Erdoğan und İmamoğlu im Kampf um die türkische Demokratie

Als Istanbuls Bürgermeister verhaftet zu werden, kann das Sprungbrett sein für eine große politische Karriere. Niemand weiß das besser als Recep Tayyip Erdoğan. Als Stadtoberhaupt der türkischen Megapolis rezitierte er Ende der 1990er Jahre ein religiöses Gedicht, das die damals noch kemalistisch-laizistische Staatsgewalt als Hassrede interpretierte. Die folgende viermonatige Haft boosterte seine Popularität und ebnete ihm den Weg zunächst in das Amt des Vorsitzenden der „Partei für Gerichtigkeit und Aufschwung“ (AKP), dann zur Wahl zum Ministerpräsidenten und schließlich zum Staatsoberhaupt.

In seiner inzwischen über zwei Jahrzehnte währenden Herrschaft hat Erdoğan die Türkei zu einer frömmelnden Autokratie nach eigenem Antlitz geformt. Die Ereignisse seit der Verhaftung des amtierenden Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu von der Republikanischen Volkspartei (CHP) am vergangenen Mittwochmorgen wegen des Vorwurfs der Korruption und der Zusammenarbeit mit terroristischen Vereinigungen lassen es nun aber für möglich erscheinen,  dass er bereits seinem eigenen Schwanengesang lauscht.

Tag für Tag protestieren Zigtausende in Istanbul, der Hauptstadt Ankara und weiteren Städten wie Izmir, Bursa und Adana für İmamoğlus Freilassung und gegen Erdoğans autoritäre Herrschaft. Sie lassen sich auch von Versammlungsverboten nicht abschrecken. Offenbar wächst der Unmut vieler Türken und Türkinnen über Willkürherrschaft, Unfreiheit und die zunehmende soziale Not aufgrund hoher Inflation.

Hunderttausende säumten den Rathaus-Platz im Saraçhane-Viertel, als das zuständige Gericht am vergangenen Sonntag die staatsanwaltschaftlichen Anschuldigungen gegen Istanbuls Stadtoberhaupt İmamoğlu für plausibel erklärte und seine Überführung in Untersuchungshaft anordnete..

Den Auftakt für die Affäre um Istanbuls Stadtoberhaupt gab am Dienstag die Universität Istanbul. Sie erklärte İmamoğlus vor über dreißig Jahren ausgestelltes Diplom für ungültig und entzog ihm damit einer Grundvoraussetzung für die Kandidatur für das Präsidentenamt, für die eine Hochschulausbildung zwingend ist.

Einen Tag später löste die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters und rund einhundert weiterer Personen aus dem Umfeld der Stadtverwaltung und der CHP wegen des Vorwurfs korrupter Praktiken und Kollaboration mit der als terroristisch erachteten Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) die Massenproteste aus. Sie gelten inzwischen als die größten und heftigsten seit den Protesten von Gezi im Jahr 2013. Selbst der massive Einsatz von Wasserwerfern, Tränengas und Gummigeschossen und über eintausend Festnahmen von Demonstranten und Demonstrantinnen konnte den Volkszorn bisher nicht zerstreuen.

Während aber die AKP-Repräsentanten die Unabhängigkeit der Justiz im Land beschwören und jegliche Verantwortung für İmamoğlus Festnahme von sich weisen, sind seine Parteifreunde von der CHP überzeugt, dass Erdoğan danach trachtet, seinen gefährlichsten politischen Rivalen mit juristischen Winkelzügen zu eliminieren. Erdoğan selber soll die Sentenz geprägt haben: „Wer Istanbul hat, gewinnt die Türkei.“

Tatsächlich hat der heute 53-jährige Bauunternehmer İmamoğlu mit seinen Siegen bei Istanbuls Bürgermeisterwahlen 2019 und 2024 Erdoğan und seiner AKP ihre peinigendsten Wahlniederlagen beigebracht. Einer im März vom Team Araştırma durchgeführten Meinungsumfrage zufolge verfügte İmamoğlu wenige Tage vor seiner Festnahme mit einer Zustimmungsrate von 54,1% über eine deutlich größere Popularität als Erdoğan mit 38,6%. Aufgrund der Ereignisse der vergangenen Woche dürfte sein Vorsprung inzwischen noch kräftig gewachsen sein. Sollte er aber für die ihm gemachten Vorwürfe strafrechtlich verurteilt werden, wird ihm dies die Bewerbung um das Amt des Staatsoberhaupts verwehren.

