Ein Land geht zugrunde

Benjamin Netanyahu: Eine nahezu hörige Wählerschaft verhilft ihm ein ums andere Mal zur Wiederwahl als Premier. Bild: DoD

 

 

Der vorliegende Text ist im Oktober 2020 verfasst worden. Inzwischen hat sich einiges mehr in Israels Politturbulenz zugetragen. Aber gerade deshalb stellt sich die im damaligen Text bereits gestellte Frage heute mit umso größerer Dringlichkeit.

 

Der Roman “Doktor Faustus” von Thomas Mann enthält einen bemerkenswerten doppelten Erzählstrang. Zum einen berichtet der aufgeklärt-liberale Serenus Zeitblom über die Lebensgeschichte des 1885 geborenen und 1940 verstorbenen befreundeten Komponisten Adrian Leverkühn; zum anderen unterbricht er seine Erzählung immer wieder mit Kommentaren zu den Abläufen im sich in den letzten Phase des Zweiten Weltkriegs befindenden Deutschland.

Zeitblom rekonstruiert die Biographie des geliebten Freundes und kommentiert zugleich in der Jetztzeit die realhistorischen Entwicklungen des im Krieg untergehenden NS-Regimes. Leverkühn hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen: Für ewigen Ruhm als bahnbrechender Komponist verzichtet er auf Liebe und Seele. Sein individueller Untergang, so die Logik der Romanstruktur, wird dem kollektiven geschichtlichen Untergang Deutschlands parallelisiert.

Es ist eine eigentümliche Doppelrealität, die Mann in seinem Werk erzeugt. Die fiktive Geschichte des Musikers und die Gegenwart der Realhistorie greifen ineinander über. Während der Leser die Individualgeschichte Leverkühns mit gespannter Anteilnahme verfolgt, breitet sich vor ihm zugleich deutlich aus, was in der fiktiven Geschichte des Komponisten ausgespart bleibt, aber realgeschichtlich schon da ist, vor allem aber schon vor der erzählten Jetztzeit hätte gewusst werden können. Mann parallelisiert dabei nicht nur das Individuelle mit dem Kollektiven (wie immer zulässig dies sein mag), sondern er verweist mutatis mutandis darauf, dass das, was im historisch Vorbewussten verharrt, bereits “da” ist und registriert hätte werden können, wenn man es denn hätte erkennen wollen.

In István Szabós Film “Mephisto” von 1981 vollzieht sich ein ähnlicher Vorgang, allerdings in einem direkteren Darstellungsmodus. Der Schauspieler Hendrik Höfgen schließt auch einen Pakt, und zwar mit dem NS-Regime: Für die Förderung seiner Karriere im Theater, unter anderem in der Rolle des Mephisto in Goethes “Faust”, ist er bereit, sich dem Regime und den Forderungen des ihn fördernden preußischen Ministerpräsidenten anzupassen, gibt seine ursprünglichen kommunistisch geprägten Kunstideale auf, verlässt seine dunkelhäutige Geliebte, schützt als Prominenter das Regime vor Kritik der internationalen Presse, muss indes nach und nach erkennen, dass er einen hohen Preis für seine gewählte Konformität zahlt. Aber es ist zu spät. Nicht nur wird er von seinem Gönner hinausgeworfen, als er sich bei ihm für einen durch das Regime in höchste Not geratenen Freund verwenden will.

Der Ministerpräsident brüllt ihn wütend an, er sei doch “nur ein Schauspieler”; aber auch Höfgen bezieht sich auf diesen Spruch, als er selbst in arge Not gerät: Der Ministerpräsident nimmt eines Abends Höfgen zum Berliner Olympiastadion, wo er ihn in die Mitte der Arena treibt und von Scheinwerfern bedrohlich verfolgen lässt. Der ohnmächtig-entsetzte Höfgen spricht die letzten Worte des Filmes: “Was wollen die von mir? Ich bin doch nur ein Schauspieler.”

