Erste Stichwahl in der Geschichte Boliviens

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Rechtsruck oder Ruck in die rechte Mitte?

Zum ersten Mal in der bolivianischen Geschichte wird eine Stichwahl entscheiden, wer der neue Präsident wird. Diese wurde erst 2009 in der Verfassung festgeschrieben, doch seitdem hatte die Bewegung für den Sozialismus (MAS) stets bereits in der ersten Runde den Sieg davongetragen. Inzwischen sind der MAS und sein „Sozialismus des XXI Jahrhunderts“ am Ende, weshalb sich am kommenden Sonntag die Wähler zwischen Rodrigo Paz mit seiner kleinen Christdemokratischen Partei und Jorge „Tuto“ Quiroga vom ultrarechten Rand entscheiden müssen.

Im August hatte Paz – für alle eine Überraschung – 32 % der Stimmen erhalten, der frühere Vizepräsident Quiroga knapp 27 Prozent. Mysteriöserweise prophezeien die letzten Umfragen „Tuto“ einen satten Vorsprung von über 8 % .

Doch schon im ersten Wahlgang hatten die Umfragen komplett daneben gelegen, und bisher scheint nichts entschieden. Der Sozialdemokrat Samuel Doria Medina, der im August fast 20 % erhalten hatte, will Paz in der Stichwahl unterstützen.

Und der bemüht sich um die Stimmen der Linken, die vor zwei Monaten entweder Ungültig (etwa 20 %) oder MAS-Kandidaten (11 %) gewählt hatten. Rechnerisch käme er damit auf über 80 % – doch der Druck der Unternehmer und der US-Administration ist groß und das Programm des Mitte-Rechts-Kandidaten wenig überzeugend. Auf jeden Fall wittert die bolivianische Rechte Morgenluft. Kaum waren die Stimmen des ersten Wahlgangs ausgezählt, stellte sich auch die Justiz auf die neuen Zeiten ein. Das Oberste Gericht setzte die Putschisten von 2019 – darunter die damalige Übergangspräsidentin Jeanine Áñez und den Gouverneur von Santa Cruz, Luis Fernando Camacho – auf freien Fuß.

Tuto: Anti-Kommunismus wie vor 30 Jahren

Quiroga benutzt das übliche Repertoire des Anti-Kommunismus, und ob das bei den Wählern ankommt, ist fraglich. Er hofiert Donald Trump und Benjamin Netanjahu und verdammt alles, was mit dem Iran, Kuba oder Russland zu tun hat. Er verurteilt die willkürliche Bombardierung angeblicher Drogen-Boote in der Karibik durch die US-Airforce nicht, ebenso wenig wie das Säbelrasseln gegen Venezuela. Deutlich distanziert er sich von Brasilien, das, obwohl seine Beziehungen zu Nicolás Maduro nach dessen Wahlfälschung deutlich abgekühlt waren, an der Grenze zu Venezuela ein großes Militärmanöver abhält und sich eine Einmischung von außen verbittet.

Beim Thema China ist „Tuto“ vorsichtig, die Volksrepublik kauft Waren made in Bolivia und interessiert sich für den Bergbau. Teile der Landreform will er rückgängig machen und den juristischen Schutz von „gemeinschaftlichem Land“ (territorio comunitario) der bäuerlichen und indigenen Bevölkerung beenden und nur noch individuelles Eigentum an Grund und Boden zulassen. Das wird Spekulanten und Großbauern Tür und Tor öffnen. Und dann hatten soziale Medien alte Tweets von Quirogas Vizepräsidenten, Juan Pablo Velasco, ausgegraben, in denen er gefordert hatte, „ALLE Collas zu ermorden“; mit Collas sind die Hochland-Indianer gemeint. Velascos Account wurde inzwischen gesperrt.

Quiroga kündigt an, die US-Drug Enforcement Administration (DEA) wieder ins Land zu holen und das Kokaanbaugebiet Chapare zu militarisieren, wo sich der Ex-Präsident Evo Morales verschanzt hat. Gegen ihn existiert ein Haftbefehl wegen Missbrauchs von Minderjährigen.

Paz will es allen recht machen

Paz bezieht zum Thema Gaza keine Stellung und würde am liebsten Lieb-Kind mit allen sein. Wie Quiroga will er im Falle seines Wahlsieges wieder diplomatische Beziehungen zu Israel aufnehmen. Das macht es für die Linke schwierig, ihn als „kleineres Übel“ zu akzeptieren. Die Trotzkisten rufen zum Ungültig-Wählen auf.

Paz will alle Fragen der inneren Sicherheit in die Hände seines Vizepräsidenten Edmar Lara legen, eines ehemaligen Polizisten, der die Korruption der Polizei angezeigt hatte und deshalb seinen Job verlor. Bei TikTok wurde er populär. Er will die Streitkräfte und die Polizei modernisieren und lobt den argentinischen Rechtsradikalen Javier Milei und den Präsidenten von El Salvador, Nayib , über den grünen Klee. Gerüchteweise soll er heimliche Kontakte mit Evo Morales unterhalten, und auf die Frage von Journalisten, ob er ihn verhaften würde, antwortete er nicht; er kenne das Verfahren nicht, wich er aus.

