Eduard Bernstein und die sozialdemokratische Kriegsertüchtigung

Eduard Bernstein. Bild: gemeinfrei

 

Im Gefolge der reinen Lehre nach Marx-Engels können Kriege als „Geburtshelfer der Revolution“ betrachtet und Programme der Pazifisten unterschiedlichster Couleur als „Friedenswindbeuteleien“ verlästert werden (A. Klönne: „Die deutsche Arbeiterbewegung vor 1914 …“; W. Wette: Militarismus in Deutschland). Erst wenn der Kapitalismus auf dem ganzen Erdkreis überwunden sei, ließe sich der Völkerfrieden denken … Aufgrund solcher Anschauungen, an denen die Internationale im ‚langen 19. Jahrhundert‘ aber mehrheitlich nicht kleben blieb, kam es zu fürchterlichen Verirrungen.

Namentlich in der sich weltweit als führend dünkenden deutschen Sozialdemokratie konnte eine ursprüngliche Fundamentalopposition zum preußisch-deutschen Militarismus, der die Welt dann zweimal in Brand setzen wird, nicht zum Zuge kommen. Bürgerliche Nonkonformisten, die den Namen „linksliberal“ wirklich verdienten, oder „Tolstojaner“ mussten weithin die Leerstellen ausfüllen.

Innerhalb jener SPD-Kreise, die als Leitgestalten „wehrfreudige“ Patrioten wie Friedrich Ebert oder Gustav Noske aufs Podium setzten, brachte man es gar fertig, mit orthodoxen „marxistischen Argumenten“ den Internationalismus und das bahnbrechende Konzept des Antikriegsstreiks (nebst Wehrdienstverweigerung) abzutun – und später gar den deutschen „Kriegssozialismus“ der Militärdiktatur im Hohenzollernreich gleichsam als Meilenstein auf dem Weg zur Befreiung der Arbeiter zu würdigen.

Karl Liebknecht und der führende „Revisionist“

Für eine linke Kritik wider die „nationalmilitärische Loyalität der deutschen Sozialdemokratie“ steht vor allem Karl Liebknecht ein, der aber – wie Arno Klönne vermerkt – in seiner Schrift „Militarismus und Antimilitarismus“ (1907) „eher moralisch als ‚marxistisch‘“ argumentiert. Als die Mächtigen des ‚preußenfreundlichen SPD-Komplexes‘ sich 1914 anschicken, einem System zu Diensten zu sein, das hunderttausende Arbeiter in die Massengräber des Weltkrieges hineintreibt, kommt es zu Besinnung und Widerspruch noch in einem ganz anderen Lager: Ausgerechnet Eduard Bernstein (1850-1932), der geschmähte Vordenker der Revisionisten und Verfasser bedenklicher kolonialpolitischer Texte, durchschaut sehr bald die Kriegslüge der herrschenden Klasse im Kaiserreich, die sich u.a. die tradierte Russophobie innerhalb der Sozialdemokratie zunutze gemacht hat.

Von nun an wird er sich der von oben diktierten Parteidisziplin nicht mehr beugen. Ein tief verankerter Humanismus und Abscheu vor dem Krieg lassen diesen entschiedenen Demokraten zur Lichtgestalt in der deutschen Friedensbewegung werden. Im Kreis der von ihm mitbegründeten Unabhängigen Sozialdemokratie (USPD) lernt er, der Revisionist, Karl Liebknecht schätzen. Für wenige Jahre wird das Modell einer auch von Herzlichkeit getragenen linken Pluralität ansichtig, ohne die ein Widerstand gegen das Monopol der Kriegsertüchtiger gar nicht vorstellbar ist.

Frühe Anwaltschaft für verfolgte Minderheiten

Eduard Bernstein hat – im Gegensatz zu nicht wenigen Genossen – seine Prägungen in einem jüdischen Elternhaus wiederholt thematisiert. 1902 und 1903 sah er sich auch aufgrund seiner Herkunft berufen, über die Verfolgung von Juden in Rumänien und im Zarenreich aufzuklären. Doch die Solidarität galt allen Unterdrückten und Verfolgten, wie u. a. seine wegweisende Rede „Die Leiden des armenischen Volkes und die Pflichten Europas“ (1902) zeigt.

