Indische Regierung soll Mord in Kanada veranlasst haben

In Indien leben knapp 1000 verschiedene Ethnien und Religionsgemeinschaften zusammen, doch die Sikhs schaffen es besonders gut, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen – gerade im Ausland. Bild: Gilbert Kolonko

Nach allem, was wir bisher wissen, gibt es einen Hauptgrund, warum das Anliegen einer kleinen Religionsgemeinschaft plötzlich zwei Staaten in Konflikt miteinander bringt: Lobbyismus.

 

Kanadas Premierminister Justin Trudeau hat Anfang der Woche die indische Regierung beschuldigt, an einen Mord eines kanadischen Staatsbürgers beteiligt gewesen zu sein – auf kanadischem Staatsgebiet. Es gebe glaubwürdige Hinweise auf eine mögliche Verbindung zwischen indischen Regierungsvertretern und dem Mord an dem kanadischen Staatsbürger Hardeep Singh Nijjar, sagte Premierminister Trudeau am Montag vor dem Parlament in Ottawa. Im Juni diesen Jahres war Nijjar erschossen aufgefunden worden, auf einem Parkplatz in Surrey in der kanadischen Provinz British Columbia. Nijjar hatte sich für einen unabhängigen Sikh-Staat in Indien eingesetzt.

Bis jetzt legte die kanadische Regierung der Öffentlichkeit keine Beweise für ihre Behauptung vor.

Anstatt jetzt zu spekulieren, warum Kanadas Premierminister die indische Regierung grundlos beschuldigen sollte, oder warum die Modi-Regierung ein so großes Risiko eingegangen sein soll, um einen Dissidenten im Ausland ermorden zu lassen, hier die Grundlagen zu dem Fall – der durchaus das Zeug hat zu einem großen internationalen Skandal.

Was ist die Religionsgemeinschaft der Sikhs und welche Forderungen haben ihre Anhänger?

Die Sikhs ragen zwar wegen ihres markanten Turbans aus der Masse heraus, doch gehören sie auch in Indien eher zu den kleinen Religionsgemeinschaften. Über die Hälfte der weltweit etwa 25 Millionen Sikhs leben im westlichen Bundesstaat Indiens, dem Punjab. Dort hatte auch ihre Religion im 15. Jahrhundert ihren Ursprung.

Im Gegenteil zu vielen anderen Religionen lehnt der Sikhismus den materiellen Besitz nicht ab, dafür die Askese. Die Folge davon: Trotz ihrer geringen Anzahl schafften es die Mitglieder durch die Anhäufung irdischen Besitzes – durch bessere Bildung und „guten“ Geschäftssinn – ihren Anliegen überproportional zu ihrer geringen Anzahl Gehör zu verschaffen. Die wichtigste Forderung der Sikhs ist jene nach einem eigenen Staat. Doch ist diese Forderung in ihrer Gesamtheit spätestens mit der Teilung Indiens (1947) vollkommen illusorisch geworden – ein Teil des geforderten Staatsgebietes liegt mittlerweile im pakistanischen Teil des Punjabs.

Trotzdem lobbyieren viele ihrer Mitglieder weiter für einen eigenen Staat – nun einzig auf indischem Staatsgebiet. Das tun die Sikhs auch in Kanada, wo aktuell 460.000 Sikhs leben und es in der Regel zu überdurchschnittlichem materiellen Wohlstand gebracht haben, der es ihnen ermöglicht, Einfluss auf Politiker und Medien zu nehmen.

Doch vom radikalen Teil der Sikhs ist es nicht bei politischer Einflussnahme geblieben. Ab 1980 kam es trotz Zugeständnissen der indischen Regierung zu gewalttätigen Aufständen radikaler Sikh-Gruppierungen. Diese gipfelten am 3. Juni 1984 in einer Katastrophe, die sich im Goldenen Tempel von Amritsar abspielte, einer der Heiligtümer der Sikhs. Dort hatten sich bewaffnete Radikale versteckt, die der Gruppe der Bhindranwale angehörten. Indira Gandhi, die sich schon zu dieser Zeit mehr als Diktatorin denn als eine Premierministerin verhielt, gab den Befehl, das Heiligtum zu stürmen: Mindestens 80 Soldaten und mehrere Hundert Sikhs kamen dabei ums Leben.

Am 31. Oktober 1984 wurde Premierministerin Indira Gandhi von zwei Sikh-Leibwächtern, Satwant Singh und Beant Singh, erschossen. In Delhi und im Punjab fanden daraufhin Pogrome statt, denen tausende Sikhs zum Opfer fielen.

Interessant: Bis 1984 kämpften die Sikhs in Großbritannien nicht vorwiegend für einen eigenen Staat, sondern eher für das Recht, ihren Turban auch bei der Arbeit tragen zu dürfen. Überdies sammelten sie Geld für die indische Regierung, als die sich im Krieg mit Pakistan befand.