Höfgens Worte lassen die Frage aufkommen: Was heißt es, “nur Schauspieler” sein zu wollen? Kann man in einem faschistischen System, in dem man von den Machthabern gefördert wird, “nur Schauspieler” bleiben, unberührt vom politischen Kontext, in welchem man es ist? Kann Höfgen wirklich behaupten, nicht zu wissen, was man von ihm will, wenn er sich von dem System hat vereinnahmen lassen? Es erhebt sich aber auch die noch gewichtigere Frage: Wann erkennt man die Zeichen der Zeit? Wann wird man der Indizien gewahr, dass Schreckliches, die eigene Existenz Einfangendes, geschichtlich im Anrollen ist, letztlich schon da ist, sich aber noch verbrämt als etwas Anderes zu geben vermag? Was hätte Serenus Zeitblom bereits im Bericht über das Leben Leverkühns in den 1930er Jahren reflektieren müssen? Wie viel Stationen der Selbstverleugnung und des Wegdenkens dessen, was um ihn herum kollektiv manifest geworden ist, musste Höfgen durchmessen, eher er zu seiner infantil-erschaudernden Frage gelangt: “Was wollen sie von mir?”

Man sieht in Israel allenthalben autoritär-diktatorische Tendenzen um sich greifen

In Israel wird in letzter Zeit der Staat, der sich demokratisch wähnt, vom eigenen Premierminister zum Zerfall gebracht. Der dreifach von der Staatsanwaltschaft wegen Korruption, Betrug und Veruntreuung angeklagte Benjamin Netanjahu setzt alles ein, was in seiner Macht als Partei- und Regierungschef steht, um seinem Prozess zu entgehen. Nicht nur lässt er sich nicht einfallen zurückzutreten, sondern er unterwirft alles, was seinen Machtbefugnissen unterstellt ist, der Verfolgung seiner eigenen persönlichen Interessen, mithin dem Macht- und Herrschaftserhalt.

Eine Schar von speichelleckenden Ministern und anderen Untergebenen assistieren ihm bei seinem partikularen Unterfangen unter eklatantem Missbrauch ihrer Macht und Zuständigkeit. Eine nahezu hörige Wählerschaft verhilft ihm ein ums andere Mal zur Wiederwahl als Premier. Die Opposition, die ihm im letzten Jahr parlamentarisch erstanden ist, erwies sich als Fehlschlag – sie hat nicht nur mit dem Eintritt in seine Koalition ihre Wähler verprellt, sondern seine zum Diktatorischen neigende Macht noch verfestigt.

Die möglichen Rivalen, die ihm vielleicht eine ernsthafte Konkurrenz bieten könnten, entstammen alle dem rechten politischen Block, “Opponenten”, die ideologisch teils noch rechtsgerichteter sind als Netanjahu. Dabei ist die israelische Gewaltenteilung längst schon nur ein Schatten ihrer selbst, der Oberste Gerichtshof blutärmer denn je, die Polizei längst schon zum Hebel partikularer Machtinteressen des Regierungschefs verkommen. Unverhohlene Lügen, Verhetzung, Verleumdung und Manipulationen beherrschen den israelischen Politdiskurs. Rassismus, Araberhass und Xenophobie durchwirken Gesinnung und Rhetorik großer Teil der Massen.

Netanjahu bekämpft mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die massiven Demonstrationen der letzten Monate gegen ihn; er will sie zum Erlahmen bringen, instrumentalisiert dabei die gegen die Corona-Pandemie verfügten Maßnahmen zu diesem Zweck. Die Demonstrationen selbst wollen den Rücktritt des verhassten Netanjahu bewirken; sie befassen sich nicht mit den wesentlichen Übeln der israelischen Realität – weder mit der Okkupation der Palästinenser noch mit den großen ökonomischen Klassenklüften oder etwa dem bedrohlich anschwellenden Missverhältnis von Staat und Religion und dem vom alten Ressentiment befeuerten Hass in der Beziehung der israelischen Ethnien zueinander.

Man sieht allenthalben autoritär-diktatorische Tendenzen um sich greifen; man registriert, wie die letzten Reste dessen, was sich einst (verlogenerweise) rühmte, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein, zu Schanden kommen; man gewahrt, wie das bisschen an vermeintlicher Zivilgesellschaft, die man in Israel zu haben wähnte, rapide verrottet und verkommt. Und ich sage mir: Bei alle deinen langen historischen Studien hast du stets Struktur, Ideologie, Rhetorik und Soziologie des Faschismus im Blick gehabt und dich immer wieder gewundert – wie konnte das nur möglich sein, wie konnte man das sich anbahnende Unheil bloß so ignorant hinnehmen? Waren die Menschen so blind? Sah man wirklich nicht die Katastrophe nahen?