Der Kampf um die Macht im Staate scheint damit voll entbrannt, obwohl die nächsten Präsidentschaftswahlen erst für das Jahr 2028 angesetzt sind. Laut Verfassung kann sich Recep Tayyip Erdoğan nach zwei absolvierten Amtsperioden nicht mehr um das höchste Amt im Staate bewerben. Es wird aber für möglich erachtet, dass er versuchen könnte, durch eine Verfassungsänderung oder die Einberufung vorgezogener Neuwahlen seine Herrschaft über den regulären Zeitraum hinaus auszudehnen. Die andauernden Proteste dürften seine Chancen auf Wiederwahl aber verringern.

Rund fünfzehn Millionen Menschen, ein knappes Sechstel der ca. 85 Millionen Türken und Türkinnen, haben nach CHP-Angaben am Sonntag ihre Stimme bereits seinem Widersacher Ekrem İmamoğlu gegeben. Danach haben rund 1,65 Millionen CHP-Mitglieder bei der parteiinternen Vorauswahl ihres Präsidentschaftskandidaten für den einzigen Kandidaten İmamoğlu votiert. Und weitere 13,2 Mio Bürger und Bürgerinnen sollen bei einer symbolischen Wahl an zusätzlich aufgestellten Wahlurnen ihre Solidarität mit ihm bekundet haben. Über den Kurznachrichtendienst X brachte İmamoğlu seine Genugtuung zum Ausdruck, dass „die Menschen die Wahlurnen gestürmt haben, weil sie unter der Unterdrückung durch die Regierung, die ruinierte Wirtschaft, Inkompetenz und Gesetzlosigkeit leiden. Damit haben sie Erdoğan die  Botschaft ´genug ist genug` erteilt“, twitterte er aus dem Hochsicherheitsgefängnis Silivir am Rande Istanbuls.

Von einem autokratischen Regime juristisch verfolgt zu werden, ist nicht per se ein Ausweis persönlicher Integrität. Auch gegen undemokratische Regierungen opponierende Politiker können Interessenskonflikten unterliegen, unrechtmäßige Entscheidungen treffen und illegale Handlungen begehen. Einen solchen Verdacht lenkte im vergangenen Jahr ein publik gewordenes Video, das  CHP-Mitglieder beim Zählen großer Mengen an Geld zeigt.

Immer wieder erhebt der frühere CHP-Parteifunktionär Erkan Cakir Korruptionsvorwürfe gegen CHP-Politiker, darunter auch gegen İmamoğlus Stadtverwaltung, die „die eigene Bürgerschaft ausgeraubt“ habe. „Warum kritisieren alle die Regierung?“, ließ sich CHP-Renegat Cakir nach İmamoğlus Verhaftung zitieren. „Es waren doch wir, die das Verfahren eingeleitet haben.“ Mit diesen Worten deutete er an, dass Hinweise an die Staatsanwaltschaft zu Korruption in der Istanbuler Stadtverwaltung aus Kreisen unzufriedener CHP-Politiker gekommen seien.

In seinem Brief an die CHP-Mitglieder vom 7. März 2025 begründet Ekrem İmamoğlu seine Kandidatur für das Präsidentenamt indes damit, er werde „dieses korrupte System ändern, das die Wirtschaft in eine schwere Krise stürzt, unser Volk in tiefe Armut treibt und den Staat dem Willen einer einzigen Person unterwirft“.  Er und seine Partei hätten es dabei „mit einer Struktur zu tun, die den Staat übernommen hat und nicht davor zurückschreckt, Politik über die Justiz zu gestalten“.

Am selben Abend als sich Ekrem vor Gericht zu verantworten hatte, sprach der Staatspräsident und AKP-Vorsitzender Erdoğan in Ankara auf einer Versammlung zu Parteifreunden. Dabei wandte er sich direkt an die Opposition. „Ob es euch gefällt oder nicht, niemand steht außerhalb des Rechts, es gibt keine privilegierte Minderheit mit der Freiheit, Verbrechen zu begehen, und wird es niemals geben“, sagte er.

Die kommenden Wochen und Monate werden zeigen, in welche Richtung sich Politik und Gesellschaft in der Türkei entwickeln. Aus der Perspektive des bulgarischen Nachbarns äußerte Bulgariens früherer Außenministerin und Botschafterin in der Türkei, Nadeschda Nejnski, im Bulgarischen Nationalen Fernsehen (BNT) ihre Einschätzung, „dass die türkischen Machthaber einen solchen Protestausbruch nicht erwartet haben, handelt es sich doch um den größten seit über zehn Jahren“.