Doch erst in den letzten Jahren wurde die Forderungen radikaler Sikh-Gruppierungen nach einem eigenen Staat mit der Bezeichnung Khalistan wieder lauter hörbar. Viele dieser Stimmen stammen von Sikhs aus Kanada. Die kanadische Regierung kam dadurch schon häufiger in Erklärungsnot: Als sich Kanadas Premierminister Trudeau Anfang des Jahres zu einem Staatsbesuch in Indien befand, musste er feststellen, dass die kanadische High Mission in Indien auch einen radikalen Sikh zum Empfang eingeladen hatte.

Die indische Modi-Regierung hatte sich schon mehrfach bei der kanadischen Regierung darüber beschwert, dass Kanada indischen „Staatsfeinden“ Unterschlupf gewähren würde. Desgleichen bei den Regierungen der USA und von Großbritannien, wo es ebenfalls kleine, aber einflussreiche Gemeinschaften der Sikhs gibt.

Bedrohen die radikalen Sikhs ernsthaft den indischen Staat oder die Macht von Narendra Modi?

Ganz klar nein. Von den Problemen, die der indische Staat hat, sind die Unabhängigkeitsforderungen der Sikhs eines der geringsten. Als Beispiel sei da das kleine Darjeeling in Nord-Indien genannt, wo die Gurkhas einen eigenen Bundesstaat fordern: Alleine dieser von der Weltöffentlichkeit unbeachtete Konflikt hat bisher 1200 Menschen das Leben gekostet.

Aktuell kommt es seit dem 3. Mai im nordöstlichen Bundesstaat Manipur zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen  zwischen den Ureinwohnern der Kuki and Meitei. Der Hintergrund ist religiös: 181 Menschen wurden bisher getötet, mehr als 50.000 Menschen vertrieben. Dazu das Dauerproblem um Kaschmir, das mehrheitlich von Muslimen bewohnt ist. 45.000 Menschen kostete dieser Konflikt bisher alleine in Kaschmir das Leben. Der Dauerkonflikt führte zu drei Kriegen mit dem westlichen Nachbar – der Atommacht Pakistan – und frisst dazu Unsummen des indischen Staatshaushalts, da ständig zwischen 500.000 und einer Million indischer Soldaten in und um Kaschmir stationiert sind.

Auch die Bauern- und Umweltproteste der letzten Jahre bedrohen Premierminister Modi und seine Regierung bei weitem mehr, als es die Sikhs tun. Das kommt in den westlichen Medien nur nicht an – fehlender Lobbyismus?

Warum hat das Anliegen der Sikhs nun sogar die weltpolitische Bühne betreten?

Der Hauptgrund ist, dass die Sikhs die finanziellen Möglichkeiten besitzen, seit Jahrzehnten in den USA, Großbritannien und Kanada Lobbyarbeit zu betreiben. Damit ist nicht gesagt, dass ihre Forderungen etwa berechtigter wären, als die der Menschen Darjeelings oder Kaschmirs. Die Forderungen der Sikhs finden im Westen jedoch mehr Gehör.

Viel mehr tritt hier ein großes Problem der westlichen Politik erneut zutage, die laut aller Indexe angeblich weniger für Korruption anfällig ist als der Rest der Erde: Lobbyismus. Im Westen bedeutet dies, dass jemand nicht viele Menschen im Rücken braucht, dessen Anliegen er vertritt, um großen Einfluss zu nehmen, es braucht nur mehr Geld. Was dies mit einer Gesellschaft macht? Hier zwei Beispiele: Obwohl es 1,25 Millionen Pflegekräfte in Deutschland gibt, die im letzten Jahr noch als systemrelevant gefeiert wurden, haben sie kaum ein Lobby im Land. 371.000 Porschefahrer haben dagegen ihren eigenen Lobbyisten in der Regierung sitzen, der für Porsche Öko-Treibstoff auch ohne Öko besorgt.

Will der Westen Modi stürzen?

Wenn der „Westen“ vorhaben sollte, Narendra Modi in Indien zu stürzen, weil der sich im Krieg zwischen Russland und der Ukraine nicht auf die Seite des Westens und gegen Putin stellt, gäbe es ganz andere Möglichkeiten, als sich ein Mordkomplott auszudenken, hinter dem angeblich die Modi-Regierung steckt.

Zum Beispiel das Gujarat-Massaker im Jahr 2002, bei dem mehr als 1000 Menschen ums Leben kamen, die meisten Muslime. Narendra Modi war zu dieser Zeit Ministerpräsident des Bundestaates Gujarat. Er soll weggeschaut haben, als die Unruhen begannen, und die Polizei des Bundesstaates aufgefordert haben, nicht einzugreifen. Für die USA und Großbritannien stand die Untätigkeit Modis während der Pogrome außer Zweifel, sodass sie ihn mit einem faktischem Einreiseverbot belegten. Erst 2012 wurde es von beiden Ländern aufgehoben, da sich abzeichnete, dass Modi Premierminister von Indien werden könnte – was er 2014 auch wurde.

Aktuell wurde ein weiteres der Puzzlestücke veröffentlicht, das auf eine Mitschuld von Narendra Modi am Gujarat-Massaker hindeutet.

Ist der indische Geheimdienst bekannt dafür, Dissidenten im Ausland zu ermorden oder zu entführen?