Noch weitere Anwälte des universellen Menschenrechts aus jüdischen Familien haben sich vor dem Zweiten Weltkrieg von der Leidensgeschichte der Armenier zutiefst berühren lassen, zunächst schon 1902 Bernsteins Genosse Georg Gradnauer (1866-1946). Der polnische Friedensforscher Raphael Lemkin (1900-1959) wurde Jurist und Wegbereiter des internationalen Rechts wider Genozid, weil ihn die Nachgeschichte des – mit deutscher ‚Duldung‘ durchgeführten – Völkermords an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges schon in jungen Jahren um den Schlaf brachte. Der jüdische Pazifist und Dichter Franz Werfel (1890-1945) rüttelte die Öffentlichkeit auf mit seinem historischen Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ (1933).

Votum für eine Partei des Friedens: „Wir sind eingeseift worden!“

Schon in seinem – kritikwürdigen – revisionistischen Werk „Sozialdemokratie und Imperialismus“ (1900) schreibt Bernstein: „Die Socialdemokratie ist in eminentem Sinne eine Partei des Friedens, sie würde einer ihrer vornehmsten Aufgaben untreu werden, wenn sie darauf verzichtete, Hüterin des Friedens und des Vertrauens der Völker zu einander zu sein.“

Im Jahr 1911 plädiert er auf dem Jenaer SPD-Parteitag „für eine Verpflichtung der Reichsregierung, ‚in Fällen internationaler Verwickelungen den Reichstag einzuberufen‘ und ihn über diplomatische Verhandlungen zu berichten“ (Y. Rubovitch: Eduard Bernstein, 2019).

Schon vor 1914 steht der Sozialdemokrat in Verbindung mit der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG), begründet von dem ebenfalls aus einer jüdischen Familie stammenden Alfred Hermann Fried (1864-1921); er warnt u.a. 1912 in der ‚Friedens-Warte‘ vor den Erzeugern einer gefährlichen Kriegsstimmung. Spätestens ab 1915 ist Bernstein selbst prominenter Akteur des organisierten Pazifismus.

Seine Texte des Jahres 1914 zeigen zunächst noch Nähe zum Kurs des „Burgfriedens“, weisen hin auf den sich früh formierenden deutschen Annexionismus und bieten einen internationalen Überblick zu Kriegs-/Friedens-Diskursen im sozialistischen Lager.

Helmut Donat vermerkt zur Wandlung:

„Eduard Bernstein scheute sich nie, unpopuläre Ansichten klar und deutlich zu vertreten oder Irrtümer öffentlich einzugestehen. Zunächst der allgemeinen Kriegsbegeisterung erlegen, bezeichnete er später den 4. August 1914 als den ‚schwärzesten Tag seines Lebens‘. Obwohl er sich mit dieser Haltung selbst in sozialdemokratischen Kreisen keine Freunde machte, war die Erkenntnis, dass die deutsche Regierung in hohem Maße für den Ersten Weltkrieg verantwortlich war, für sein weiteres Handeln von überragender Bedeutung. Er fühlte sich von dem Regierungspersonal hintergangen und betrogen, auch von der eigenen Partei, die sich auf die Seite der herrschenden Kreise geschlagen und mit dem ‚System‘, dem sie eigentlich keinen Groschen bewilligen wollte, einen ‚Burgfrieden‘ geschlossen hatte. […] Bereits Anfang September 1914 erklärte er: ‚Die deutsche Regierung ist die Hauptschuldige am Kriege, wir sind eingeseift worden, die Bewilligung der [Kriegs-]Kredite war ein Fehler‘.“ (Essay im neuen Bernstein-Band „Der Friede ist das kostbarste Gut“)

Am 19. Juni 1915 veröffentlichen Eduard Bernstein, Hugo Haase und Karl Kautsky ihren – vom SPD-Vorstand mit Starrsinn abgewiesenen – Aufruf „Das Gebot der Stunde“: „Nachdem die Eroberungspläne vor aller Welt offenkundig sind, hat die Sozialdemokratie die volle Freiheit, ihren gegensätzlichen Standpunkt in nachdrücklichster Weise geltend zu machen, und die gegebene Situation macht aus der Freiheit eine Pflicht.“ Seinen Dissens bringt Bernstein auch in „Leitsätzen zur Friedensfrage“ vom August 1915 zu Papier.