Erdoğan spiele „ein sehr riskantes Spiel“, so Nejnski, sei er selbst doch als Istanbuls Bürgermeister verhaftet und dadurch in die große Politik katapultiert worden. „Die türkische Gesellschaft reagiert empfindlich auf Ungerechtigkeiten“, sagte die Ex-Außenministerin und stellte „das Fehlen klarer internationaler Positionen zu den Entwicklungen“ fest. „Die türkische Demokratie wird aber von den Türken entschieden und nicht von außen.“

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19 Kommentare

  1. „Erdoğan und İmamoğlu im Kampf um die türkische Demokratie
    25. März 2025“

    Wie sieht den der Stand der türkischen Demokratie aus? Auch nicht viel weiter als in D oder Rumänien oder irgend einem anderen westlichen Vorzeigeland oder? Mein letzter Stand der Dinge war, das Erdogan sich für ein „vorgezogenes Wahlergebniss“ entschieden und seinen Konkurrenten kurzerhand ins Gefängnis gesteckt hat. Fertig ist die Kiste.

  2. Die laizistische Türkei war vor Erdogan eine mal latente, mal offenen Militärdiktatur, in der ein Putsch den anderen ablöste, wobei meist die NATO die Hände im Spiel hatte. Schon vergessen? Es war Erdogan, der die Demokratie in der Türkei durchsetzte. Und wer in Deutschland lebt, sollte lieber verschämt den Mund halten, angesichts der Verhältnisse die hier bestehen, anstatt andere Länder als Autokratie zu beschimpfen, nur weil sie einen gewählten Präsidenten haben. Im Gegensatz zur BRD gibt es In der Türkei eine unabhängige oppositionelle Presse und eine große Opposition. Allerdings gibt es dort ein ungelöstes Kurdenproblem und Terrorismus, womit nicht immer mit Samthandschuhen umgegangen werden kann.
    Und Bauunternehmer Imamoglu soll nicht korrupt sein? Dann wäre er der einzige. Mir gestand ein hiesiger Bauunternehmer, dass man in diesem Beruf immer mit einem Bein im Gefängnis stehe. Wer weiß, was Imamoglu für Verbindungen hat und insgeheim abzieht? Ihn gleich heilig zu sprechen und Erdogan mit den Taliban oder Mullahs zu vergleichen, was hier ja implizit geschieht, ist einfach lächerlich. Ich verstehe nicht, wie man sich in Bezug auf die Türkei mit den linksgrünen Syph gemein machen kann.

    1. ist die alternative zum sich mit „linksgrün versifften“ gemein zu machen, sich lieber mit „rechtsblau faschissenen“ gemein zu machen?
      dann hast du mal eben 100 gummipunkte auf der skala der kognitiv dissonanten nullcheckskala gewonnen, du nachtwächter.
      also ich bin nach wie vor dafür, die ganzen „evet“-wähler abzuschieben, die erdogan von hier aus in diese position gehievt haben, ohne da auch leben zu wollen. müsste euch rechtsblau faschissenen doch wunderbar in den kram passen mit eurem abschiebewahn. (obwohl, wer putzt dann eure klos?) dazu noch ferhat sentürk obendrauf, soll er doch nazi im herkunftsland seiner vorfahren spielen, anstatt hier die gesellschaft einen haufen geld zu kosten, indem die polizei seine nazigroßmäuler beschützen muss.

      1. @ paul

        Kannst du dich zumindest hier ein wenig gepflegter ausdrücken, bitte? Oder möchtest du hier den Preis als Oberprimitivling abräumen?

          1. Ob es „Nazisprech“ ist sei dahingestellt, aber wer „links“ und „grün“ zusammenfügt, und daraus folgert, die „Grünen“ seien Links, der hat nicht alle Latten am Zaun.
            Und da muss man sich auch nicht gepflegt ausdrücken, sondern das Kind beim Namen nennen.
            Die „Grünen“ sind die neuen Nazis. Punkt.
            Deshalb kann ich dir nur zustimmen.

            1. Wer glaubt, dass die Linke oder das BSW links sind, hat auch nicht alle Tassen im Schrank. Das sind genau solche Renegaten wie die Grünen.

                1. oh wow, hat ja nicht lange gedauert, in absurde gefilde abzuschweifen. fehlt eigentlich nur noch, das reichssuppenhuhn a. weidel zu zitieren, dass hitler ja ein kommunist gewesen wäre. nee danke, so ein geschwätz offensichtlich bravouröser absolventen der universität youtube, deren IQ sich gerade so um ihre körpertemperatur bewegt, kann man nicht für voll nehmen. und denen gegenüber schlage ich natütlich eine sprache an, die sie auch verstehen.
                  wirr ist das volk.

