Israelischer Shoah-Gedenktag

Benjamin Netanjahu bei seiner Rede in Yad Vashem. Screenshot von GPO-YouTube-Video

Der Shoah-Gedenktag ist in Israel stets auch ein Politikum. Das konnte dieses Jahr wieder beobachtet werden.

Am 6. Mai beging Israel den staatlichen Shoah-Gedenktag. Die Medien sind voll von Filmen, Reportagen, Dokumentationen, Gesprächen mit Überlebenden, historischen Erörterungen, besinnlicher Musik u.v.m. Um 10.00 Uhr erklingt die Sirene im ganzen Land; alle erheben sich und bleiben zwei Minuten lang stehen, der Verkehr hält an, das Land erlahmt in ehrfurchtsvoller Haltung, bis die Sirene abklingt und die Alltagsgeschäftigkeit ihren Lauf wieder aufnimmt.

Natürlich stimmt das nicht ganz. Orthodoxe Juden haben in ihren Wohngebieten nicht viel im Sinn mit dem Strammstehen beim Sirenenklang; das sei kein jüdischer Brauch, sagen sie – Juden beteten beim Gedenkakt. Auch arabische Bürger des Landes kümmern sich kaum um dieses zivile Zeremoniell; warum denn auch – die wenigsten Juden in Israel scheren sich um ihre Erinnerungsveranstaltungen, zuweilen werden sie gar verboten, etwa beim Nakba-Gedenken.

Aber was genau wird an diesem Tag erinnert? Wie wird des historischen Leids gedacht? Statt sich in Vermutungen zu ergehen, seien hier zwei Schlagzeilen aus der israelischen Presse an diesem Tag des Shoah-Gedenkens im Jahr 2024 angeführt.

“Israel hat heute mit der Evakuierung eines Teils der Zivilbevölkerung in den Randgebieten von Rafah als Vorbereitung für eine Bodenoperation in diesem Territorium begonnen”, wird in der Tageszeitung Ha’aretz angekündigt. Nach über 34.000 palästinensischen Toten, unter ihnen viele Tausende Frauen und Kinder, sowie zigtausenden Verletzten und Vermissten, nach der Evakuierung von über einer Million Menschen aus ihren Wohngebieten, der Verwüstung eines großen Teils des Gazastreifens mit zahllosen Toten unter den Trümmern, nach der Schaffung einer horrenden humanitären Situation, bei der schon viele ihren Tod durch Hunger und Krankheit gefunden haben – hat man in Israel offenbar noch nicht genug: Der “totale Sieg” muss errungen werden (von dem Sachverständige sagen, dass er gar zu erreichen sei), die Hamas muss endgültig zerschlagen werden (was ebenso wenig erreicht werden kann), und so wird am staatlichen Gedenktag der jüdischen Leiderfahrung die Militäroperation in Rafah anberaumt, die weitere unzählige zivile “Kollateralschaden”-Opfer zeitigen, die humanitäre Katastrophe noch steigern und das unermessliche Leid der bereits zermarterten palästinensischen Bevölkerung ausweiten dürfte.

Die Amerikaner sind dagegen, die Ägypter ebenfalls, auch Saudi-Arabien – aber Netanjahu muss diese Militäroperation haben, weil ihn seine Koalitionsfaschisten Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich in Zugzwang gesetzt haben; andernfalls würden sie die Koalition auflösen, und er, Netanjahu, verlöre somit die Herrschaft: eine für ihn nachgerade endzeitliche Vorstellung, die alles andere in den Schatten stellt – Shoah-Gedenktag hin, Shoah-Gedenktag her. Nichts geht ihm über sein persönliches Schicksal und den politischen Machterhalt.

In einer weiteren Ha’aretz-Nachricht an diesem Tag heißt es, eine israelische Quelle habe der New York Times mitgeteilt, “dass Israel und die Hamas sich der Unterzeichnung eines Deals zur Befreiung der Geiseln sehr genähert haben, aber Netanjahus Verlautbarungen am Samstag über eine Invasion in Rafah hätten die Hamas veranlasst, ihre Positionen zu verhärten”. Man muss sich über den sadistisch-zynischen Umgang der Hamas mit den gefangenen jüdischen Geiseln keine Illusion machen. Aber über den Netanjahus ebenso wenig. Und das ist das eigentliche Erschütternde: Dass sich israelische Politiker (und Militärs) einen Dreck um das enorme Leiden der Palästinenser im Gazastreifen scheren verwundert nicht; dass sie sich aber so ruchlos (bzw. lippenbekenntnishaft “besorgt”) auch im Hinblick des Schicksals der eigenen Landleute zeigen, ist unfassbar.