Antisemitische Ausfälle und SPD-Fraktionsspaltung 1916

Im März 1916 kommt es zu antisemitischen Ausfällen nach der Friedensrede von Hugo Haase im Parlament. Der ungehorsame Sozialdemokrat, so schreibt Yuval Rubovitch (2022), „wurde er nicht nur von dem SPD-Abgeordneten Wilhelm Keil als ‚Verräter‘ bezeichnet. Auch Mitglieder der Fortschrittlichen Volkspartei versuchten ihn antijüdisch zu diffamieren: ‚Wieder mal ein Jude, ein Jude, was wollen denn die Juden hier? Bravo Keil!‘“

Die SPD-Fraktion schließt siebzehn kriegsgegnerische Abgeordnete aus ihren Reihen aus, die daraufhin eine eigene „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ (SAG) bilden. Ungehorsame Parlamentarier mit ‚jüdischem Familienhintergrund‘, die der Arbeitsgemeinschaft angehören, sind Eduard Bernstein (1850-1932), Oskar Cohn (1869-1934), Hugo Haase (1863-1919), Joseph Herzfeld (1853-1939), Arthur Stadthagen (1857-1917) und Emanuel Wurm (1857-1920).

Ludger Heid (Hrsg. „Ich bin der Letzte, der dazu schweigt“, 2004) konstatiert: „Jüdische Abgeordnete der Sozialdemokratie sind während des Weltkrieges in weit größerer Zahl als nichtjüdische Fraktionsmitglieder von der offiziellen Parteipolitik abgewichen. Fast zwei Drittel lehnten nach und nach die Kriegskredite ab, mehr als die Hälfte trennte sich 1917 von der alten sozialdemokratischen Fraktion und gründete eine neue linke Partei. Fast ein Drittel der neuen, zwanzig Mann starken Fraktion der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bestand aus Juden.“

Die Abweichler sahen sich in der eigenen Partei – auch zuvor schon – mit judenfeindlichen Haltungen konfrontiert: „innerhalb des ‚David-Kreises‘ waren antisemitische Äußerungen hinter vorgehaltener Hand oder gar im Plenarsaal des Reichstages unüberhörbar: Etwa die Zwischenrufe der SPD-Abgeordneten und führenden Gewerkschaftsfunktionäre Gustav Bauer und Carl Legien, die dem Fraktionskollegen Hugo Haase in einer turbulenten Reichstagssitzung im März 1916 drohten, mit der ‚Judenbande‘ müsse ‚Schicht‘ gemacht werden und die ‚Judenjungen‘ müssten aus der Fraktion“ (L. Heid, 2004).

„Überschätzte Friedensmächte“ (1915)

Im Juni 1915 hatte Bernstein in der ‚Friedens-Warte‘ seinen Aufsatz „Überschätzte Friedensmächte“ veröffentlicht. Darin spricht der Verfasser über Enttäuschungen, weil erhoffte Friedenspotenzen der ‚schwarzen Internationale‘ (katholische Weltkirche), der sozialistischen Internationale und des als übernational betrachteten Judentums sich leider als Trugschluss erwiesen haben.

Es „wetteiferte schon in den Sommermonaten 1914 der größte Teil der deutschen Judenheit mit dem antisemitischen Alldeutschtum darin, England als den vor allem zu vernichtenden Feind hinzustellen … und in Annexionsplänen, deren Ausführung Verrat an Europa und dem zukünftigen Weltfrieden wäre, wetteiferten ebenfalls Juden mit den waschechtesten christlichen Germanen. … Diese Juden haben aufgehört, im politischen Sinne in solcher Weise menschheitlich zu empfinden, wie ihr Ursprung es ihnen einprägen müßte.“ Die lange als ‚vaterlandslose Gesellen‘ verhetzten Juden (oder Katholiken) üben sich im Hypernationalismus …

„Aufgaben der Juden im Weltkriege“ (1917)

Diese einseitige frühe Sicht fiel freilich zu pessimistisch aus. Frauen und Männer aus jüdischen Familien, die nach anfänglichen Beweisen ihrer ‚Vaterlandstreue‘ das Verbrechen des Weltkrieges klar durchschauten, waren ja in Politik, Wissenschaft, Philosophie, Kunst oder Literatur ähnlich überproportional vertreten wie in der abgespaltenen Gruppe der friedliebenden SPD-Parlamentarier.