Beide Kandidaten wollen das Gesetz 348 abschaffen, das Femizide verhindern will, und die Abtreibung unter Strafe belassen. Der MAS hatte zwar in den 20 Jahren seiner Regierung die Rechte der Frauen, zumindest verbal, hochgehalten, aber sich nicht an eine Änderung des Gesetzes herangetraut. Allerdings erlaubte das Verfassungsgericht in seiner Entscheidung 206/2014 den Schwangerschaftsabbruch im Falle der Vergewaltigung, des Inzests oder der Gefahr für das Leben der Mutter. Deshalb haben auch feministische Gruppen zum Ungültig-Wählen aufgerufen.

Es kann am Sonntag also noch einmal spannend werden, denn der Unmut der Bevölkerung ist groß – und wer immer die Stichwahl gewinnen wird – steht sowohl auf dem Land wie in den Stadtvierteln einer militanten Bewegung gegenüber.

Gaby Weber

Gaby Weber
Weber studierte Romanistik und Publizistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1982 am Lateinamerika-Institut. Seit 1978 ist die Mitgründerin der taz als Journalistin und seit 1986 als freie Korrespondentin tätig, zuerst aus Montevideo und ab 2002 aus Buenos Aires. Außerdem hat sie mehrere Reportagen und umfangreiche Recherchen zur Geschichte nachrichtendienstlicher Aktivitäten veröffentlicht. 2012 erschien ihr Buch „Eichmann wurde noch gebraucht“.
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4 Kommentare

  1. MAS ist am Ende? Das fände ich sehr bedauernswert, denn diese Regierung hatte bemerkenswerte Ansätze. Objektive Betrachtungen sind da schwer zu bekommen. Gaby sollte das erklären.

    1. Ja ein Übersichtsartikel über die Lage in Bolivien wäre gut um das besser einordnen zu können. welche ausländischen Einflüsse sind dort? Wie mächtig sind die jeweiligen Fraktionen? Zum Beispiel die Trotzkisten rufen zum ungültig Wählen auf, aber wie wichtig ist das? Wer hört auf die in Bolivien? usw.

      Bringt mir nicht so viel ab und zu so einen Artikel zu lesen in dem nur die Namen von irgendwelchen Parteien genannt werden. Genauso gut könnten das Parteien von der Wichtigkeit der APPD, Naturgesetzpartei, Volt oder der P.A.R.T.E.I. sein. Das sagt einem nicht viel darüber was los ist.

      1. Weil Sie @ Alfred Nonym da die Trotzkisten ansprachen… Eine Darstellung zu Bolivien liefert deren Hausseite hier.

        Ansonsten hält natürlich unter anderem Amerika21 in seinem Reiter hier Ihnen wie anderen Interessierten jede Menge Artikel zur Lage der (bolivianischen) Nation parat. Nach etwas Einlesen könnte dann selbst Artur_C vom Trauern um die MAS absehen…

  2. Das ist einfach auch nur wieder eine Wahl zwischen Skylla und Charybdis, selbst heraufbeschworen von der MAS, die das Land Jahrzehnte lang kapitalistisch verwaltet und regiert hat:

    Der Zusammenbruch der MAS ist auf vielfältige Faktoren zurückzuführen, deren Analyse noch Zeit braucht, doch überraschend ist er keineswegs. Seit Jahren entfernte sie sich von der sozialen Basis, die sie an die Macht gebracht hatten, während die Wirtschaftskrise ihr Programm aushöhlte und die Rechte versuchte – durch wirtschaftliche Destabilisierung und sogar durch Putschversuche und Putsche – die Macht zurückzugewinnen.

    Quelle: hier

    Sozialdemokratie eben.

    Die Ergebnisse der bolivianischen Wahlen beweisen einmal mehr, dass der bürgerliche Nationalismus keinen Ausweg für die Arbeiterklasse bietet und nur dazu dient, die Kämpfe der Arbeiter zu entwaffnen und der Rechten politischen Raum zu verschaffen.

    Quelle: hier

    „Linker“ Nationalismus wäre freilich auch kein Ausweg, werte WSWS.

    Aber lieber mal was anders, was richtig Ketzerisches zum Wochenende. Nämlich zu der Passage hier:

    im Falle der Vergewaltigung, des Inzests oder der Gefahr für das Leben der Mutter.

