Ein Meer von Israelfahnen

Protest gegen die Justizreform am 13. Februar. Bild: Oren Rozen/CC BY-SA-4.0

Wie gestaltet sich die Verfahrenheit der israelischen Situation? Wie lässt sie sich erklären?

Die Situation in Israel ist verfahren. Zum einen prescht der Faschismus vor. Man hat bereits mit der parlamentarischen Gesetzgebung, die das bestehende Justizsystem aushöhlen soll, begonnen. Zum anderen hat sich aber eine riesige Bürgermasse erhoben, um gegen diesen Vorgang (und was noch alles in seinem Sinne ansteht) mit Emphase zu protestieren. Der israelische Staatspräsident hat seine Stimme erhoben, um zu “vermitteln”; die beiden Seiten sollen sich schnellstmöglich an den Verhandlungstisch setzten.

Aber was soll eigentlich verhandelt werden? Es ist doch klar, was jede Seite will; und es ist ebenfalls klar, dass Zugeständnisse seitens der Opposition letztlich einen Sieg der Koalition bedeutet – entsprechend hat sich diese zu Verhandlungen bereit erklärt, aber nur, wenn nichts am “Wesen” der Reform angerührt wird. Verhandlungen als Affirmation der Farce.

Die Intentionen der messianischen Nationalreligiösen werden ebenfalls in die Tat umgesetzt; illegale Siedlungsanfänge (naja, welche Siedlung in den besetzten Gebieten war nach internationalem Recht jemals legal?), deren Errichtung das Parlament bislang nicht genehmigt hatte, werden von den jetztigen Herren des Landes sanktioniert. Warnungen der Fachleute, dieser Vorstoß könnte zur Gewalteskalation, gar zur dritten Intifada führen, werden abgeschlagen; “legalisiert” sollen alle Siedlungen im Westjordanland werden.

Nicht ganz ausgemacht ist, wer israelischer Herr im Westjordanland ist – Verteidigungsminister Joaw Galant oder Itamar Ben-Gvir, der Polizeiminister, der sich in den machtgeil vollzogenen Koalitionsverhandlungen Machtbefugnisse auch im besetzten Territorium ausgehandelt hatte? Es ist bereits zu einem ersten Zusammenstoß zwischen den beiden gekommen. Aber im Hinblick auf die Okkupationsrealität in der Westbank nimmt sich die Wahl zwischen beiden wie die Entscheidung zwischen Pest und Cholera aus.

Die Orthodoxen insistieren darauf, dass die Ausschaltung des Obersten Gerichtshofes in seiner bestehenden Formation eiligst vorangetrieben werde. Zum einen damit der dreifach vorbestrafte Führer der Schas-Partei, Arie Deri, der wegen erneuten Vergehens seines Amtes enthoben wurde, in ebendieses wieder eingesetzt werden kann. Zum anderen – das ist nun das Anliegen von Moshe Gafni von der Partei des Thorajudentums, dem Vorsitzenden des Finanzausschusses im Parlament – damit gesetzlich festgelegt wird, dass orthodoxe Männer ganz vom Militärdienst befreit werden, vor allem aber dass das autonome orthodoxe Erziehungssystem, das säkulare Fächer wie Mathematik und Englisch verbietet, voll vom Staat finanziert wird. Sowohl Gafni als auch Deri haben schon angedroht, Schwierigkeiten im Parlament zu zu machen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden (sie berufen sich dabei auf die erpressten Abmachungen in den Koalitionsverhandlungen).

Dies Wenige schon (es gäbe eine Menge mehr an Auswüchsen des unbewaffneten Staatsstreichs zu berichten) stellt Premierminister Netanjahu vor schier unbewältigbaren Herausforderungen. Er hört die (vorläufig noch moderate) Kritik aus dem Ausland; er ist entsetzt über die lautstarken Massendemonstrationen; er bekommt die inneren Widersprüche der von ihm zurechtgebastelten Koalition zu spüren; er muss die Warnung der Ökonomen ernstnehmen, daß die “Justizreform” Israel massiven wirtschaftlichen Schaden zufügen werde. Und doch muss er bei alledem an den Kampf gegen das Justizsystem festhalten, denn nur so kann er seinem eigenen Prozess und einer drohenden Gefängnisstrafe entkommen. Nicht von ungefähr hört man ihn kaum in den letzten Wochen. Er ist nicht mehr Herr der Dinge, erweist sich mithin als schwach, erpressbar und sichtbar verunsichert. Der große Politmagier, als der er immer von seinen Anhängern bewundert wurde, hat seine Aura verloren. Sie halten noch immer zu ihm, gehen für ihn aber nicht auf die Straße.