Man ist sich unter den meisten israelischen Sachverständigen und Kommentatoren darüber einig, dass die Befreiung der Geiseln für Netanjahu keine Priorität hat; wichtiger ist ihm die Fortsetzung des Krieges “um jeden Preis”, damit seine Herrschaft nicht ins Wanken gerate. Ein Großteil der Angehörigen der Entführten beschuldigt Netanjahu und sein Umfeld bereits offen, einen möglichen Deal mit der Hamas schon vor einigen Monaten und jetzt eben wieder vereitelt zu haben. Vielen Menschen im Land gilt dies als ultimativer Verrat an den Überresten des merklich erschütterten zionistischen Ethos: Gab es – besonders nach der Shoah – ein bedeutenderes Postulat der israelischen Staatsideologie, als die Sicherheit der BürgerInnen des Landes? War dies, historisch betrachtet, nicht letztlich die ultimative Raison d’etre des zionistischen Staates? Nicht nur hat der Staat in dieser Hinsicht beim Fiasko des 7. Oktober kläglich versagt, sondern nun stellt sich heraus, dass er auch bei der Handhabung der Folgen der Katastrophe scheitert.

Nicht von ungefähr entete Netanjahus Rede in Yad Vashem am Vorabend des Gedenktages heftige Kritik. So meinte TV-Kritikerin Yasmin Levy: Wie in einem erbärmlich konzipierten Skript habe der Staatschef deklariert, “‘Never again!’ sei jetzt, während sich doch unter seiner Ägide und in seiner Verantwortung die größte Katastrophe in der Geschichte des jüdischen Volkes seit Gründung des Staates ereignet hat.” Wie immer habe er eine politische Rede gehalten “bar jeder Selbstreflexion und ohne Respekt vor der Veranstaltung. Aus Netanjahus Sicht waren nicht die sechs Millionen, nicht die 1400 Ermordeten und sicher nicht die 132 Geiseln die Hauptopfer. Er und er allein ist das größte und wichtigste Opfer von allen, das den Internationalen Gerichtshof in Haag aus Angst vor einem gegen ihn ausgestellten Haftbefehl attackierte. Es fehlt nur, dass er die gegen seinen Konvoi gerichteten Schreie als Attentatsversuch darstellt. Man gebe ihm noch zwei Jahre, und er wird sich in einen Shoah-Überlebenden verwandeln.”

Der Kommentator Moran Sharir listete eine lange Reihe von Gewaltverbrechen und ideologischen Rassismen gegenüber Palästinensern in Netanjahus Amtszeit auf und resümierte: “Dieser Mann sollte nicht am Vorabend des Shoah-Gedenktages eine Rede halten. Er hätte nicht eingeladen werden dürfen, und man sollte nicht aufstehen, wenn er hereinkommt und wieder hinausgeht. Er sollte zuhause sitzen und sich schämen. Nur aus der Asche seiner Amtszeit wird dieses Volk wieder auferstehen können.”

Rigoros brachte es der scharfsinnige Publizist B. Michael auf den Punkt, als er über Netanjahus Person hinausgehend mit Bezug auf die Shoah feststellte: “Was haben wir gelernt? Nichts haben wir gelernt. Absolut nichts. Keinen einzigen menschlichen Wert, keinen einzigen moralischen Wert, keine einzige verfassungsmäßige Erkenntnis. Nichts.” Er zog Israel in den Vergleich mit anderen Staaten: “Unter allen Staaten, die sich für eine aufgeklärte Demokratie halten, ist Israel der einzige Staat, der aus dem Nazismus und seinen Folgen keine Lehre gezogen hat – außer die der Bedeutung der Selbstviktimisierung, des Arm-dran-Seins, der Überheblichkeit, der Larmoyanz und der Selbstgerechtigkeit. Andere Staaten haben vor der Shoah und erst recht nach ihr gelernt, was ein Staat zu tun hat: Menschenrechte sichern, Rassismus verbieten, Gleichheit aufoktroyieren, Gesetze zur Verteidigung der Demokratie schaffen, eine Eisenwand zwischen Staat und Religion errichten.”

So gelangte er denn zur bitteren Erkenntnis, die den Anspruch aufs Gedenken nachgerade grotesk erscheinen lässt, indem er im Hinblick auf den israelischen Staat postulierte: “Bar jeder Lehre, die er von seiner Katastrophe hätte ziehen können, entstand der Staat der Vertriebenen, um sofort eine Kampagne der Vertreibung von hunderttausenden Menschen von ihrem Besitz und Boden zu starten; der genau an seinem Geburtstag sich vom Staat der Enteigneten und Beraubten in einen enteignenden und raubenden Staat verwandelte. Die Verfolgten wurden zu Verfolgern; die Diskriminierten zu Diskriminierenden, die Opfer von Pogromen zu deren Verursachern. Der, der unterdrückt worden war, weil er nicht der ‘Oberrasse’ angehörte, wurde zum Unterdrücker dessen, der nicht dem ‘auserwählten Volk’ angehörte. Und der, der wegen seiner Religion verfolgt worden war, verwandelte sich in einen Verfolger ‘im Namen der Religion’.”

