
Henry Wolfstetter und Lucius Prince sind im Clubraum und beobachten der Einmarsch der U.S. Army in Bagdad im Fernsehen. Der findet ein paar Tage zu früh statt. Joe Brisbane von der Featurenews Universal Corporation kommt hinzu, es stellt sich heraus, das FUC zu der Verwirrung beigetragen hat. Claudette fliegt nach London, um sich mit einem Informanten des MI5 in Bletchley Park zu treffen, der für irakische Massenvernichtungswaffen zuständig ist. Er hat eine dieser verbrannten Metallstreben vom World Trade Center aus der geheimnisvollen Kiste in Rachel, Nevada dabei. Wenig später trifft Prince Dewey Drillson und Albert Rave im Weißen Haus. Er findet den Präsidenten reglos vor. Rave gesteht, was es mit dem Fitnessdrink des Präsidenten auf sich hat.
Mit einem mörderisch lauten Knall brach die Hölle los. Bomben blitzten und Rauchwolken stiegen über Steintrümmern auf. Die Kamera fuhr auf eine Kolonne von Abrams-Panzern zu, die mit voller Geschwindigkeit eine Wüstenstraße entlangbretterten. Dumpfe Explosionen waren im Hintergrund zu hören. Eine Kaffeetasse flog vom Tisch und die heiße schwarze Brühe kippte auf den Teppich der Defiant Foundation. »Was ist denn im Irak los?«, entfuhr es Doktor Henry Wolfstetter.
Lucius Prince, der neben ihm saß, erstarrte mitten in der Bewegung. Gerade noch konnte er verhindern, dass er seinen Whiskey Sour ebenfalls verschüttete. Ungläubig starrte er den Fernsehbildschirm an, auf dem es rumste und knallte. »Ich glaube«, sagte er zu Wolfstetter, »wir marschieren gerade in Bagdad ein.«
»Das war doch erst für übermorgen geplant«, antwortete Wolfstetter und blickte auf den Bildschirm wie ein verirrter Hirsch auf ein Paar Autoscheinwerfer.
Prince nickte bloß. Stumm folgten seine Augen den Panzern, die auf seinem Lieblingssender FUC gen Bagdad rollten. Dann warf er dem Staatssekretär unauffällig einen Blick von der Seite zu. War er wirklich überrascht oder tat er nur so?
»Nach Informationen unserer Geheimdienste hat sich Saddam Hussein in diesem Gebäude aufgehalten«, sagte eine männliche Stimme im Fernsehen. »Deshalb wurde die erste Angriffswelle auf Bagdad vorgezogen. In wenigen Stunden werden wir wissen, ob Hussein tot ist. Dann wäre dieser Krieg schnell und unblutig zu Ende gegangen.«
Prince schüttelte den Kopf. »Bei der Strategiebesprechung heute im Pentagon war nicht von einem vorzeitigen Einmarsch die Rede gewesen«, sagte er und kippte seinen Whiskey Sour in einem Zug herunter.
»Sie waren heute bei der Strategiebesprechung im Pentagon?«, fragte Wolfstetter misstrauisch. »Ich habe Sie dort gar nicht gesehen.«
»Ich habe mir davon berichten lassen«, antwortete Prince ausweichend.
»Wo waren Sie denn stattdessen?«, fragte Wolfstetter und versuchte, möglichst desinteressiert zu klingen, was ihm jedoch nicht wirklich gelang. War etwa Prince für den vorzeitigen Einmarsch verantwortlich? Aber wie sollte das möglich sein?
»Ich hatte zu tun«, sagte Prince knapp. »Ich habe etwas besorgt. Übrigens etwas nicht Uninteressantes.« Dann griff er nach der Fernbedienung und zappte von FUC auf CNN. Dort war genau das Gleiche zu sehen. Rollende Panzer, rauchende Staubwolken und eine sonore Stimme aus dem Off. Dann kam der alberne irakische Informationsminister mit dem Barrett ins Bild. »Es gibt keine Panzer vor Bagdad«, erklärte er. »Wir sind dabei, die Amerikaner zu besiegen. Sie begehen Selbstmord an der Stadtmauer.«
Prince lächelte zufrieden. »Ich dachte, Sie seien jetzt ein bisschen glücklicher, wo es mit Ihrem Lieblingsfeind vorbei ist«, sagte er zu Wolfstetter.
