Die übergriffige Europäische Union – am Beispiel Rente

Bild: Tim Reckmann/CCNull.de/CC BY-2.0

Eine Titelzeile aus dem März 2023: „Spanien und EU-Kommission einigen sich auf umstrittene Rentenreform.“ Kann das sein? Die Gesetzgebung zu Altersversorgungssystemen gehört eindeutig nicht zu den Aufgaben der Europäischen Union (EU). Es ist das Hoheitsrecht jedes europäischen Staates. (1)

Da sollte auch eine Meldung aus dem Dezember 2022 sehr erstaunen:

„Im Rahmen des Europäischen Semesters 2019 … wurden 15 EU-Länder aufgefordert, ihre Rentensysteme speziell zu reformieren. Einige von ihnen wurden erneut aufgefordert, Reformen des Rentensystems mit dem Next Generation EU-Plan und erneut im Jahr 2022 durchzuführen.“ (Euractiv, 14.12.22)

Das klingt nicht nur nach massiver Einflussnahme, das wird auch in der Praxis der EU-Kommission verbunden mit unverhüllten Erpressungen durchgesetzt. Unverhüllt heißt allerdings nicht automatisch „öffentlich“ – notwendig wäre es dazu, von den Medien Transparenz herzustellen. Das passiert allerdings nur in homöopathischen Dosen.

Geld regiert die Welt

In Frankreich wurde im vergangenen Jahr vorexerziert, was auch im europäischen Rahmen funktioniert. Die geplante Verschlechterung der Rentengesetzgebung durch die französische Regierung war auf heftigsten, millionenfachen Widerstand gestoßen. Eine parlamentarische Mehrheit war nicht absehbar. Da griff Staatspräsident Macron in die Trickkiste und deklarierte die Rentengesetze kurzerhand zur Finanzfrage. Damit konnten die Gesetze durch ein Dekret der Regierung durchgepeitscht werden (zulässig nach der Verfassung § 49-3). Ein legaler Putsch gegenüber Parlament und dem Souverän.

Die Machtmechanismen der EU ähneln diesem Muster sehr stark. Jüngste Beispiele basieren auf dem „Europäischen Aufbauplan – NextGenerationEU“. Durch ihn werden über 800 Milliarden Euro an die 27 EU-Staaten als „Entwicklungshilfe“ verteilt. Es geht für die Länder um viele Milliarden Euro, die in mehreren Tranchen zugewiesen werden. Dabei entpuppen sich die „Empfehlungen“ aus den Semester-Verfahren als knallharte Forderungen der Kommission. Die Forderungen berühren nahezu alle politischen Bereiche, die eigentlich in die nationale Souveränität der Mitgliedsstaaten fallen.

Take it or leave it! Die Mitgliedsländer müssen den “Empfehlungen“ nicht folgen, dann gibt es aber auch kein Geld. In der Folge wurde die Sozialpolitik der Fiskalpolitik unterworfen.

Pure Erpressungen in Beispielen

Belgien „kommt der Forderung der Europäischen Kommission nach, die finanzielle und soziale Tragfähigkeit des Rentensystems zu verbessern“. Belohnung: 300 Millionen Euro – Folge: Bei der Mindestrente werden jährlich 126 Millionen Euro eingespart. Zusätzlich wird in Zukunft die Voraussetzung für den Erhalt einer Mindestrente von 10 auf 20 Jahre Beitragsjahre erhöht. Bis 2070 sollen die Rentenausgaben um 0,5 Prozentpunkte des Bruttoinlandprodukts gesenkt werden. (Ihre Vorsorge, 31.01.24)

Spanien „Die spanische Regierung und die Europäische Kommission haben sich in letzter Minute auf eine umstrittene Rentenreform geeinigt, die Madrid den Weg für den Erhalt der nächsten Tranchen aus dem EU-Wiederaufbaufonds ebnet.“ Folge: Der Zeitraum für die Berechnung der Renten wird von 25 auf 29 Jahre erhöht. Die Jahre mit geringerem Einkommen werden so zur Senkung der Rentenanwartschaften führen. (Euractiv, 13.03.23)

Polen ist ein Staat mit Euro-Kandidatenstatus. Ob Polen die (vier) Konvergenzkriterien zum gemeinsamen Währungsraum erfüllt, wird regelmäßig überprüft. In den letzten Jahren hatten die Prüfberichte stets die Rentenausgaben kritisch im Visier. Beispiel aus dem Konvergenzbericht 2016:

„Präferenzielle sektorspezifische Sozialversicherungsregelungen, insbesondere das stark subventionierte Rentensystem für Landwirte und Bergleute, verursachen hohe Haushaltskosten und beeinträchtigen möglicherweise die Mobilität der Arbeitskräfte.“

Und etwas weiter im Text:

„Daher ist eine Anhebung des effektiven Renteneintrittsalters ein wesentlicher Faktor für längerfristig sozial angemessene Renten, die Stabilität der öffentlichen Finanzen und die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung.“

Entgegen dieser Forderungen aus Brüssel wurden in Warschau nicht nur die „Bevorzugungen“ der Landwirte und Bergleute unangetastet gelassen, sondern 2017 zusätzlich das Renteneintrittsalter wieder für Frauen auf 60 und Männer auf 65 Jahre gesenkt.