Klares Nein. Es gibt höchstens Gerüchte, der indische Geheimdienst RAW habe versucht, den in Indien gesuchten Diamantenhändler Latif Modi in London zu entführen, um ihn „nach Hause“ zu bringen. Offiziell bestätigt ist nur, dass die indische Regierung dies per Gericht in London versucht.

Die einzige Ausnahme, was indische Operationen im Ausland angeht, betrifft den Konflikt mit Pakistan. Da sind sich Geheimdienstler, die ich gesprochen habe, und Journalisten mal einig. Ganz zufällig war es wohl nicht, dass auf jeden Anschlag in Indien, hinter denen oft pakistanische Islamisten standen, prompt ein Bombenanschlag in Pakistan folgte. Wenn die jeweilige pakistanische Regierung daraufhin Indien anklagte, hörte jedoch niemand mehr hin – zu offensichtlich hatte der pakistanische Geheimdienst ISI seit Ende der 1980er Jahre die Islamisten bei Anschlägen in Indien unterstützt. Dazu gab es seit Anfang des 21. Jahrhunderts zu viele Anschläge der pakistanischen Taliban (TTP) in Pakistan. Selbstverständlich ist der indische Geheimdienst, Research and Analysis Wing (RAW), auch verdeckt in Pakistan unterwegs – nur erwischen lassen sie sich selten.

Dies sei nur erwähnt, um nicht den Eindruck zu erwecken, der indische Geheimdienst wäre durch Mahatma Gandhi geprägt. RAW ist bisher nicht dafür bekannt, Dissidenten im Ausland zu ermorden – dazu fähig und entsprechend gut ausgerüstet ist der indische Geheimdienst mittlerweile trotzdem. Wer es mit einem der brutalsten und größten Geheimdienste der Erde zu tun hat, dem pakistanischen ISI, muss fähig und gut ausgerüstet sein.

Es wird sich kommende Woche vielleicht herausstellen, was an den Vorwürfen, der kanadischen Regierung dran ist: Dann will Premierminister Justin Trudeau mehr zu den Vorwürfen gegen über Indien sagen.

Eines ist jedoch jetzt schon sicher: Lobbyismus hat Indien und Kanada schon seit einiger Zeit in einen Zustand ständigen Misstrauens versetzt.

Der Fall Jamal Khashoggi zeigt, dass nicht einmal ein Mord im Auftrag eines Staates in einem anderen Land zu einer grundlegenden Veränderung von Staatsbeziehungen führen muss.

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4 Kommentare

  1. Wieder das übliche Muster. Wenn ein Staat zu unabhängig wird und eigenständige Politik macht, versucht GB und die USA zusammen mit ihren Darmanhängseln wieder einen Putsch zu verursachen oder unterstützt radikale Gruppen. Alles wie gehabt. Solange die USA und GB nicht als Spieler ausgeschaltet werden, wird es auf der Erde keine Ruhe geben.

  2. Sehr interessanter Artikel und die eingebrachten kulturellen Einsichten, danke Herr Kolonko.
    Jetzt leben wir im Umbruch und so nach und nach kommen diverse Eigenheiten an das Tageslicht.
    Indien ist ein Kulturland mit sehr vielen Strömungen und von aussen eingebrachten Einflüssen.
    Da trudeau angeblich ein WEF absolvent ist, habe ich den Eindruck, daß der WEF immer mehr an Boden verliert.
    Was aber erschreckend ist, das andere Staaten genau ihre Vorstellungen übernehmen um letztendlich da hin zu kommen wo man sich anzusiedeln hat!
    Abstraktes Beispiel.
    Die City of London verliert immer mehr ihre konsoldierte Macht, angeblich!, aber der Kapitalfluss ging in den letzten Jahren vermehrt nach Singapur, in den grössten ‘Sicherheitshafen’ der Welt.
    Demnach vermute ich, das die einfache Menschheit extrem getäuscht werden.
    Und Indien oder irgendein anderer Profiteur grinsen ….

  3. Trudeau nimmt an. Trudeau hat Hinweise. Soso. Trudeau labert anscheinend mal wieder ohne Hirn und Verstand. Da haben sich die kanadischen Wahlbuerger ja ein ganz besonderes Exemplar gekürt. Bei einem Mordfall sollten eigentlich Menschen vom Fach die Untersuchung führen und kein Politikus mit Caesarenwahn mal kurz ein nicht vorhandenes Ergebnis vorwegnehmen. Zuviel Koks oder trudeausche komplett fehlende Impulskontrolle?
    Dem Bericht fehlt jegliche Hintergrundrecherche über das private und öffentliche Umfeld des Opfers. Statt dessen Allgemeinplätze über die Religionsgemeinschaft der Sikhs. Nun auch bei denen gibt es unterschiedliche politische, religiöse, gesellschaftliche und wirtschaftliche Strömungen. Das puritanische Arbeitsethos mag zwar bei vielen Sikhs dominieren und teilweise deren wirtschaftlichen Erfolg erklären, allerdings gibt es wie überall auch andere Exemplare.

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