch bei uns über Krieg und Frieden entscheiden könnte.

    Vielleicht wäre in diesem Zusammenhang mal ein Artikel über die aktuellen Beziehungen Israels zu Russland und zur Ukraine von Interesse. Vielleicht könnte Israel als Mittler auftreten? Dann hieße es irgendwann vielleicht nicht Minsk-2, sondern Jerusalem 1.0

  3. Die meisten orthodoxen Juden heutzutage sind mitnichten „anti-zionistisch“ eingestellt und verweigern absolut nicht den Militärdienst – siehe die Siedler der Westbank, die ja zu einem großen Teil dem orthodoxen Judentum angehören und ihre jungen Männer selbstverständlich zur Armee schicken. Sie dienen eben häufig in separaten religiösen Einheiten. Der Autor des Artikels wirft hier leider recht unscharf mit Begriffen um sich. Und das „Reform-Judentum“ hält sich nachweislich nicht streng an die Halacha, das jüdische Recht – somit ist es doch nicht verwunderlich, dass fromme, i. e., orthodoxe, Juden mit den „Reformern“ nicht viel anfangen können.

  4. Danke für weitere, tiefere sowie verständlich und erfrischend wertneutral formulierte Einblicke in die für Außenstehende komplex erscheinende israelische Gesellschaft/Politik.

  5. Ich nehme Bezug auf den letzten Satz des Hauptartikels. War denn die Erfahrung der Shoa nicht eine viel stärkere Motivation dafür, die Herkulesarbeit des Eroberungszionismus überhaupt zu wagen, als die Religion ? Das ist für Deutsche wie mich, deren Großelterngeneration die Shoa zu verantworten hat, eine sehr wichtige Frage. Viele Deutsche – mich eingeschlossen – sind der Überzeugung: ohne Shoa, keine Nakba. Wenn diese Kausalkette wahr ist, dann tragen wir Deutschen auch die mittelbare Verantwortung für die Vertreibung und das Flüchtlingselend der Palästinenser, woraus für Deutschland die moralische Pflicht folgern müßte, nunmehr den Palästinensern beizustehen und zu helfen ( natürlich ohne den Israelis zu schaden ). Ich bin der Meinung, dass Deutschland den palästinensischen Flüchtlingen die Möglichkeit zur Immigration zumindest anbieten müßte.

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