Das war ein Schlag ins Brüsseler Kontor. Der Minister-Rat der EU geißelte das im Juni 2019 heftig und empfahl dringend,

„dass Polen 2019 und 2020 … die Angemessenheit künftiger Rentenleistungen und die Tragfähigkeit des Rentensystems gewährleistet, indem es Maßnahmen zur Anhebung des tatsächlichen Renteneintrittsalters ergreift und die präferenziellen Altersversorgungssysteme reformiert“.

Derartige Einmischungen, die auch andere Bereiche der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik betrafen, waren dann wahrscheinlich auch der Anstoß dafür, dass der polnische Ministerpräsident Morawiecki im August 2019 erklärte, Polen wolle auf längere Sicht der Eurozone fernbleiben. Jüngste Umfragen im April ergaben, dass 70% der Polen nach wie vor die Euro-Einführung für ihr Land ablehnen.

Griechenland bekam in Folge der Finanzkrise ab 2009 die Pistole auf die Brust gesetzt. Die sogenannte Troika (EU, EZB, IWF) machte massivste Lohn- und Rentensenkungen zur Bedingung für Stützungskredite. Das verstieß eindeutig gegen Artikel 153 des Lissabon-Vertrages. Aber die griechische Regierung hatte die Wahl, die Kreditbedingungen zu akzeptieren oder Staatsanleihen zu Zinssätzen von bis zu 30% aufnehmen zu müssen.

In der Folge sanken innerhalb von 6 Jahren die Löhne und Gehälter um 24% und die Durchschnittseinkommen der Rentner um 31 %. Das Renteneintrittsalter wurde von 65 auf 67 Jahre erhöht.

Portugal erging es ähnlich wie Griechenland. Auch hier wirkte die Erpressung der Troika und die portugiesische Regierung beugte sich deren Forderungen. Das Renteneintrittsalter wurde auf 66 Jahre erhöht und die Löhne und Renten erheblich gesenkt. Die entsprechenden Gesetze wurden im Jahr 2014 durch das Verfassungsgericht in zwei Urteilen als verfassungswidrig zurückgewiesen.

Das war der seltene Fall, in dem ein Verfassungsorgan eines souveränen EU-Staates die Übergriffigkeit der EU-Kommission verhinderte.

Die Kapitalmarkt-Union unterwirft sich die Sozialstaats-Union

Die Einflussnahme der EU-Kommission folgt einer Art Drehbuch, die in schön klingenden Dokumenten stehen. Das „Green Paper on Ageing“ vom 27.01.2021 ist so ein grundlegendes Werk – Hauptinhalt: Der demografische Wandel macht

  • eine Reduzierung des Rentenniveaus der öffentlichen Rentensysteme
  • die Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 70 Jahre und höher
  • eine stärkere Privatisierung der Altersvorsorge

notwendig. Die europäischen Verträge erlauben es der EU nicht, diese Ziele durch EU-Verordnungen durchzusetzen. Aber da gibt es ja die gewaltigen Fördertöpfe. Die erlauben mit Begründungen zur Haushaltsdisziplin und Resilienz gegen alles Mögliche beliebige politische Vorgaben zu machen.

Die Vorgaben zu den Altersvorsorgesystemen beinhalten im Schwerpunkt mit der Förderung des Paneuropäischen Pensionsplans (PEPP) erklärtermaßen die Stärkung der Kapitalmarktunion. Deutlich wird immer stärker: Vorfahrt hat die Kapitalmarktunion, die Sozialpolitik hat sich dem nicht nur unterzuordnen. Sie hat den Kapitalmärkten zu dienen.

Eine Europäische Union, die diesen Kurs fortsetzt, wird zur Zerstörung der Union der europäischen Völker führen. Ein Europa der Völker kann nur im Widerstand gegen diesen neoliberalen Kurs entwickelt werden.

Dazu siehe auch: EU-Kommission droht: Wir kümmern uns um eure Renten!