Und ich schaue mich um in meiner eigenen Lebenswelt und Wirklichkeit und muss mir gestehen: Das nahende Unglück beginnt kaum je mit einem heftigen Paukenschlag, kaum je sensationell. Es schleicht sich eher unauffällig heran, wahrt den Schein von Routine und Normalität – so, genau so wie in meinem eigenen Land zur Zeit entfaltet er sich, der Faschismus.

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11 Kommentare

  1. Zu großen Teilen unwillkürlich, aber nicht ausschließlich unwillkürlich, war die Israelpolitik Trumps das Beste, was eine angenommene Politik “im Interesse der Nation (Föderation) der USA” in den vergangenen 30 Jahren zustande gebracht hat: Er entließ Jerusalem aus dem virtuellen Staatsverband mit den USA, in den Kissinger es zwischen 1969 und ’74 mit List und Tücke einbrachte. Alles, was in Israel jetzt geschieht, ist mehr oder minder eine Folge davon, ob einem das gefällt, oder nicht …
    Die NATO hat sich des “Problems” in den vergangenen 10 Jahren (namentlich um den Syrienkrieg herum) schon kräftig angenommen.

  2. Das wichtigste steht nach meinem Dafürhalten oben unter dem Bild: “Eine nahezu hörige Wählerschaft verhilft ihm ein ums andereMal zur Wiederwahl.”
    Iat das nicht bei den Grünen, bei Trump, bei Biden und Co und vielen anderen ebenso der Fall? Diese Parteien oder Personen können tun und lassen was sie wollen. Sie können das Land ins Unglück rennen, Verbrechen begehen usw. Sie sind mehr und mehr zu Anführern von Sekten statt von Parteien geworden. Ich erinnere mich noch mit Vergnügen der Zeit, als der Sympathie-Vorschub der Wähler ihrer Partei, ihren obersten Genossen gegenüber sehr viel geringer war. Wenn nötig, wechselten sie die Stimme ohne Rücksicht. Hätten wir noch heute ein aufgeschlossenes Wahlvolk, dann wäre der rotgrüngelbe Spuk im Nu vorbei.
    Es scheint Schicksal der Demokratie zu sein, dass sie im Inneren immer korrupter wird, verfault, und nur noch zu einem Machtinstrument einer kleinen Elite wird – nicht anders als die Verhältnisse in einer Autokratie/Diktatur sind.
    Was dagegen zu tun ist? Man spricht von Graswurzelbewegungen, aber dazu gehört die Fähigkeit sich zu organisieren. Aber das Okkupieren oder Zerstören jeder neuen Bewegung gehört ja gerade zu den Fähigkeiten der “späten” Demokratie. Deutschland ist ein Musterbeispiel dafür, vielleicht auch Israel. Wie wir da herauskommen – ich weiß es nicht.
    Und was die Erkenntnis “Ein Land geht zugrunde” betrifft – lieber Herr Zuckermann, warum soll es Israel besser gehen als Deutschland, den USA oder sonstwem?

  3. Die Frage die – bei aller Aufarbeitung der globalen faschistischen Vergangenheit – nie gestellt wurde, obwohl sie doch nie ein Hehl daraus gemacht hat:

    Wieviel Messias und Heilslehre bzw. wieviel Religion steckt im uralten Phänomen des Faschismus???

    Gruß
    Bernie

    1. @ Bernie
      Der Faschismus wurde nie wirklich aufgearbeitet/aufgeklärt/reflektiert.
      Sonst wüsste man, dass jeglicher Dogmatismus aka Ideologien in letzter Konsequenz in ihn mündet.

      1. @chefkoch01

        Na ja, die religiöse kommunistische Ideologie mit ihrem Messias Stalin wurde bis ins kleinste untersucht, aber das Hitlers Anhänger ihn als Messias ansahen – kein Scherz – wird bis heute unter den Tisch gekehrt (das selbe gilt übrigens für Mussolini oder andere faschistische “Führer”)…..

        Eigentlich gehört das mal auf den Tisch, wie schon gesagt, da Religionen – siehe Katholische Kirche – über Jahrhunderte andauern können……und so etwas wünsche ich mir weder vom autoritären Kommunismus noch vom Faschismus/Nationalsozialismus.

        Zynische Grüße
        Bernie

  4. Die Tragweite der israelischen Politik kommt nicht von Israel, sondern wurde ihnen, wie der Staat selbst, aufgedrückt.
    Vielleicht missverstehe ich deinen Kommentar, nur der Faschismus ist letztendlich seit langem absehbar. Erinnerst du dich an eine Frau Böttcher aus dem TP Forum? Sie hatte als eine der wenigen schon damals geschrieben…
    Trump war ‘ok’, aber auch nur von ‘einer’ Kapitalfraktion.