»Bin ich auch«, antwortete der Staatssekretär. »Ich hätte nur gerne vorher gewusst, dass …«, er wurde unterbrochen, als die Tür des Clubraums aufgestoßen wurde. Joe Brisbane stand im Türrahmen. Der Featurenews-Senderchef. Sein Gesicht war rot angelaufen. Er warf einen Blick auf den TV-Bildschirm.
»Saubere Arbeit«, fand er.
»Wie bitte?«, fragte Wolfstetter spitz. »Der Einmarschplan war doch …« Dann hielt er inne. Brisbane sollte nicht mitbekommen, dass Drillson ihn offensichtlich nicht auf dem Laufenden hielt. »Hauptsache, es läuft alles nach Plan«, sagte er dann. Er klang ein wenig verwirrt, aber das tat er oft. Prince zappte derweil wieder von CNN auf FUC zurück. Immer noch das gleiche Bild.
»Ich habe gerade einen Anruf von unseren Leuten da unten in Bagdad bekommen«, sagte Brisbane. »Ich muss sagen, die Jungs von der U. S. Army lieben FUC. Wir haben vorhin den Probelauf gemacht, um den Einmarsch zu filmen, und die Army ist sofort darauf eingestiegen. Die haben kaum die Kameras gesehen und sind gleich drauflos marschiert.«
Prince traute seinen Ohren nicht. »Losmarschiert?«, fragte er. »Wollen Sie etwa sagen, FUC hat praktisch den Befehl zu diesem vorzeitigen Einmarsch gegeben?«
»Äh …«, stammelte Brisbane. »Wieso vorzeitig?« Dann begriff er, was gerade passiert war und dass ihm dies einigen Ärger mit dem Pentagon bereiten konnte. »Äh, ist das denn so wichtig? Heute oder morgen oder übermorgen? Die Hauptsache ist doch, dass der Schlag gesessen hat, oder nicht?«
»Das darf nicht wahr sein!« Wolfstetter war entsetzt hochgefahren. »Wenn der Verteidigungsminister das erfährt, können Sie bei CNN anheuern. Als Kabelträger.«
Prince grinste. »Er muss es ja nicht erfahren«, sagte er. »Übrigens, ich habe hier etwas für Sie beide.« Er zog eine Mappe aus seiner Aktentasche und warf sie auf den Couchtisch. »Unser Außenminister, dieser Nelson-Mandela-Verschnitt, trifft sich mit einer Agentin namens Sharona Eins.«
»Was?«, fragte Wolfstetter. »Das ist doch diese Superagentin vom Deuxième Bureau, hinter der die CIA seit Jahren her ist. Wie haben Sie die denn gekriegt? Sogar der MI5 hat sich an der bisher die Zähne ausgebissen!«
»Unser Amt für Strategischen Einfluss hat Powders Telefon angezapft«, sagte Prince lässig. »Dann haben wir ein Team mit Spezialkameras auf ihn angesetzt, das ihn unauffällig überwacht hat. Die Fotos sind im Moulin Noir aufgenommen worden, einem Nachtclub in Georgetown. Den kenne ich selbst natürlich nur vom Hörensagen.«
Brisbane grinste. »Natürlich«, sagte er.
»Wir wussten bereits, dass die Frösche irgendwo in D. C. einen geheimen Stützpunkt haben«, fuhr Prince fort. »Aber jetzt ist sie uns so gut wie ins Netz gegangen. Sobald sich die beiden das nächste Mal treffen, schnappt unsere Falle zu.«
Wolfstetter lehnte sich gespannt vor. »Sharona Eins«, sagte er. »Von der wussten wir doch bisher noch nicht einmal, wie sie aussieht.«
»Na, jetzt wissen wir es«, sagte Prince. »Auch Superagentinnen machen eben Fehler.« Dann blätterte er die Mappe auf. Brisbane und Wolfstetter beugten sich über das stark vergrößerte schwarz-weiße Foto. Darauf waren ein Mann und eine Frau zu sehen, die auf Barhockern saßen. Der Mann war dunkelhäutig und kräftig, die Frau weiß und schlank mit dunklen, halblangen Locken. Sie sah ihn an und hielt dabei ein Glas in der Hand. Ein Martiniglas. Genau wie der Mann. Das Foto war grobkörnig und der Raum, in dem es aufgenommen wurde, schien von einer Art Rauch erfüllt zu sein, so dass beide nur schwer zu erkennen waren. Brisbane beugte sich noch ein bisschen tiefer über das Bild und starrte mehrere Minuten lang das Gesicht der Frau an.