Woher stammten diese ausgeprägte Abscheu vor dem Krieg und die Affinität zu Kants ‚Ewigem Frieden‘? Standen im Hintergrund die der Einen Menschheit geltenden Friedensbotschaften der hebräischen Bibel und des rabbinischen Judentums? Oder die so bedrückenden eigenen Gewalterfahrungen von Juden auf dem ganzen Erdkreis? Oder ein übernationales Verwandtschaftsgefüge, die intellektuelle Wachheit der einstmals noch stärker unterdrückten Minderheit (jüdische Aufklärung, Reformjudentum, Philosophie, Demokratengeist und Sozialismus), ein sich u. a. auch in mannigfachen Sprachkompetenzen ausdrückender Kosmopolitismus …?

Bernstein skizziert in seiner 1917 veröffentlichten Schrift „Die Aufgaben der Juden im Weltkriege“ eigene Deutungen:

„Als … die ständischen Verfassungen fielen und namentlich als die Ideen der großen französischen Revolution ihren Siegesmarsch durch die Welt nahmen, begann auch für die Juden die Zeit der Teilnahme am öffentlichen Leben. […] Mit Begeisterung ergriffen die Intellektuellen des Judentums die Ideen der politischen Freiheit und des Weltbürgertums, von denen sie die politische Emanzipation und die soziale wie geistige Hebung der großen Masse ihrer Stammesangehörigen erhoffen zu können glaubten. […]

Nicht die nationale oder ethnologische Wurzellosigkeit machen den Weltbürger, sondern das mit einem bestimmten Pflichtbewusstsein verbundene Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der großen Völkerfamilie, die den geistigen Kosmos unseres Planeten bildet. […] Nicht, weil sie die Gewalt nicht ausüben können […], sondern auf Grund der Geschichte ihres Volkes sind die Juden die geborenen Pazifisten. Ihre Geschichte weist ihnen die Aufgabe zu, das zu pflegen, was die Völker verbindet, und dem entgegenzuwirken, was sie trennt und Hass zwischen ihnen säet. Sie befähigt sie und gebietet ihnen, die Kämpfe der Zeit in ihrem großen Zusammenhange zu erfassen, nach deren Endresultat für das Zusammenleben der Gesamtheit der Kulturwelt zu fragen und der Antwort gemäß ihre Stellung zu bestimmen. […]

Und noch eine zweite Erinnerung verweist den Juden an die Seite derer, die Mittler der Nationen zu sein streben. Es ist der innere Zusammenhang der sozialen Befreiungsbewegungen unserer Zeit mit den Bewegungen für die allseitige Durchführung des Gedankens der Verbundenheit der Völker in der Gegenwart. Braucht es noch einer besonderen Darlegung, um erkennen zu lassen, warum der Jude, unbekümmert um seine persönliche Klassenlage, seine privaten materiellen Interessen, jenen sozialen Befreiungsbewegungen nicht fremd und teilnahmslos gegenüber stehen darf? Das Hauptgebet der jüdischen Religion enthält den Satz, der, in seiner vollen Bedeutung erfasst, das kategorische Pflichtgebot für den Juden ausdrückt, für sie mit größter Hingebung einzutreten und in ihrem Sinne als Mittler der Völker sich zu betätigen: Gedenke, dass du ein Knecht warst in Ägypten!“

Spießrutenlauf und „Talmudschelte“ auf dem SPD-Parteitag 1919

Im Juni 1919 fand in Weimar ein Parteitag der (Mehrheits-)SPD statt. Aus der Basis waren heftige Anklagen wider den rechts-sozialdemokratischen „Pistolenschuss“-Politiker Gustav Noske laut geworden, doch der Reichswehrminister sah keinerlei Anlass zu einer Selbstrechtfertigung und konnte sich von der Mehrheit seiner Genossen geradezu feiern lassen (W. Wette: Gustav Noske, 1987). Ganz anders erging es Eduard Bernstein, der trotz bestehender USPD-Mitgliedschaft am 23.12.1918 auch der MSPD wieder beigetreten war, um die Spaltung zu überwinden, und ein Referat zur Außenpolitik übernommen hatte.

Die meisten SPD-Delegierten wollten von Kritik am „Burgfrieden“-Kurs der Partei ab 1914, von deutscher Kriegsschuld und von „Notwendigkeiten“ des harten Friedensvertrages nichts hören. Eduard Bernstein musste während seiner Rede und in der sich anschließenden Aussprache ein regelrechtes Spießrutenlaufen absolvieren. Gustav Scheidemann klagte z.B., er trete den Feinden Deutschlands wie ein Engel gegenüber, während er das eigene Land scharf richte.