Auch die Protestbewegung sieht sich vor gravierenden Problemen gestellt

Die Empörung ist zwar beeindruckend, die von Befürchtungen und Wut gespeiste Emphase ist vielen ein Ventil für ihre Frustration und eine Gelegenheit, ihrer (verkümmerten) zivilgesellschaftlichen Raison d’être endlich anschaulichen Ausdruck zu verleihen.

Aber das Meer der Israelfahnen in den Demonstrationen indiziert auch, was die Grenzen dieses Protestes sind: Die israelischen Araber sind aus ihm ausgeschlossen. Jede palästinensische Fahne, die als Zeichen der Solidarität der israelischen Palästinenser mit ihren Brüdern in den besetzten Gebieten mitschwingen könnte, wird sofort als Tabu geahndet und geschmäht. Man demonstriert ja für etwas ganz Bestimmtes: für die Demokratie. Man blendet dabei in der euphorischen Erhebung gegen die Diktatur aus, dass Israel schon seit langem keine Demokratie ist, nicht sein kann: Wenn man ein anderes Volk entrechtet und barbarisch unterdrückt, darf man nicht beanspruchen, demokratisch zu sein. Aber genau dies soll fein säuberlich voneinander getrennt werden; argumentiert wird dabei, dass es jetzt nicht die rechte Zeit sei, sich um “dieses Problem” zu kümmern.

Aber wann war jemals die rechte Zeit dafür? Haben nicht gerade die so emphatisch gegen Netanjahu Protestierenden über Jahre seinen Wahlspruch verinnerlicht, man müsse den Konflikt mit den Palästinensern gar nicht lösen, sondern nur verwalten. Haben sie mit dieser Tötung des Friedens nicht in Frieden gelebt? Man meint eine Einheitsfront zu bilden, indem man gegen die “Justizreform” demonstriert, aber ist sie so einheitlich? Abgesehen von der Heterogenität der Demonstrierenden indiziert das Meer der Israelfahnen, wo auch diesmal – wie schon 2011 und 2020 – die Grenze (die die “Einheit” garantiert) verläuft.

Das Verhältnis der jüdischen Israelis zu den Palästinensern Israels und den Palästinensern insgesamt ist der Code der verqueren Realität des Landes. Mit den Arabern hätte sich ein ganz anderes Wahlresultat erzielen lassen, als das erzielte, welches die “Justizreform” gebar. Aber um eine gemeinsame israelische Realität mit ihnen überhaupt zu denken, müsste Israel erst eine Demokratie werden. Heute ist die Erfüllung dieser Vorstellung entfernter denn je.

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2 Kommentare

  1. „Man demonstriert ja für etwas ganz Bestimmtes: für die Demokratie….“

    Danke für diese Portion Zynismus.
    DIE Demokratie und DIE Freiheit…
    Immer wieder interessant, die autoritären und faschistoiden bis faschistischen Entwicklungen in kapitalistischen Gesellschaften unter Berufung auf diese leeren Worthülsen nachzeichnen.
    Solange sich die Menschen weiter im Stadium gesellschaftlicher Analphabetisierung halten lassen, wird sich nichts bessern.
    Im Gegenteil…

  2. Russland hatte ein Referendum durchgeführt, um seine Verfassung zu ändern…
    Der Westen, inkl. Israel, hingegen scheut ein Referendum wie der Teufel das Weihwasser. Man beruft sich auf nationale Sicherheit.
    Trotz des Referendum hat Russlands Regierung, angeblich, immer noch weit über 70% Rückhalt!
    Was hat der demokratische Westen zu bieten, inkl. Israel?
    So manchmal denke ich das das westliche Publikum aufgefordert ist, über seine indoktrinationen nachzudenken, schön zu lesen wie zumindest in Israel die Bevölkerung agiert.

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