Dann richtete er sich auf. »Das soll Sharona Eins sein?«, fragte er. »Sind Sie sicher?«
»Absolut sicher«, antwortete Prince. »Das Foto kommt vom Büro für Strategischen Einfluss.«
»Das da«, erklärte Brisbane, »ist Linda. Die First Lady.«
Alle drei blickten sich wortlos an. Dann beugten sich Prince und Wolfstetter gleichzeitig über das Foto, wobei sie mit den Köpfen aneinanderstießen. »Aua!«, rief Wolfstetter. »Joe hat recht. Das ist Linda.«
Prince lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf. »Verdammt, das gibt’s doch nicht!«, entfuhr es ihm. »Glauben Sie, dass die First Lady eine Agentin ist? Und noch dazu für die Frösche?«
»Vielleicht«, antwortete Brisbane. »Sie spricht doch Französisch, oder nicht?«
Noch ein paar Sekunden herrschte Schweigen. »Nein«, warf Wolfstetter endlich ein. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Es muss sich um eine Verwechslung handeln. Dann ist uns Sharona Eins eben durch die Lappen gegangen. Aber wir haben etwas Besseres. Die First Lady und der Außenminister treffen sich in einem Etablissement wie dem Moulin Noir? Hinter dem Rücken des Präsidenten? Damit haben wir Powder in der Hand.«
Langsam nickte Prince. »Das stimmt«, sagte er. »Das können wir bestimmt noch gut gebrauchen.«
Die Masse auf dem Teller war das Schrecklichste, was Claudette Betancour jemals gesehen hatte. Nierenauflauf in Pfefferminzsoße mit dick geschnittenen Pommes Frites. So etwas essen Engländer also wirklich, dachte sie. So als könne er ihre Gedanken lesen, ließ der Mann, der ihr gegenübersaß, die Gabel sinken. »Wollen Sie wirklich nichts bestellen?«, fragte er. »Haben Sie denn keinen Hunger?«
»Vielleicht später«, antwortete sie. Der Mann war Wissenschaftler, sah aber eher aus wie die schlechte Kopie eines Geheimagenten aus einem Inspector-Clouseau-Film. Grauer Trenchcoat, dunkle Brille, die Mütze tief in die Stirn gezogen und dazu dünne graue Handschuhe. Er hielt die Gabel in der linken Hand. Ein Linkshänder, registrierte sie automatisch. Mit seiner anderen Hand umklammerte er eine Tasse mit lauwarmem Tee. Dabei bibberte er sichtlich, obwohl es gar nicht so kalt war. Allerdings herrschte jenes schmuddelige Nieselwetter, für das London zu allen Jahreszeiten berüchtigt war.
Ihr Kollege Derrida69 hatte es tatsächlich geschafft, diesen Wissenschaftler aufzutreiben. Er arbeitete in Bletchley Park, wo die Kryptologen des britischen Geheimdienstes MI5 und außerdem die Abteilung für schwarze Propaganda saßen. Ja, er könne ihr einiges erzählen, hatte er ihr am Telefon gesagt. An einem Münztelefon. Dabei hatte er nervös, aber bestimmt gewirkt, wie ein Mann, der sich wissentlich in Schwierigkeiten brachte, weil er nicht anders konnte. Es sei alles nicht so, wie die amerikanische Regierung es darstelle. Er wisse das aus erster Hand.