      1. Sorry, ich steh bei Deinem Kommentar im Wald.

        “Die Tragweite der israelischen Politik kommt nicht von Israel, sondern wurde ihnen, wie der Staat selbst, aufgedrückt.”

        Wer ist da “ihnen”? “Juden”? Kenne keine Juden, bin selbst einer … ja, nein, ich unterscheide zwischen Volk und Elite, in diesem Fall zwischen einer Zionistischen Militäraristokratie und den eigenartig freiwilligen Staatsinsassen. Der Militäraristokratie ist das eigentümliche Staatswesen nicht “aufgedrückt” worden, es ist ihre Heimat, sie hat sie terroristisch herbei geschlachtet. Die praktische Integration in die US-Föderation ist eine immens blutige Angelegenheit gewesen, die in der geschehenen Form nicht so recht in ihrem Sinne gewesen ist, okay, aber von den Konflikten zwischen eigentümlichen israelischen und Föderationsinteressen hat diese Militäraristokratie bestens und üppigst gelebt – von Rabin, sein Gott hab ihn selig, abgesehen.

        Okay, es ist doof, kryptisch zu reden, aber der Gegenstand ist derart breit und kontovers …
        Nur gesagt haben wollte:
        Diese Militäraristokratie muß sich nun anders in / auf “Volk und Land” verankern, als das bis vor zwei Jahren geschehen ist, die Einbettung der Israelpolitik in Föderations- UND Imperiumspolitik der USA ist vorbei, auch wenn das sicher mancher noch nicht wahr haben will. Und darauf wird halt der politische Inhalt des Daseins und Wirkens einer Militäraristokratie unzweideutig kenntlich.

  5. @Tom 1706
    Wer ist da ihnen?
    Ja wir! Das europäische zentrale Weltbild, vom Exzeptionalismus ist seit Jahrhunderten in die “Schädel geprügelt” worden. Israel wird ‘politisch/geografisch’ zu Europa gezählt und die Nachbarn als Araber oder was auch immer bezeichnet. Nur das Weltbild verändert sich gerade und der “Faschismus” zeigt jedem wer er ist, also bleibt die Wahl beim Demos sich zu entscheiden wo dieser stehen möchte. Die Frage nach der Macht ist zentrisch, aber sie geht angeblich vom Volk aus, dann sollte man sich zusammen reißen. Damit das Volk keine Macht hat, werden diese kontinuierlich gespalten, muss das so bleiben?
    Ich lebe in einem Land das über ‘200’ verschiedene Sprachen, Kulturen, Religionen verbindet, ja es existieren Spannungen, aber trotzdem sind sie in der Lage einander zu respektieren und kommen gut miteinander aus!

    1. Pro, ich kann und will hier keinen Vortrag halten, was ein “Volk” sei und / oder nicht sei. Nur so viel: Der Begriff bezeichnet keine “Leute”, es gibt ihn, weil, insofern und so lange Angehörige von Krieger- plus Priesterkasten von ihrer eigenen oder einer fremden ökonomischen Machtquelle reden. Wenn der Begriff auf diese Weise mal in der Welt ist, verwischt er selbstredend Etymologie und Gebrauch von Begriffen wie “Stamm”, “Bund”, Schar (engl. “band”), und die altertümliche Bedeutung von “Volk” im Sinne der Bevölkerung eines iwie ausgezeichneten Landstriches, zwischen der es allerlei etablierte Verkehrsverhältnisse gibt, in erster Instanz exogame, gerät außer Gebrauch und Bewußtsein.
      Von diesem Ausgangspunkt aus kann man meine Intervention auch so formulieren: Die israelische Militäraristokratie ist im Begriff “ihr Volk” zu verlieren, nicht nur, aber nicht zum Mindesten auch deshalb, weil es für sie umständehalber zunehmend unhaltbar wird, zu ignorieren, bzw hinweg zu schlächtern, daß Israel ein arabisch / levantinischer Landstrich ist. Daß es an diesen Punkt kommen müsse, war absehbar, aber die Administration Trump hat sein Heraufkommen beschleunigt, vor allem damit, daß sie sich indolent zur Annexion des Besatzungsgebietes gestellt hat.

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