          1. Ja, full of negativity halt; um nicht mit deren Vokabular zu sagen: full of shit! Wäre es anders, würde man zuweilen auch mal positive Gegenvorschläge vernehmen. Aber es ist ja viel bequemer, sich darüber auszulassen, ob nun Baerbock oder Weidel die Queen of shit ist, ohne zu bemerken, daß es auf das Gleiche hinausläuft. Weder die einen noch die anderen wollen darauf verzichten, sich den einen oder anderen Mist vorbeten zu lassen und diesen dann lautstark aus sicherer Deckung der Anonymität heraus zu kommentieren. Ohne diesen vorgesetzten Mist hätten sie nämlich gar nichts mehr zu kommunizieren. Somit wird auch klar, wie leer das ganze Bashing ist und im Grunde nur den eigenen geistigen Offenbarungseid beschreibt. So werden dann auch Begriffe wie Lumpenpazifist allgemein akzeptiert und Aussagen wie „Frieden gibt es nur am Friedhof“ abgenickt. Denn dieses Feindschema ist der einzige Konsenz, zu welchem die überwiegende Mehrheit in Deutschland fähig scheint; und uns geradewegs in den Krieg führt! Wer wird dann daran Schuld gehabt haben und vor allem: Was bringt uns dann noch die Klärung dieser Frage?

  3. Der Autor ist jung und ohne Lebenserfahrung. Er lebt in Sofia.
    Folglich ist er geprägt von imperialer westlicher Propaganda.
    Was dabei rauskommt hat sein Artikel dokumentiert !

    1. wahrscheinlich nicht nur geprägt von imperialer westlicher Propaganda sondern ausgebildet und bezahlt von USAid…als Agitator für einen von der CIA gewünschten Regierungswechsel, Erdogan muss weg, ist doch offensichtlich wenn man Nachrichten freidenkend analysiert..nicht dass ich ein Fan von Erdogan bin, ganz im Gegenteil..alles nach Schema was USA nicht passt muss weg…in Serbien, Rumänien, Georgien wird ja auch weiterhin heftig gezündelt, von wem wohl? und im verlorenen Ukraine Krieg führen sich jetzt die Oberterroristen USA als unschuldige Lämmer auf inklusive Friedenstaube mit Olivenzweig im Schnabel…was ein Theater, man kann nur hoffen das Russland, China, und der Iran weiterhin einen kühlen Kopf bewahren und nur erbarmungslos zuschlagen wenn es unbedingt nötig ist…

  4. Vielen Dank, für den sehr interessanten Artikel!
    Nur was soll das Gendern? „vieler Türken und Türkinnen“ , Sie sagen ja auch nicht „vieler Deutscher und Deutscherinnen“ oder etwa doch?

    1. der deutsche, die deutsche- die deutschen. der türke, die türkin… merkste was?
      der jeweilige plural erschließt sich einem durchschnittlich intelligenten menschen sofort: die deutschen sind sowohl männlich wie auch weiblich zutreffend, während sich das bei den türken eben nicht so verhält.
      woraus folgt: wenn du jetzt nicht dastehen willst wie ein totaler depp, dann müsstest du zugeben, dass du nur „genderstänkern“ wolltest. dann bist du halt nicht doof, sondern niederträchtig/boshaft.
      such dir was aus.

  5. Einerseits trägt man sich mit der Hoffnung, das Erdogan die „Koalition der Willigen“ – Deutschland, Frankreich & das UK – mit „Friedenstruppen“ die Ukraine gegen Russland „absichert“ und uns natürlich auch weiterhin die Flüchtlinge nicht nur aus Syrien vom Hals hält und andererseits trägt man sich bereits wieder mit Plänen, ihn möglichst bald loszuwerden… Das hat natürlich nichts mit Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Türkei zu tun; que va! Frankreich und dem UK mag es egal sein, aber will es sich Deutschland wirklich ausnahmslos mit jedem verscherzen? Jene, welche Deutschland derzeit an seiner Seite wähnt, werden uns als Erste mit Anlauf in den Allerwertesten treten, nicht nur die USA! Spätestens, wenn wir unser „Sondervermögen“ verpulvert haben und versuchen, unsere „Partner“ zu überzeugen versuchen, das von uns nichts mehr zu holen ist. Niemand wird an unserer Seite stehen; nicht die USA, nicht Russland, nicht die Ukraine, nicht Polen, nicht Frankreich, nicht das UK, nicht Israel, nicht China, nicht die Türkei… Niemand!

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