Claudette lächelte wieder, um ihm etwas von seiner Nervosität zu nehmen. Vergebens. »Also«, fragte sie, »was wissen Sie über die Anschläge und das World Trade Center?«
Anstatt gleich zu antworten, sah sich der Wissenschaftler ängstlich um. »Niemand kann uns hier sehen«, beruhigte sie ihn. »Unsere Leute haben das Restaurant vorher sorgfältig ausgecheckt. Hier ist garantiert keiner von Ihren Leuten.«
Er sah nicht sehr überzeugt aus. »Sie kennen unseren Geheimdienst nicht«, sagte er mit diesem britischen Akzent, den sie schon am Telefon so lustig gefunden hatte. »Wenn Sie wüssten …«, er schwieg, als der Kellner kam, um Tee nachzuschenken.
»Danke«, sagte er dann. Der Keller nickte. »Darf ich der Dame auch etwas zu Essen bringen?«, fragte er. »Wie wäre es mit einem Chutney-Sandwich?«
»Was ist das?«, fragte Claudette.
»Ein Sandwich mit Cheddarkäse, Pressschinken und Rosinen, die in Essig eingelegt wurden«, erläuterte der Wissenschaftler. »Sehr schmackhaft.«
Sie hielt hörbar die Luft an. »Vielleicht ein andermal«, sagte sie.
Als der Kellner gegangen war, griff der Wissenschaftler nach seiner Aktentasche und zog einen Umschlag heraus. »Hier, das ist es«, sagte er. Der Umschlag war aus durchsichtigem Plastik und fest verschweißt. Darin lag ein Stück einer rötlich verfärbten, seltsam verbogenen Metallstrebe.
Sie starrte das Metallstück an. »Und«, fragte sie zweifelnd. »Was ist das?«
»Das«, sagte er, »ist ein Stück vom World Trade Center. Beziehungsweise ein Stück dessen, was vom WTC übriggeblieben ist.« Er stach mit der Gabel in eine Pommes und dippte sie in die Pfefferminzsoße. »Hmm«, sagte er. »Irgendwie fehlt etwas.« Dann schnappte er sich die Flasche mit der Worcestersauce.
Erst jetzt erkannte Claudette, dass an der Stahlstrebe dunkelgraue Reste einer festen Masse klebten. Die Masse sah aus wie Beton, der einem 800 Grad heißen Feuerball aus Kerosin ausgesetzt gewesen war. Und auch das Metall selbst sah so aus. »Oh mein Gott«, sagte Claudette. »Tatsächlich! Das ist Stahl, der extremen Temperaturen ausgesetzt wurde!«
Der Wissenschaftler nickte. »Genau«, erklärte er und schaufelte noch etwas Auflauf auf die Gabel. »Das ist einer der Stahlreste, die wir sicherstellen konnten.«
»Sicherstellen?« Sie sah ihn erstaunt an. »Wo haben Sie das denn her? Hat der MI5 das gefunden?«
»Psst«, flüsterte er und sah sich noch einmal vorsichtig um. »Nicht dieses Wort.« Er nahm noch einen Bissen und schob den Teller dann weg.
Wie aus dem Nichts tauchte der Kellner auf und nahm den halbleeren Teller an sich. »Wir haben heute auch Black Pudding auf der Karte«, sagte er zu Claudette. »Das ist ein Auflauf aus Hafergrütze, Schweineblut und …«
»Bloß nicht«, entfuhr es ihr. »Merci beaucoup«, fügte sie rasch hinzu und lächelte. Dann wandte sie sich wieder an den Wissenschaftler. »Und was haben Sie damit zu tun?«
Er lächelte schüchtern. »Ich habe das zufällig bekommen«, sagte er. »Ich arbeite für die Abteilung unseres Geheimdienstes, die für irakische Massenvernichtungswaffen zuständig ist.«
Claudette zog ihre schmal gezupften Augenbrauen hoch. »Ich glaube«, sagte sie, »wenn der Irak Massenvernichtungswaffen hätte, wüsste unsere Regierung davon. Dann hätten wir dem Irak diese Waffen wahrscheinlich verkauft.«
»Oder wir«, antwortete der Wissenschaftler. »Aber darum geht es jetzt nicht. Wir sind nur damit betraut, das Projekt wissenschaftlich zu begleiten. Jedenfalls war ich neulich mit dem Kollegen verabredet, der für Pakistan zuständig ist, um einige Details des irakischen Nuklearprogramms durchzusprechen. Und dieser Kollege erzählte mir, dass der gesamte Schutt des World Trade Centers in ein Lager geschafft wurde, das fünf Meilen südlich des Hafens von Karachi liegt. Sie wissen schon, diese Hafenstadt in Pakistan.« Er zog ein Foto aus einem Umschlag und legte es auf den Tisch. Das Foto zeigte einen riesigen Hügel aus verbogenem Metallschutt, der hinter einem ziemlich hohen Stacheldrahtzaun aufgetürmt war. Dahinter konnte man die Silhouette einer Großstadt mit Hochhäusern, Kränen und Minaretten erkennen.