Mehr noch, auf dem SPD-Parteitag 1919 kam – passend zum deutschen Zeitgeist – wieder die anti-intellektuelle und anti-pazifistische Judenfeindschaft zum Durchbruch. Bernstein war einiges gewohnt.  – Schon Anfang 1873 hatte der Sauerländer Carl Wilhelm Tölcke, bis heute gefeiert als maßgeblicher Gründer der westfälischen SPD, ihn im Parteiblatt ‚Neuer Sozialdemokrat‘ mit „Jüdchen“ tituliert. – Jetzt attackierte Adolf Braun (1862-1929), der selbst aus einer jüdischen Familie stammte, unter lebhaftem Beifall wie folgt den Redner:

„Genosse Bernstein, Sie müssen uns schon gestatten, dass wir Ihnen jetzt einmal ganz offen sagen, was wir von der Art Ihres Wesens denken. Sie müssen einmal hören, dass wir Ihnen in der talmudischen Methode Ihrer Politik nicht folgen können.“

Hermann Müller „fuhr auf diesem Niveau fort: Man dürfe ‚eben nicht alle Dinge unter dem Gesichtspunkte des Rabbiners von Minsk behandeln‘, Bernstein komme daher wie ein ‚Hosenhändler‘, wenn er [hinsichtlich der ‚Notwendigkeiten‘ im Versailler Vertrag] zunächst von neun und dann von acht Zehnteln spreche. David machte sich über Bernsteins internationalistische Emphase lustig. – Der Genosse Kummer aus Leipzig verglich ihn mit [dem ermordeten jüdischen Politiker] Kurt Eisner, auf dessen Grab geschrieben werden müsse: ‚Er litt arg am Wahrheitsfimmel‘.“ (Teresa Löwe: Der Politiker Eduard Bernstein. Bonn 2000)

Kriegsschuldfrage 1930

Bis in seine letzten Lebensjahre hinein hat sich Eduard Bernstein mit den Ursachen und Urhebern des Ersten Weltkrieges auseinandergesetzt. In seinem Aufsatz „Der Sinn der Kriegsschuldfrage“ vom März 1930 nimmt der Vordenker des Revisionismus – trotz oder gerade wegen der gegen Ende der Weimarer Republik wieder erstarkten deutschen Militärreligion – kein Blatt vor den Mund und zitiert eine bittere Wahrheit aus Karl Kautskys Schrift „Wie der Weltkrieg entstand“ von 1919:

„Hätte das deutsche Proletariat vom wirklichen Stand der Dinge eine Ahnung gehabt, hätte es gewusst, dass das ‚verbrecherische Treiben der Kriegshetzer‘ ein abgekartetes Spiel zwischen Wien und Berlin war … Die deutsche Sozialdemokratie konnte den Weltfrieden retten. Ihr Ansehen und damit das des deutschen Volkes in der Welt wäre unendlich gewachsen durch die Niederlage, die sie der kriegerischen deutschen Regierung bereitete.“

Späte Annäherung an den „Arbeiter-Zionismus“

In seinem letzten Lebensjahrzehnt äußerte sich Bernstein zunehmend freundlicher zum linken ‚Arbeiter-Zionismus‘, was im übrigen seiner Neigung entsprach, sich bei Erstarken von Antisemitismus immer noch stärker in der Öffentlichkeit mit einer ‚jüdischen Sache‘ zu solidarisieren. Zur diesbezüglichen Zionismus-Kontroverse mit seinem Freund Karl Kautsky sagte er Anfang 1930: „Ich habe […] den Standpunkt vertreten, dass die Juden eine Heimstätte haben müssten, dass diese Heimstätte aber niemals nationalistisch und völkisch aufgezogen werden dürfe […] eine Heimstätte, die wirklich auch eine Heimstätte sei und der jeder nationalistische Beigeschmack fehlt.“

Die ‚Liga für das arbeitende Palästina‘ überreichte Bernstein zum 81. Geburtstag 1931 eine ehrende Urkunde; dieser hatte schon 1928 dem „einem sozialistischen Geist verpflichteten“ Programm der Liga, das „auch die nationale Integrität der arabischen Bevölkerung zu achten versprach“, seine Zustimmung ausgesprochen. In der Debatte des Jahres 1929 betonte der Sozialdemokrat, der zionistischen Bewegung gehe es nicht um die Umwandlung Palästinas in „einen nationalistisch konstruierten jüdischen Staat“ oder darum, „die Araber bzw. die Moslems … aus Palästina zu verdrängen“.

