„Ist das jetzt so eine Christus-Nummer?“ fragt mich ein junger Kerl, als ich, ein großes Plakat mit „12 Geboten für den Frieden“ um den Hals, am Montag Abend durch Darmstadt-Arheilgen laufe. Wir sind wenige. Ein Monteur aus Berlin, ein Meister, ein Gewerbelehrer im Ruhestand und noch einige andere. Ein emeritierter Mathematik-Professor hält die weiße Fahne hoch.
„Leistet passiven Widerstand, Widerstand wo immer ihr auch seid, verhindert das Weiterlaufen dieser Kriegsmaschinerie, ehe es zu spät ist“, sagte 1983 Petra Kelly, eine der Gründerinnen der „Grünen“.[1] Sie ist tot, so wie Rudi Dutschke und Antje Vollmer; ihre Partei singt jetzt für die Waffenlobby. Die Friedensbewegung hat den Löffel abgegeben und Alexander Gauland, Walter Wallmanns ehemaliger Staatssekretär, der durch Schüren übler Ressentiments seine neue Partei groß gemacht hat, hält im Bundestag Reden zum Ukraine-Krieg [2], die früher Willy Brandt gehalten hätte. Ich verstehe die Welt nicht mehr.
„Wie hast du es angestellt, dass du noch am Leben bist?“ Das fragt einer, dem das Bein weg geschossen worden ist, einen Kameraden, der auf Fronturlaub ist und ihn besucht. Es ist eine Szene aus Giulia Ciminitos Roman „Ein Tag wird kommen“ [3] über das Schicksal bettelarmer, den Padres und Padrones völlig ausgelieferter Dörfler im Hinterland der Adria in der Nähe von Senigallia in der Zeit von 1900 bis 1920. Genau dort habe ich als Kind mit den Eltern fröhlich am Strand gespielt und zum ersten Mal das Meer gesehen.
Anfang 1945 war mein Vater als Nachzügler auf dem Weg an die Ostfront. Um zu seiner Einheit zu gelangen, musste er einen Fluss überqueren, der wegen Hochwasser zu einem reißenden Strom geworden war. Von der Brücke war nur der oberste Teil des Geländers zu sehen. Mit dem für ihn so typischen nüchternen Sarkasmus schilderte er seine Lage: „Als ich so allein dastand, dachte ich bei mir: Wenn mich jetzt die Flut mitreißt, werde ich auch einer von denen sein, die für Führer, Volk und Vaterland gestorben sind.“
Keine Heldentaten, sondern hoffnungslose Verlorenheit im Mahlstrom des Krieges wartet auf den einfachen Soldaten. Deshalb hält man den Leuten hehre Ziele vor die Nase wie einem Esel die Karotte, wenn es in Wahrheit „ein bisschen um jene vulgäre Materie, die man Geld nennt,“ geht [4] (Heinrich Böll).
Auch die Dämonisierung des Gegners gehört seit jeher zum Repertoire, wenn man „die Hunde des Krieges von der Leine lassen“ will. [5] Wie vor tausend Jahren rufen die Kriegstreiber den armen Teufeln aus sicherer Entfernung zu: „Euer Friede sei ein Sieg.“ [6] „Ecce homines!“ Mitbürger! Schaut auf diese Menschen! Schaut auf die Menschen, die auf dem Schlachtfeld in Blut, Schmerz und Dreck krepieren! Ein feister US-Senator sagt zufrieden lächelnd, der Ukraine-Krieg sei das beste Investment, das die USA je gemacht hätten („the best money we’ve ever spent“). [7] Für einen ukrainischen Landser ist das wie der Essig-Bausch, den man dem sterbenden Jesus am Kreuz ins Gesicht gedrückt hat.
Als wir zurück in der Ortsmitte sind, betrachtet ein Vater mit seinen zwei kleinen Kindern die selbstgemalten Plakate, die einer von uns am Löwenbrunnen abgestellt hat. Er ist Moslem. „Ohne Gott gibt es keine Bremse“, sagt er. Ich stimme ihm zu, aber im Nachhinein zweifle ich. Ist es nicht gerade der Glaube an die gute Sache, der die Menschen seit jeher zu den barbarischsten Grausamkeiten verleitet hat, lautstark angefeuert von braven Bürgern, die begeistert ihre Fahnen schwenken, so dass sich der verstörte Chronist fragt: „Ecce! Homines sunt?“ Seht sie euch an! Sind das wirklich Menschen? Wo ist die fühlende Brust, die unter all diesen „Larven“ [8] dem grausamen Spiel endlich ein Ende bereitet und anfängt zu verhandeln, solange es noch etwas zum Verhandeln gibt?
Quellen:
[1] Kelly, Petra (1983) Leistet passiven Widerstand. In: Klaus Staeck (Hrsg.) Verteidigt die Republik, S. 109. Steidl Verlag: Göttingen.