Sie warf einen Blick auf das Foto. »Natürlich kenne ich Karachi«, sagte sie. »Aber warum wird der Schutt gerade dort gelagert?«
»Das weiß ich auch nicht«, räumte er ein. »Aber ich weiß, dass unser Geheimdienst all seine Verbindungen hat spielen lassen, um wenigstens ein paar Proben dieses Schutts in die Hände zu bekommen. Aber wir sind monatelang noch nicht einmal in die Nähe der Halde gekommen. Und wir haben immerhin pakistanische ISI-Agenten auf unserer Gehaltsliste. Die wollten, dass garantiert niemand diesen Schutt findet.«
»Wer sind die?«, fragte Claudette und ihre Neugier wich langsam einem unbehaglichen Gefühl.
»Die Amerikaner natürlich«, antwortete ihr Gegenüber.
Die Amerikaner. So genau wollte sie es gar nicht wissen, dachte sie. »Wer hat dieses Foto denn gemacht? Ihr Kollege, der für Pakistan zuständig ist?«
Anstatt zu antworten, steckte er das Foto hastig wieder in den Umschlag und schob ihn ihr rasch zu, so als sei es heiße Ware. »Stecken Sie das schnell ein«, sagte er und blickte nervös zum Kücheneingang, aus dem der Kellner auf ihren Tisch zustrebte.
»Wollen Sie Nachtisch?«, fragte der Kellner. »Wir haben Gurkenauflauf mit Marmeladensoße.«
Der Wissenschaftler schüttelte den Kopf. »Danke«, sagte er. Als der Kellner endlich weg war, beugte er sich wieder zu Claudette vor. »Das Foto hat dieser entführte Journalist gemacht, dessen Leiche sie letztes Jahr in Karachi gefunden haben. Wie der das hinbekommen hat, ist mir allerdings wirklich ein vollkommenes Rätsel. Ich vermute, dass der es auch geschafft hat, diese Proben zu beschaffen.«
»Aber wie ist dann Ihr Geheimdienst an die Proben gelangt? Und warum sind die überhaupt wichtig?«, fragte Claudette.
»Auch das weiß ich leider nicht so genau, aber es wird noch merkwürdiger«, erklärte er. »Mein Kollege hat mir erzählt, dass wir eine Kiste mit diesen Metallstücken in die USA geschickt haben. Zum Militärgeheimdienst auf eine geheime Testbasis in der Wüste von Nevada oder so. Es ging um irgendeine Analyse, die wir nicht selbst machen können. Und irgendwo auf dem Weg ist die Kiste spurlos verschwunden. Das Metallding, das sie jetzt in der Hand halten, muss ich übrigens wieder zurückgeben. Wir haben nicht mehr so viele davon.«
»Könnten Sie nicht einfach ein paar neue Proben besorgen? Jetzt, wo Sie wissen, wo der Schutt liegt?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Der Schutt ist weggebracht worden. Und zwar vollständig. Das ist bemerkenswert, denn es handelte sich immerhin um fast eine Million Tonnen Stahl und Beton. Aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, wohin. Und ich glaube, mein Kollege auch nicht.«
Schon wieder stand der Kellner neben ihnen. »Vielleicht noch ein Glas gutes englisches Bier?«, fragte er. »Ich kann es ihnen auch aufwärmen.«
Die K Street in Washington, D. C., war in strahlendes Morgenlicht getaucht, aber die Stimmung von Lucius Prince, der gerade in Richtung Foggy Bottom marschierte, war bewölkt. Sharona Eins! So eine Pleite! Andererseits hatte Wolfstetter recht. Mit diesen Fotos war Powder erpressbar. Er überlegte. Wem musste er davon erzählen? Brisbane wusste bereits Bescheid, was hieß, die Sache geheim zu halten, war praktisch unmöglich. Wilbur vielleicht? Wobei Wilbur Linda mochte. Auch wenn Prince nicht begriff, wieso. Drillson? Ja, der musste es erfahren. Außerdem musste Prince sich ohnehin heute noch wegen des vorzeitigen Einmarsches von gestern mit Drillson treffen. Es wäre wohl besser, er ließe sich noch eine Erklärung dafür einfallen. Ob er Brisbane anschwärzen sollte?