 

Anmerkungen:

  • Bundesrat 15.10.2010: „Sie (die Bundesländer) bekräftigen jedoch, dass die Verantwortung für die national unterschiedlich ausgestalteten Vorsorgesysteme allein bei den Mitgliedstaaten liegt und die Vorrechte der Sozialpartner nicht in Frage stehen. Die Eigenständigkeit und Vielfalt der bestehenden Alterssicherungssysteme der Mitgliedstaaten müssten gewahrt bleiben. Durch die ausgewiesenen Ziele einer Harmonisierung der nationalen Systeme dürfe die EU ihre Kompetenzen nicht überschreiten. Vor dem Hintergrund der Kompetenzverteilung und der Wahrung des Subsidiaritätsprinzips sei es allein Aufgabe der Mitgliedstaaten, Regelungen für angemessene Ruhestandseinkommen zu schaffen.“ (Stellungnahme zum „Grünbuch der Kommission: Angemessene, nachhaltige und sichere europäische Pensions- und Rentensysteme“-2010)

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16 Kommentare

  1. Ich nenne das einen „Koordinierten Angriff auf die Sozialsysteme“, ausgeführt von der Europäischen Union der Vereinigten Konzernvertreter.
    Wir haben keine „Europäische Sozialstaats-Union“. Das, was so aussehen soll, sind nur die Krümel, die vom Tisch der Superreichen rieseln.
    Und auch diese Krümel werden jetzt von der „Europäischen Militär-Union“ aufgefangen, bevor sie unten ankommen.

    1. Hinter dieser Geschichte stecken doch Blackrock und Konsorten. Hatte nicht von der Leyen Blackrock zum Berater gemacht und damit den Bock zum Gärtner? Die werden uns ausquetschen wie die Zitronen. Geht wählen, und sorgt dafür, dass von der Leyen nicht wiedergewählt wird.

  2. Wir hätten zumindest in Deutschland nicht so blöde Diskussionen wenn alle in die Rentenkasse einzahlen müssen.Aber unsere raffgierigen Bonzen sind dagegen.Denen sollte man mal Ihre fetten Pensionen streichen und die sollten mal mit 900 Euro pro Monat auskommen und das für mindestens ein Jahr.Das die mal von ihrem hohen Ross runter kommen.Wenn die Regierung sich nicht ständig an der Rentenkasse bedienen (Zweck entfremdet)wäre vielleicht auch mehr für die Rentner drinn.Und endlich mal Schluss für lebenslanges Bürgergeld für Sozialschmarotzer.Junge Menschen ab 18 sollte das Bürgergeld gestrichen werden die können genauso wie alle anderen Menschen auch arbeiten gehen.

    1. Es ist wirklich eine Schande, wenn in einem Land wie Deutschland irgendeine Form von Armut noch Thema ist.
      Bildung und Arbeit, was es eigentlich jedem ermöglichen sollte ein Leben in relativem Wohlstand zu führen sind doch zugänglich.
      Leistungswille ist ein Wert, der eigentlich jedem nahegelegt werden sollte. Das also Leistung sich nicht nur lohnt, sondern dass man davon ausgehen kann, dass man nicht übers Ohr gehauen wird, und zwar egal in welchem Einkommensbereich.
      Ausländische Bandenkriminalitaet sogenannte Clans (was ein Unwort) und andere Formen von gesellschaftschädigendem Verhalten sollte man doch im Forum kritisieren können, oder?

    2. Wer will denn unbedingt, dass alle möglichst viel arbeiten gehen, wenn nicht diese Bonzen und ihre Regierung? Und dabei unterstützt du die noch und empfiehlst auch gleich allen sie sollen arbeiten gehen? Meinst du im Ernst, dann bekommst du mehr ab von den Bonzen? Die Bonzen zahlen schon in die Rente ein – über deinen Lohn.

      1. Was meist du wohl wer für diese Faulenzer das Bürgergeld bezahlt das sind unsere Steuern wir die Arbeitenden zahlen für deren Faulheit.

        1. Deine Steuern bezahlst du überhaupt nur weil du einen Lohn bekommst und wenn es die Steuern nicht mehr braucht, braucht es auch den Teil vom Lohn nicht mehr. Dir ist es lieber die Kapitalisten bezahlen für Arbeit als für Faulenzen weil du meinst du bekommst etwas davon. Irrtum! Wenn du von den Kapitalisten was willst, dann mach dich entweder mehr nützlich für sie oder erkämpfe Konzessionen wie Faulenzen. Auch im Alter, um wieder auf das Thema zu kommen, die Kapitalisten wollen ja nicht nur die Rente kürzen, sondern auch noch länger arbeiten lassen. Das ist für die beides dasselbe: Mehr Geld.