[2] Gauland, Alexander (9.2.2023) Redebeitrag zur Bundestagsdebatte zum Antrag der Abgeordneten Dr. Alexander Gauland, Tino Chrupalla, Matthias Moosdorf, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Deutschlands Verantwortung für Frieden in Europa gerecht werden – Eine Friedensinitiative mit Sicherheitsgarantien für die Ukraine und Russland (Tagesordnungspunkt 9) Seite 10104C. Sowie als Video: Minute 0:50 – 4:40 Phoenix Digitale Medien: Bonn.
[3] Ciminito, Giulia (2020). Ein Tag wird kommen. S192. Übersetzt von Barbara Kleiner. Wagenbach: Berlin. Originalausgabe: Un giorno verra. (2019). Bompiani editore: Milano.
[4] Böll, Heinrich (1983). Ein paar Worte nur über ein paar Wörter, die ich in ihrer Wörtlichkeit beim Wort zu nehmen versuche. S. 19. Quelle wie [1]
[5] Shakespeare, William (1599) Julius Caesar. 3. Akt, 1. Szene. L.L. Schücking (Hrsg.) (1995) William Shakespeare Gesamtwerk, Englisch und Deutsch (Übersetzung von A.W. von Schlegel) 3. Band S. 384/385. Originaltext: „and let slip the dogs of war“ (von Schlegel übersetzt: „und des Krieges Hund entfesseln“. Es wurde eine eigene Übersetzung gewählt, um dem Bild des englischen Originals möglichst nahe zu kommen. Weltbild Verlag in Lizenz von Tempel-Verlag Darmstadt.
[6] Nietzsche, Friedrich (1883) Vom Krieg und Kriegsvolke. In: Also sprach Zarathustra.
Karl Schlechta (Hrsg.) (1955) Friedrich Nietzsche Werke in 3 Bänden 2. Band, S. 312. Carl Hanser: München.
[7] Graham, Lindsey (29.5.2023) zitiert nach Reuters: “Dismissing Russian criticism, U.S. Senator Graham praises Ukrainian resistance”. Wortlaut im Original: “the best money we’ve ever spent”. Thomson Reuters: New York (Video).
[8] Schiller, Friedrich (1797) Der Taucher. In Paul Stapf (Hrsg.) (1967) Schiller Werke. Bd II Gedichte, S. 196. Tempel Verlag: Darmstadt.
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“wie der Essig-Bausch”
Ich empfehle dem Autor einen echten Ausdauersport – es muss nicht Kreuzigung sein, es wäre auch ein Halbmarathon o.Ä. an einem warmen Tag ausreichend – und dann soll er nach dem Sport, dem Duschen, dem Stillen des Durstes und des Hungers, wenn er immer noch ein seltsames Bedürfnis verspürt und nicht weiß warum, ein Stück Brot in die Salatschüssel mit dem Rest von Essig-Salz-Dressing tunken und kosten.
Den Kriegsversehrten an Körper und Seele wird aber auch das nicht helfen.
Ich habe gelernt, jedem Glauben und jeden Ideologien, die mit einem unhinterfragbaren Absolutheitsanspruch auftreten, grundsätzlich zu misstrauen. Will man menschlich handeln, muss allein der Mensch zählen und keine dubiosen Glaubenssätze und hohlen Phrasen.
“Ein feister US-Senator sagt zufrieden lächelnd, der Ukraine-Krieg sei das beste Investment, das die USA je gemacht hätten („the best money we’ve ever spent“). [7]” !
Bleiben wir doch im Lande. Eine deutsche Aussenministerin verkündete vor Kurzem bei ihrem Besuch in Kiew, die Ukrainer kämpfen mit “Löwenmut”. Was bleibt ihnen auch anderes übrig. Mit Artilleriegranaten können sie ja nicht kämpfen, weil die, die diesen Krieg nicht beenden wollen, sie nicht liefern können.
‘die Ukrainer kämpfen mit „Löwenmut“’
Die deutschen Imbissstubenbetreiber kämpfen mit Löwensenf.
Sagt’s, und stürzt sich prompt
Nochmal hinunter auf Leben und Sterben,
um einen gar köstlichen Preis zu erwerben.
Seitdem rauschen alle Wasser herauf und nieder,
besagten Taucher brachte keines jemals wieder.
Twehunnertfuffzig Johr später geht da wesentlich mehr,
Empfangen heute bereits ja veraltete Rundfunkgeräte
Kriegssinnigstes aus dem Mariannengraben,
Aus elf Kilomoetern tief unter dem Meer!
So höre ich bei offiziellen Meinungsführern
Unter dem Schall ihrer menschlichen Rede,
den über Schillers Taucher vermittelten Eindruck
von Ungeheuern einer traurigen Öde.
“Die Friedensbewegung hat den Löffel abgegeben”
Nein, sie hat den Löffel nicht abgegeben – sie hat ihre Löffel zu Bajonetten umgeschmiedet!