Prince klappte sein Mobiltelefon auf und rief den Verteidigungsminister an. Keine Antwort. Im Pentagon war er offenbar nicht. Auf dem Handy hatte er mehr Erfolg. »Drillson«, knurrte es am anderen Ende.
»Wo sind Sie?«, fragte Prince. »Ich muss Ihnen unbedingt ein paar Fotos zeigen.«
»Im Weißen Haus«, brummte Drillson. »Im Vorraum der Präsidentensuite. Ich habe mit unserem regierenden Schwachkopf einen Termin und er kommt mal wieder nicht aus dem Bett. Wer ist eigentlich dafür verantwortlich, ihn auf Zack zu bringen? Sie?«
Prince seufzte, legte auf und tippte Albert Raves Nummer in sein Telefon. »Wo stecken Sie denn?«, knurrte Prince dessen Mailbox an. »Sie werden sofort im Weißen Haus gebraucht!« Dann winkte Prince ein Taxi herbei. »1600, Pennsylvania Avenue«, sagte er zum Fahrer. Hoffentlich war Linda nicht da. Zur Sicherheit versteckte er die Mappe mit den Fotos in der Ausgabe des Wall Street Journals, die er bei sich trug. Allerdings war die Gefahr, Linda zu begegnen, gering. Er hatte sie in den letzten Monaten kaum gesehen. Und jetzt wusste er ja auch, warum. Prince grinste.
Eine Viertelstunde später hastete er durch das Tor des Weißen Hauses, an den Sicherheitsbeamten vorbei und die Treppe zum ersten Stock hinauf. Drillson war nicht mehr im Vorraum. Dort war niemand mehr. Im ganzen ersten Stock war es unnatürlich still. Prince stieß die Tür zum Schlafzimmer des Präsidenten auf. Dort stand der Verteidigungsminister und beugte sich über ein dunkles Bündel, das verkrümmt auf dem Bett lag. Der Präsident. Prince hüstelte.
Als Drillson sich aufrichtete, bemerkte Prince, dass der Pentagon-Chef aschfahl war. Er blickte auf das dunkle Bündel Präsident auf dem Bett, dann auf Drillson, dann wieder auf das Bündel. »Was ist denn mit ihm?«, fragte Prince und fluchte innerlich. Rave hatte ihm Stein und Bein geschworen, dass der Präsident nicht mehr trank.
»Er ist tot«, sagte Drillson.
»Tot?«, echote Prince. »Was?« Er spürte, wie seine Beine unter ihm nachzugeben drohten. »Tot? Aber warum? Wieso?«
Drillson schüttelte, noch immer ganz weiß im Gesicht, den Kopf. »Er ist tot«, wiederholte er.
»Tot? Wer? Saddam?« Prince drehte sich um. Im Türrahmen stand Albert Rave und lugte erstaunt in den Raum.
»Nein«, antwortete Drillson in einer ungewöhnlich flachen, fast lautlosen Tonlage. »Nicht Saddam.«
Rave schob seinen rundlichen Körper durch die Tür, griff sich den toten Präsidenten und zog ihn hoch wie eine Marionette, deren Fäden abgeschnitten wurden. Eine dünne, rosafarbene Flüssigkeit lief aus dem Mundwinkel des Präsidenten. Seine rechte Hand umklammerte eine Dose des Fitnessdrinks. Rave ließ den toten Präsidenten fallen wie eine heiße Kartoffel.