 

 

Alle notwendigen Literaturhinweise und Zitatbelege zu diesem Text enthält das Nachwort des folgenden Bandes:

Eduard Bernstein: Der Friede ist das kostbarste Gut. Schriften zum Ersten Weltkrieg. Mit einem Essay von Helmut Donat. Herausgegeben von Peter Bürger. (= edition pace | Regal: Pazifisten & Antimilitaristen aus jüdischen Familien, 5). Norderstedt: BoD 2024.
(ISBN: 978-3-7693-1268-3; Paperback; 353 Seiten; 14,99 €). Inhaltsverzeichnis und Leseprobe auf der Verlagsplattform.

 

 

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11 Kommentare

  1. Bei Artikeln von Peter Bürger weiss ich meistens erst einmal nicht so genau, was ich davon halten soll, deshalb freue ich mich auf jeden neuen Beitrag von ihm. Gibt meistens Stoff zum Nachforschen.

  2. Wie die aktuellen Gegebenheiten zeigen, schützt jüdische Religiosität leider nicht vor bellizistischer Gesinnung. Ansonsten weiss ich wenig mit diesem Artikel anzufangen. Dass die SPD immer wieder versagt hat, wenns um Nationalismus und Krieg ging, ist ja nun längst sattsam bekannt.

  3. Er meint, die Sozialdemokratie hätte den Krieg verhindern können? Sie hat vor Kriegsbeginn massiv dagegen protestiert. Dann aber an jenem 4. August, waren schon Tatsachen geschaffen. Deutschland hatte Russland am 1. und Frankreich am 3. August den Krieg erklärt. Hätte nun die SPD am 4. den Kredit verweigert, dann hätte es geheißen, die SPD sei schuld an toten Soldaten.
    Beziehungsweise es wäre dann das gekommen, was später ohnehin kam. Deutschland wurde zur Militärdiktatur unter Ludendorff und Hindenburg, in der weder Parlament noch Kaiser etwas zu sagen hatten.
    Bedauerlich aber die Militarisierung der SPD, die dann einen Noske hervorbrachte. Aus heutiger Sicht nicht zu rechtfertigen.
    Was würde Bernstein heute sagen? Zur Ukraine? Er würde sagen, dass die SPD spätestens ab 2014 hätte wissen müssen, was kommt. 2022 war es zu spät.

    1. …tja, so sind halt die Leute, die genau wissen, was die Toten in der heutigen Situation (die angeblich vergleichbar wäre – in was eigentlich?) sagen würden. Selbstredend stützt das die “eigene” Position.
      Diagnose: Selbstgefälligkeit, Hang zu Vereinfachungen bis zu Tatsachenverdrehungen, Neigung zu Demagogie
      Heilmittel: Analytische Genauigkeit

      Ich empfehle hier Rosa Luxemburg, die, kurz ausgedrückt, den Krieg auf die imperialistische Konkurrenz zurückführte und jede Stärkung des Imperialismus mitsamt Militarismus ablehnte. Heute noch sehr erhellend, was den Zusammenhang zwischen kapitalistisch-imperialer Expansion, imperialer Konkurrenz und Krieg anbetrifft.
      (“Akkumulation des Kapitals” und “Einführung in die Nationalökonomie”).

  4. Naja und? Die paar Personen die in der SPD eine gewisse Standhaftigkeit gezeigt haben, sind entweder vertrieben, ignoriert oder ermordet worden. Von jener SPD. Oder wie soll man das mit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verstehen? Gerade weil Liebknecht moralisch argumentiert hat, war er eine weit grössere Gefahr als ein Bernstein.

    An der SPD ist nichts was mit sozial oder Demokratie zu tun hat. Ein Honey Pot für jene die die Realität meisterhaft ausblenden können und sich an Werbeaussagen delektieren. Weder Sozial noch Demokratie sind eine Gefahr. Die SPD dagegen schon. Der Abwracker der jedesmal die Steilvorlage für Kriegsertüchtigung liefert.

    Zumindest muss man diesen rücksichtslosen Verführern zu Gute halten, dass sie es geschafft haben einen korrupten und “vergesslichen” CumEx Kanzler zu stellen, dessen Verfehlungen vorher bekannt waren. Das muss man erstmal hinkriegen. Allerdings ist das mit der fortschreitenden Verblödung der Massen auch leichter geworden.