Israels Ideologie liebt es, die jüdische Opfergeschichte in den Vergleich mit der Leiderfahrung der Palästinenser zu ziehen. Aber der agonale “Wettkampf” um den Opferstatus, der sich im Vergleich zum Status anderer Opfer manifestiert, kontaminiert zwangsläufig das Andenken der historischen wie der gegenwärtigen Opfer, indem er sich nicht auf die Opfer im Stande ihres Opferseins (sowie der Täter im Stande ihres Täterseins) richtet, sondern auf eine widersinnige Quantifizierung des Leids als Rechtfertigung ideologischer Gesinnung bzw. – schlimmer – als Rechtfertigung einer immer neue Opfer zeitigenden Politik. Nichts verrät die Opfer als solche mehr als die Vereinnahmung ihres Andenkens zur Rechtfertigung einer oppressiven, stets neue Opfer schaffenden Wirklichkeit.

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7 Kommentare

  1. Dass die Befreiung der Geiseln keine Priorität hat ist eigentlich schon seit beginn der massiven Bombardierungen und Ankündigung einer Bodenoffensive klar. Wenn ich Geisel wäre, würde mich so etwas zumindest nicht hoffnungsvoll stimmen, da lebend wieder raus zu kommen. Anders gesagt: Wenn eine Bank überfallen wird und Geiseln genommen wurden, löst man das Problem nicht damit, das ganze Gebäude in die Luft zu sprengen, und dem Erdboden gleich zu machen. Das ist aber in etwa das, was Israel in Gaza veranstaltet.

    Übrigens könnten die Orthodoxen langfristig ein echtes Problem für das Selbstverständnis des jetzigen Israel werden, eben weil sie mit Staat als solchem nicht viel am Hut haben. Sie sind aber eine nicht gerade unbedeutende Gruppe innerhalb diesem, die zudem eine sehr hohe Geburtenrate aufweist, also stetig wächst. Soweit ich weiß, hat man sie bei Gründung von Israel dabei haben wollen, um genug Leute für einen Staat zusammen zu bekommen. Nun hatten die, solange der Messias nicht erschienen ist, von ihrer Glaubensauslegung her kein gesteigertes Interesse daran. Also hat man sie damit überredet, dass sie z.B. keinen Wehrdienst leisten müssen.

    Nun scheint mir beim Selbstverständnis von Israel der ewige Kampf um die Existenz des Staates gegenüber äußere Bedrohungen eines der zentralsten Elemente. Das passt nicht gut zusammen. Aber auch andere zivilgesellschaftliche Gruppierungen, die z.B. die Siedlungspolitik ablehnen, und friedliche, am besten freundschaftliche Beziehungen mit ihren Nachbarn wünschen stören dieses Selbstbild.

    Die doch sehr unterschiedlichen Auffassungen sind wohl auch ein Grund dafür, dass Israel es bislang nicht zustande gebracht hat eine vernünftige Verfassung auf die Beine zu stellen. Das Land ist kompliziert..

  2. Dann soll also die Terrorherrschaft der Hamas weitergehen. Ihre Taktik, möglichst viele eigene Opfer durch menschliche Schutzschilde zu erzeugen, soll Erfolg haben. Die Raketen- und Terrorangriffe auf Israel sollen weiter gehen. Das nämlich ist es, was uns der Moshe hier vorschlägt. Ist die Summe der Toten dann geringer? Eine Abwägung, eine rationale Analyse ist auf dieser Seite der Front nicht zu erwarten.