    Abtreibung im Falle von Vergewaltigung oder Gefährdung des Lebens der Mutter ist ja noch nachvollziehbar. Aber warum bei Inzest? Entweder wird unter „Inzest“ verstanden, dass Papi das zwölfjährige Töchterchen schwängert, nachdem es ihm mal gesagt hat, dass es ihn „liebe“ und später heiraten wolle. Dann ist das aber nicht einfach „unkeusch“ (vulgo: „incestus“), sondern hundsgemeiner Kindesmissbrauch mit Vergewaltigung. Oder die Mutter, die ihrem 14jährigen keine Freundin gönnt, bietet sich ihm als „Lehrmeisterin“ an – und wird „plötzlich“ schwanger. Dann ist das immer noch hundsgemeiner Kindesmissbrauch mit Vergewaltigung (und zwar des Jungen). Aber auch kein Inzest.

    Doch was geht es irgendwen an, was zwei (oder mehr) mündige, erwachsene Leute unter der Bettdecke treiben? Ob die jetzt miteinander verwandt sind oder nicht? Das einzige, was immer wieder kommt, ist das hier:

    Das Gericht argumentierte weiter unter Gesichtspunkten der so genannten Eugenik. Es bestehe eine besondere Gefahr von Erbschädigungen bei Kindern aus Inzestbeziehungen. Es sei im Einklang mit dem Grundgesetz, wenn der Gesetzgeber diese „Gefahr“ auszuschalten suche.

    Ja, die „besondere Gefahr von Erbschädigungen“, die haben Sie auch bei einer Menge anderer Leute und die werden „wir“ in Zukunft noch viel häufiger ermittelt bekommen, wenn die Genuntersuchungen erst mal so richtig ins Rollen kommen. Und nun? Verpflichtende Gentests vor der ersten Zeugung – egal mit wem? Strenges Ernährungs- und Verhaltensgebot während der Austragung? Dabei höre ich von den Rechten in der Abtreibungsdebatte doch immer, dass alle Kinder – auch die behinderten, auch die erbgeschädigten, auch die degenerierten – Geschenke Gottes und daher zu erhalten seien. Stabil. Nur müssten sie dann ja konsequenterweise die größten Inzestbefürworter sein. Sind sie aber nicht – außer vielleicht in Alabama – sondern bloß die größten Doppelstandardaufsteller.

    Interessant auch wie unterschiedlich die rechtliche Handhabung des Ganzen von Land zu Land und Zeit zu Zeit ist. Hier mal nur Westipedia für das westliche Nahfeld:

    In einigen Staaten ist Inzest strafbar: In Deutschland, Österreich und der Schweiz ist nur der inzestuöse Vaginalverkehr strafbar; in Liechtenstein ist auch inzestuöser verschieden- und gleichgeschlechtlicher Oralverkehr und Analverkehr strafbar, je nach Auslegung auch andere Handlungen (vgl. unten). Die §§ 312-314 des norwegischen Strafgesetzes bedrohen alle inzestuösen sexuellen Handlungen mit Strafe.

    In Frankreich wurde die Strafbarkeit mit Einführung des Code pénal 1791 abgeschafft, aber Inzest mit Minderjährigen 2010 wieder als Straftatbestand eingeführt[29] und 2021 verschärft (Artikel 222-22-3, 222-24 und 222-29-3 Code pénal).

    Tja, die Froschfresser mal wieder!

    Ansonsten sage ich es knallhart: „Wir“ erlauben den Leuten jede Menge riskante und gesellschaftsschädigende Dinge zu tun, solange es Massencharakter hat und von irgendwem „zur Norm“ erhoben wurde. Inzest ist aber ein Nischenthema, das die herrschende Klasse wohl einfach für sich behalten möchte und ansonsten fett mit Moralin begießt und deckelt, um zu verschleiern, dass es ihr auch hier nur um den Zugriff auf den menschlichen Körper und die (Um)Gestaltung der sogenannten Freizeit(beschäftigungen) ihrer Untertanen geht. Um was es nicht geht ist der ominöse „Schutz der Betroffenen“, sondern vielmehr die Aufrechterhaltung von Erb- und Produktionslinien oder der „gesitteten Ordnung“. Der Arbeiter soll seinen Körper nämlich zur Zeugung der richtigen Kinder verwenden, produktiver Kinder, damit gesundes Menschenmaterial für die Kriegs-, Arbeits- und sonstigen Fronten zur Verfügung steht. Er soll ihn gescheit ertüchtigen und sinnvollen Tätigkeiten nachgehen. Bonzen und Adlige sind davon natürlich ausgenommen, die müssen ja nicht arbeiten und was die unter der Bettdecke treiben, erblickt nur höchst selten das Licht des Tages (*Epstein, hust, hust*). Wäre Inzest dagegen ein breiteres, vermarktungswürdiges Geschäft, dann würde es längst legalisiert und kommodifiziert werden, erbschädigend hin oder her. Denn dann könnte man ja Cash mit machen – Stichwort Cannabis. So aber lässt man da lieber bloß seinen Moralischen raushängen.

    PS: Gegenargumente bitte – keine bloßen Hass-, Moralin- und Trollpostings. Die sind einfach zu lame, bekannt und schlicht ubiquitär.

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