  5. Die, im ersten Absatz erfolgte Aussage ist die entscheidende Passage des ganzen Textes: “Erst wenn der Kapitalismus auf dem ganzen Erdkreis überwunden sei, ließe sich der Völkerfrieden denken… “!
    Das hat mein Vater auch immer gesagt, was ohne Zweifel einer der Hauptgründe war, warum er enterbt wurde,

  6. @”Im Gefolge der reinen Lehre nach Marx-Engels können Kriege als „Geburtshelfer der Revolution“ betrachtet und Programme der Pazifisten unterschiedlichster Couleur als „Friedenswindbeuteleien“ verlästert werden”

    Während oder nach einem Atomkrieg wird keine Revolution mehr möglich sein.

  7. Gut, dass hier mal eine kritische Sichtweise gegenüber der Rolle Deutschlands und dem Marxismus vertreten wird.

    Anfangs war Marx übrigens nicht für, sondern gegen den Kommunismus, insbesondere in Deutschland, das in Sachen Kapitalismus hinterherhinkte. Die Arbeiter, die die Industrialisierung selbst in die Hand nehmen wollten, bekämpfte er.

    Erich Mühsam fand den treffenden Begriff des Bismarxismus:
    https://www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/erich-muehsam/161-erich-muehsam-bismarxismus

    Nicht vergessen werden sollte, dass die Oktober-Revolution in Russland mit zweistelligen Millionenbeträgen von Deutschland finanziert wurde.

    https://www1.ku.de/ZIMOS/forum/docs/Parvus.html

    Heute ist belegt, was Eduard Bernstein damals nur aus Gerüchten gehört hatte:

    Eduard Bernstein 1921 im Vorwärts:
    https://collections.fes.de/historische-presse/periodical/zoom/125094
    https://collections.fes.de/historische-presse/periodical/zoom/125179
    https://collections.fes.de/historische-presse/periodical/zoom/125385

    1. Danke für den Link zum Thema Alexander Parvus. Den Kern der Geschichte kannte ich zwar, aber nicht alle Einzelheiten. Da gibt es ja schon einiges das eine Bezug zur Gegenwart hat…Großkonflikte wie Ukraine/Rußland und im Nahen Osten begannen vor über 100 Jahren. Das lässt sich zeithistorisch gut belegen. Dieser Text gehört als Quelöle unbedingt dazu.
      Beste Grüße
      Kowolski

  8. mit dem Krieg ist es wie mit Waldbränden.
    Im gerecht scheinenden Bemühen, die Aggression, den gewaltsamen Kampf um Interessen zu unterbinden, schaffen wir die Bühne für den grossen Showdown.
    Wer die “kleinen” Brände nicht zulässt, der schafft mit Sicherheit den “grossen” Brand!

    je friedfertiger und konfliktscheuer wir die Menschen in der Gesellschaft pressen, desto unruhiger und unberechenbarer laufen sie im Käfig der repressiven Toleranz herum.

    Die Entladung völlig natürlicher gesellschaftlicher Prozesse schockiert uns nur, weil wir unsere Natur verleugnen, und uns in theoretisierende Weltanschauungen geflüchtet haben.

    welcher junge Mensch( von Männern will ich besser gar nicht reden) kann sich heute noch ausprobieren?

    welcher Sesselpupser in Ordnungsämtern, Schulamt, Sozialamt, vor Gericht und Staatsanwaltschaft, und schlimmstenfalls der Schulkonferenz kann denn den ” Menschen” noch sehen, fühlen, geschweige denn begreifen?

    wenn wir in unserem Alltag nichts mehr “ertragen” können, geschehen lassen können, ohne unsere Eitelkeiten beleidigt, unsere Gewohnheitsrechte verletzt zu sehen, und unsere narzistischen Verletzungen als legitimen Kriegsgrund gegen jedermann zu rechtfertigen, wie wollen wir dann ernsthaft über die Verhinderung eines Krieges diskutieren?

    versuchen wir es vielleicht erstmal mit moralischer Entwaffnung, machen die berechtigten Interessen des Gegenüber wieder sichtbar, und rauchen eine Friedenspfeifen!

    zur Entschleunigung und Schärfung des Realitätssinnes empfehle ich die Lektüre des Buches ” so zärtlich war Sulaiken” von Friedrich Lenz.

    für die Jüngeren Leser, keine bange, ist nichts sexuelles!

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