    Mal zum Kriegsverlauf: die IDF stand wochenlang etwa sieben Kilometer vor Rafah, griff aber nicht an (was ja die These vom Völkermord ins Wanken bringen sollte). Indes wissen wir, dass dieser Krieg einen zweiten Schauplatz hat, nämlich unter der Erde in den Tunnels, worüber sich aber beide Seiten ausschweigen. Israel meldet die Liquidierung der Nummer drei und vier der Hamas-Hierarchie und die Nummer zwei der Quassam-Brigaden, hat dort demnach also Erfolge. Dort, unter der Erde treffen sie keine Zivilisten, das sind die Terroristen, auf die sie abzielen. Was natürlich nicht heißt, dass der Verstorbene oberirdisch nicht als Zivilist gezählt wird und bei den 34.500 dabei ist. Eine reine Hamas-Zahl, die aber mit einer Inbrunst geglaubt wird, die wir seit den Kreuzzügen nicht mehr hatten.
    Jetzt ist die IDF in Rafah und greift noch immer nicht an. Vermutung: sie gehen nach unten und kommen in den Tunnels von der anderen Seite. Wenn die Hamas keine Tunnels mehr hat, ist sie erledigt. Könnte passieren.
    Warum haben eigentlich die Ägypter 21 Quadratkilometer westlich von Rafah mit einer sechs Meter hohen Mauer umgeben? Erst hieß es, da sollen Flüchtlinge Platz finden, was aber nicht der Fall war. Es sieht so aus, als ob die Mauer völlig sinnlos wäre. Ist sie aber nicht.
    Ein Terrorist, der sich durch einen Tunnel Richtung Ägypten bewegt, wird innerhalb dieses Territoriums an die Oberfläche kommen. Wo man ihn festnimmt. Auch werden über diesen Weg Waffenlieferungen in den Gaza unterbunden. Ägypten hilft also Israel gewaltig, ohne dass die Muslimbrüder das kapieren. Die würden sonst Rabatz machen.

    Clever gemacht.

    1. Mit anderen Worten – Ihnen ist die verhungernde Zivilbevölkerung egal, die israelischen Geiseln erst recht. Weil die aktuelle Personifikation des ‘Bösen’, die Hamas, vernichtet werden müsse. Auch wenn das gelänge – wird es nicht, weil die Hamas nicht nur im Gaza-Streifen existiert -, also auch wenn man kontrafaktisch annimmt, man könnte dieses Ziel erreichen – was hätte man dann erreicht? Das ‘Böse’ käme wieder, in neuer Form, wie nach der Kaida der IS kam. Denn das zugrundeliegende Problem, die Unterdrückung der Autochthonen, wird dadurch nicht gelöst, im Gegenteil wird der Knoten immer unauflösbarer.

      Ihre Haltung, und diejenige Netanyahus und all seiner Wähler, Anhänger, ist nicht nur tief menschenverachtend, sondern ignorant. Sie ignoriert die eigentliche Ursache, wie das alle tun, deren Zeitrechnung mit dem 7. Oktober einsetzt. Sie ist ein Rezept für die Wiederkehr des ewig Gleichen, für Mord und Totschlag bis ans Ende der Tage.

  3. ___“Unter allen Staaten, die sich für eine aufgeklärte Demokratie halten, ist Israel der einzige Staat, der aus dem Nazismus und seinen Folgen keine Lehre gezogen hat – außer die der Bedeutung der Selbstviktimisierung, des Arm-dran-Seins, der Überheblichkeit, der Larmoyanz und der Selbstgerechtigkeit.”___
    Gut, dass das mal formuliert wid, ebenso wie all die nachfolgenden Ausführungen.
    Tatsächlich kann man ja schon in dem älteren Film “Defamation” sehen, wie die israelische Jugend in eine chronifizierte Opferrolle gehirngewaschen wird und dass Israels Existenzberechtigung im behaupteten ubiquitären Antisemitismus liegt, weswegen der nie aufhören darf und wenn er nicht oder kaum noch existiert, dann muss er eben neu belebt werden. Der Großteil der “antisemitischen Straftaten” hierzulande dürfte in dem Rufen von Parolen wie”from the River to the Sea” , dem Zeigen palästinensischer Flaggen und Halstücher und überhaupt im Protest gegen die Gazahölle jetzt vor allem an den Unis liegen.

  4. Israel hat immerhin chuzpe sich beim gedenken an die Shoa zu begeben, während zeitgleich Menschen sterben durch ihre Hände.
    Der 8 monatige Krieg ist wie eine Inszenierung der Demokratie, während Königshäuser,Despoten und andere verdächtige Regierungen sich ‘anständig’ Verhalten im Bezug auf das Morden an ihren Brüder und Schwestern.
    Die USA tritt zurück, soweit die mediale Propaganda stimmt, das bedeutet das Israels grosser Spender an Kriegswaffenmüll sich zurück zieht und wie wird die finanzielle Unterstützung dann aussehen für Israel? Vielleicht Saudi Arabien als ‘brüderlicher’ Geber und als Machtausgleich zum Iran. In einem hat Israel etwas über all ihre Jahre der Existenz erreicht, sie spielen mit allen und führen eine ausgeklügelte Strategie. Der IT Sektor spricht da Bände.

  5. Ich hoffe dass die Palästinenser auch irgendwann Gelegenheit finden ihrer Shoa durch das System Netanjahu zu gedenken.

    1. Auch wenn mich der Faschist Netanjahu und die rücksichtslose Kriegsführung der IDF im Gazastreifen anwidern, es gibt keine palästinensische Shoa!!

      Wie kann man nur so einen Schwachsinn behaupten!!??

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