          1. Wer sich jeden Tag nur RTL 2 reinzieht, mit Sendungen wie „Armes Deutschland – Stempeln oder abrackern? „, „Hartz Rot Gold “ und so, der MUSS einfach in solchen Kategorien denken. Schließlich klebt gequirlte Schexxxe wie diese Asozialpropaganda am heftigsten im Gehirn fest, das bekommt man kaum noch raus.

    3. Wenn wir die versicherungsfremden Leistungen in einen eigenen Topf ausgliedern und komplett durch Steuermittel bezahlen (statt jetzt mit einem absurd niedrigen sog. „Bundeszuschuss“ indirekt durch Beitragsmittel), könnten wir höhere Renten oder niedrigere Beiträge haben.

      Und das Allerabsurdeste ist, dass dies neulich sogar von einer FDP-Abgeordneten vorgeschlagen wurde!
      Hubertus Heil hat jedoch direkt abgeblockt.
      Wie gruselig ist das denn?
      Anstelle die Chance zu ergreifen, sagt Hubsi Nein weil es von der FDP kommt.
      Die Ampel ist ein Irrenhaus.

  3. Aus einiem EU Wiederafbaufonds hat man einem Land wie Spanien eigentlich nichts zu überweisen.
    Nach 38 Jahren in der EU und immer noch Zustände die mit Europäischer Kultur und Europäischen Werten nichts zu tun haben.
    Schriflich wird nichts gemacht oder versucht zu vermeiden, bzw. Lügen gibt es schriftlich.
    Man hat eher den Eindruck das entweder Spanien gestern der EU beigetreten ist oder sich auf Kosten der EU bereichert.
    Dass Spanier in Spanien die Arbeit machen die nötig ist, die Erfahrung macht man in Spanien definitiv nicht.
    Aber es scheint viele zu geben die sich in Spanien ärgern, das scheint auch bekannt zu sein.

    Beitragen zu Europa tut Spanien ganz bestimmt nichts, oder einen Benefit darstellen für EU Bürger die aus einem anderen europäischen Land nach Spanien gezogen sind.

    Spanien ein Land das zu Europa passt? Ganz klar ein Fall von irreführender Werbung.

  4. Da gab es ein Beispiel, der Brexit und so könnte das D auch tun!
    Ob dann die Rente sischer iss, iss ne andre frache, aber man könnte in D besser Druck ausüben, als in einer hoffnungslosen EU.
    Früher warb man, das die Reisefreiheit besser wären, aber die EU Realitäten haben diese Freiheit eingeschränkt. Das führte dazu, das man am Flughafen alles ablegen muss, um durch die Sicherheitskontrolle zu kommen…
    Nix für die Freiheit wegen Terrorismus und alle zahlen für diesen Schwachsinn.
    Warum Schwachsinn?, na wegen den verursachern von etlichen Umständen!

    Also ein DEXIT!
    Zurück zur staatlichen Souveränität, aber dort steht viel Arbeit an…

  5. Dank an Herrn Heyse für seinen wichtigen Artikel. Das Thema müsste eigentlich auf Buchlänge erweitert werden.

    Nach der Finanzkrise konnte man die Hoffnung hegen, die neoliberale Welle sei gebrochen. Die Jahre seitdem zeigen, das hat getrogen. Das neoliberale Programm wird, trotz der sich nun immer deutlicher abzeichnenden gesellschaftlichen und ökologischen Schäden unbeirrt weiter verfolgt. Eine Meute neoliberal sozialisierter Politker treibt in den europäischen Staaten ihr Unwesen. Auch das weitgehende staatliche Versagen in der Pandemie hat daran nichts geändert, wird so von den Bevölkerungen gar nicht wahrgenommen (leider auch bei vielen Linksdrehenden völlig verquer aufgefasst, auch hier auf diesem Site), ebenso wenig gibt es eine breite Reaktion gegen die akute Kriegstreiberei, die Manager managen weitestgehend ungestört weiter, setzen schleichend Sozialstaatsabbau durch, wenn in Wirklichkeit die Bedürfnisse laufend zunehmen. Das Rentenwesen ist dabei ein besonders gewichtiger Brocken. Die im neoliberalen Kapitalismus hochgeschraubte Komplexität der Materie verhindert zuverlässig die Wahrnehmung und damit auch den Protest gegen die Auswirkungen der ‚Reformen‘ oder Pakete, wie man sie in Deutschland nennt. Und später versteckt man sie in der Statistik.

    Ohne politisches Bewusstsein sind Menschen kaum von nur der Schwerkraft gehorchenden Steinen zu unterscheiden. Und irgendwann kommt die Baumaschine und baggert sie aus.

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