Drillson kniete sich neben das dunkle Bündel und entriss der toten Faust des Präsidenten die Dose. »Was ist denn das für ein Zeug?«, fragte er und sah Rave scharf an.
»Was … wovon reden Sie?«, fragte Rave. Doch als Drillsons Gesichtsfarbe von Weiß zu Rot wechselte, wurde ihm klar, dass er nicht so tun konnte, als wisse er von nichts. »Das ist ein Aufbaumittel, das unsere Ärzte speziell für den Metabolismus des Präsidenten entwickelt haben«, sagte Rave. »Ein hochwirksames Präparat auf Amphetamin- und Methylenedioxidbasis mit einer Beimischung konzentrierter liquider MDMAs und XTCs.« Er blickte besorgt auf den toten Präsidenten herunter. »Vielleicht haben wir die Dosis doch ein ganz kleines bisschen zu hoch …«
Eines musste man Drillson lassen, dachte Prince: Wenn es darum ging, auf den Punkt zu kommen, verlor er keine Zeit. Drillson federte auf die Beine, machte einen schnellen Schritt auf Rave zu, packte ihn mit beiden Händen am Revers, zerrte seinen plumpen Körper hoch und knallte seinen Kopf mit ganzer Kraft gegen die Wand.
»WAS …«
BÄÄMM!
»… IST DAS …«
BÄÄMM!
»… FÜR EIN …«
BÄÄMM!
»… ZEUG?«
BÄÄMM!
Dann ließ er den überrumpelten Rave los. Der stand eine Sekunde lang mit zitternden Knien und aufgerissenen Augen da und starrte Drillson verängstigt an. Als der Anstalten machte, ihn wieder zu packen, riss Rave die Arme vors Gesicht und taumelte ein paar Schritte zurück. »Speed«, sagte er schnell. »Das ist Speed. In flüssiger Form.«
»Wie? Was«? Prince, der Drillson bislang nur stumm und bewundernd zugesehen hatte, sog hörbar die Luft ein.
»Sie haben mich doch gehört«, brummte Rave. »Speed, Ecstasy, Crystal Meth, nennen Sie es, wie Sie wollen. Unseren Wissenschaftlern ist es gelungen, das Zeug zu verflüssigen und mit Vitaminen und Glucose anzureichern. Ich glaube, es ist auch eine Spur Kokain drin. Kann ich wissen, dass der Idiot das literweise säuft?«
»Sie haben dem Präsidenten hochkonzentriertes Rauschgift …«, fing Prince an.
Drillson brachte ihn mit einer einzigen Handbewegung zum Schweigen. »Das ist jetzt nicht wichtig«, sagte er. »Wichtig ist die Frage: Was machen wir jetzt? Und wir finden besser schnell eine Antwort, bevor Linda hier auftaucht. Oder gar Burton.«
Alle sahen sich an. »Oh mein Gott!«, entfuhr es Rave. »Harry Burton! Laut Verfassung wird Burton jetzt Präsident der Vereinigten Staaten. Er ist immerhin der Vizepräsident!«
»Auf gar keinen Fall«, sagte Prince entsetzt. »Da muss doch was zu machen sein! Könnte nicht stattdessen sein Bruder Präsident werden?«
»Das geht nicht«, antwortete Drillson. »Selbst wenn es rechtlich möglich wäre, er hat doch diese … Sie wissen doch …« Er und Rave wechselten einen kurzen Blick.
»Vielleicht ist da tatsächlich etwas zu machen«, sagte Drillson dann. »Und ich hätte sogar eine Lösung. Die funktioniert aber nur, wenn absolut gar nichts nach draußen durchsickert. Niemand darf davon erfahren. Noch nicht einmal Sie.«
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bullshit zum Quadrat
„Der Präsident. Prince hüstelte.“
Mein Gott, jetzt bringt der auch noch den Präsidenten um! Und niemand sagt was, wie immer. Hat denn hier gar keiner mehr auch nur einen Funken Anstand auf Tasche?
–
Hüstel. „BÄÄMM!“